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2.1.1 Qualitative Sozialforschung

Die Dynamik des sozialen Wandels in der heutigen Gesellschaft erklärt die Feststellung Herbert BLUMERs (1973; zitiert nach: FLICK 1999,10): "Die Ausgangsposition des Sozialwissenschaftlers und des Psychologen ist praktisch immer durch das Fehlen des Vertrautseins mit dem, was tatsächlich in dem für die Studie ausgesuchten Bereich des Lebens geschieht, gekennzeichnet." Die Forschung ist daher in stärkerem Maße auf induktive Vorgehensweisen verwiesen. Für die Untersuchung sozialer Zusammenhänge, in denen neue Phänomene aufgrund rascher Veränderungen auftreten, wie die Erfahrung einer Partnerschaft zwischen Bauern, Beratern, Forschern und ihren Organisationen in einer Region, die erst in den letzten 30 Jahren kolonisiert wurde, ist besonders die qualitative Forschung geeignet, die darauf abzielt, das untersuchte Geschehen zu verstehen.

Die qualitative Sozialforschung entstand als Versuch, eine von den Methoden der Natur-wissenschaften unabhängige eigene Methode zu entwickeln, die den Zielen der Sozialwissenschaften, die Untersuchung menschlicher und sozialer Phänomene, angemessener ist. Physik und andere Naturwissenschaften ließen sich zu diesem Zeitpunkt, dem Ende des 19. Jahrhunderts, von positivistischen Sichtweisen leiten. Es waren vor allem Dilthey und Weber, die das Verstehen der Tatsachen in ihrem jeweiligen Kontext als wesentliches Ziel betonten und daher Ansätze benutzten, die sich mit der Interpretation der Bedeutungen beschäftigten, die die Subjekte ihren Handlungen beimessen. Diese neue Position, die auch als idealistisch und subjektiv bezeichnet werden kann, stellte sich der positivistischen "Weltanschauung" entgegen. Dies führte zu einer Auseinandersetzung zwischen qualitativen und quantitativen Methoden, die von beiden Seiten betrieben wurde und sich bis zum Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts hinzog. ANDRÉ (2000,25; Erstaufl.

1995) hält diese Phase heute für überwunden, aber die Abgrenzung wird von vielen Wissenschaftlern, auch innerhalb der Thematik dieser Arbeit noch als wesentlich empfunden, wie beispielsweise JIGGINS & RÖLING (1997).

Verschiedene Strömungen in der Soziologie wie die Hermeneutik, Phänomenologie, der Symbolische Interaktionismus, die Ethnomethodologie und die Ethnographie49 haben die qualitative Sozialforschung beeinflußt. Während des letzten Jahrhunderts hat es jedoch keine kontinuierliche Entwicklung gegeben, sondern einzelne Disziplinen orientierten sich zeitweise an anderen Paradigmen. Die Erziehungswissenschaften waren zeitweise von der Psychologie dominiert, die sich von Comtes Positivismus leiten ließ, und die Soziologie wurde mehr als 20 Jahre vom Funktionalismus beherrscht, so daß man erst ab den 60er Jahren, ausgelöst vor allem durch die sozialen Bewegungen dieser Epoche, eine Weiterentwicklung der qualitativen Ansätze feststellen kann (ANDRÉ 2000,18.20).

49 Zu den Begriffen siehe LABOURTHE-TOLRA & WARNIER (1997,67-68), die darauf hinweisen, daß die Definition der einzelnen Begriffe mehr durch ihre Entstehungsgeschichte, die von Land zu Land unterschiedlich ist, als durch eine rigorose Axiomatik beeinflußt wurde.

Auch wenn es unterschiedliche Vorstellungen über die qualitative Sozialforschung gibt, scheint eine Ansicht jedoch sehr populär zu sein, nämlich daß es eine Vorgehensweise ist, die keine Zahlen einbezieht. Das "Unbehagen an der unreflektierten Anwendung" (LAMNEK

1995a,1) quantitativer Forschungsmethoden hat sicher dazu beigetragen, daß die qualitative Sozialforschung sich zunächst negativ abgegrenzte: eine kleine Zahl von Untersuchungspersonen; keine echten Stichproben nach dem Zufallsprinzip; keine quantitativen Variablen und keine statistischen Analysen. Für ANDRÉ (2000,24) ist die Tatsache, daß Zahlen verwendet werden (was für manche Untersuchungen sehr wichtig sein kann), nicht ausschlaggebend, um eine Untersuchung der positivistischen Linie zuzuordnen.

Es kommt vielmehr auf die Fragen an, die diesem Instrument gestellt werden, und auf die theoretische Haltung sowie die Werte, auf die der Forscher sich bezieht. Dabei spielt beispielsweise eine Rolle, ob der subjektive Faktor Anerkennung findet und wie die Einbeziehung des Forschers als einer der Akteure beurteilt wird.

Die qualitativen Methoden können auf unterschiedlichen theoretischen Sichtweisen basieren.

Die ethnographische Forschung kann beispielsweise einer strukturalistischen Linie folgen, phänomenologisch orientiert sein oder sich auf die Kritische Theorie oder den Historischen Materialismus beziehen. LAMNEK (1995b,400) sieht die qualitative Sozialforschung als Sammelbezeichnung für Verfahren an, die sich am interpretativen Paradigma orientieren.

ANDRÉ (2000,24-25) hält es nicht für überzeugend, den Begriff quantitative Forschung zu benutzen, um eine positivistische Perspektive zu kennzeichnen. Die Betonung des Gegensatzes zwischen qualitativer und quantitativer Forschung, die in einem bestimmten historischen Moment notwendig war, wird von ihr heute als überholt angesehen, was erlaubt, den Blick auf die wesentlichen Merkmale dieser Forschung zu richten.

FLICK (1999,40) arbeitet folgende Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen theoretischen Positionen heraus: Verstehen als Erkenntnisprinzip (das Geschehen soll von innen heraus verstanden werden); Fallkonstruktion als Ausgangspunkt (zunächst wird am Einzelfall angesetzt); Konstruktion von Wirklichkeit als Grundlage (Wirklichkeit ist nicht vorgegeben, sondern wird von unterschiedlichen Instanzen konstruiert) und Text als empirisches Material (es werden Texte produziert, an denen die eigentlichen empirischen Analysen vorgenommen werden).

Neben der aus der quantitativen Forschung bekannten Vorab-Festlegung der Samplestruktur, die auch der Stichprobenziehung zugrunde liegt, kennt die qualitative Forschung auch die schrittweise Festlegung der Samplestruktur. Diese Vorgehensweise orientiert sich unter anderem an dem von GLASER & STRAUSS (1967; zitiert nach: FLICK 1999,81-82) entwickelten theoretischen Sampling, das den Prozeß der Datensammlung zur Generierung von Theorien bezeichnet, "... wobei der Forscher seine Daten gleichzeitig sammelt, kodiert und analysiert und dabei entscheidet, welche Daten als nächste gesammelt werden sollten und wo sie zu finden sind, um seine Theorie zu entwickeln, während sie emergiert. Dieser Prozeß der Datensammlung wird durch die emergierende Theorie kontrolliert."

Geht man von dem allgemeinen Begriff qualitative Forschung ab, so findet man in der Literatur folgende als qualitativ einstufbare Methoden: Einzelfallstudie, qualitative Methoden der Befragung (wie qualitatives Interview, Intensivinterview), Gruppendiskussion, Inhaltsanalyse, teilnehmende Beobachtung, qualitatives Experiment, biographische Methode, Ethnographie und Aktionsforschung (ANDRÉ 2000; DIEKMANN 1996; LAMNEK 1995b). FLICK

(1999) unterscheidet zwischen verbaler Datenerfassung, wie Interviews, und visueller Datenbeschaffung, wie (teilnehmende) Beobachtung, Ethnographie, Photo- und Filmanalyse.

Die Auswahl der Methoden divergiert jedoch sehr stark zwischen den Autoren. Die Weiterentwicklung der qualitativen Methoden hat zur Zunahme ihrer Anwendung geführt.

Im weiteren sollen nun die Methoden näher betrachtet werden, die für die beabsichtigte Untersuchung in Frage kommen. Für die Auswahl waren folgende Überlegungen maßgebend:

die Untersuchung nahm ihren Ausgang bei der Beobachtung sozialer Phänomene in einem spezifischen Zusammenhang, wobei der Beobachter nicht nur Teilnehmer, sondern

"gestaltender Akteur"50 war. Daher ist der Versuch notwendig, die Verzerrungen zu kontrollieren, die durch die Person des Beobachters als zentralem Instrument der Datenerfassung hervorgerufen und durch seine gestaltende Rolle noch verstärkt wurden.

2.1.2 Teilnehmende Beobachtung

Die teilnehmende Beobachtung wird angewandt, wenn der Forscher Aussagen über ein soziales Feld machen will, das er weder aus eigener Erfahrung, noch aus der Literatur genügend kennt, um relevante Hypothesen aufstellen zu können. Sie wird vor allem dort eingesetzt, wo es um ansonsten schwer zugängliche soziale Felder geht und / oder Neuland betreten wird (LAMNEK 1995b,313; 243). Die Beobachtung wird als teilnehmend bezeichnet, wenn zwischen dem Forscher und der untersuchten Situation ein gewisser Grad von Interaktion besteht, die sowohl die Situation als auch ihn selbst beeinflußt.

Die teilnehmende Beobachtung ist daran interessiert, eine weitgehende Innenperspektive auf das Feld bei gleichzeitiger Systematisierung des Fremdenstatus zu gewinnen. Letztere ermöglicht erst den Blick auf das Besondere im Alltäglichen (FLICK 1999,161). Wer daher nicht nur Teilnehmer sein will, sondern Erkenntnisse über Zusammenhänge gewinnen will, muß die Distanz des "professionellen Fremden" beibehalten. So betont KOEPPING (1987;

zitiert nach: FLICK 1999,161), daß der Forscher für die teilnehmende Beobachtung "... als soziale Figur genau die Eigenschaften besitzen muß, die Simmel für den Fremden herausgearbeitet hat: Er muß in sich selbst beide Funktionen, die des Engagiertseins und der Distanz, dialektisch verschmelzen können."

Unbestritten ist in der quantitativen wie in der qualitativen Sozialforschung, daß es darum geht, ein möglichst wenig von der Subjektivität des Betrachters verzerrtes Bild der sozialen Wirklichkeit zu zeichnen. Dies ist jedoch weder bei quantitativer noch bei qualitativer Sozialforschung völlig zu erreichen. Sind es in der quantitativen Forschung die theoretischen Raster des Forschers, die sich in den Erhebungsinstrumenten widerspiegeln, so ist es in der qualitativen Forschung, besonders bei der teilnehmenden Beobachtung, der Forscher selbst in seiner Rolle als Erhebungsinstrument. Einerseits besteht in der quantifizierenden Forschung die Gefahr, daß der Forscher das Forschungsobjekt nach seinen eigenen theoretischen Kategorien strukturiert, er also nicht in der Lage ist, den Sinn der Handelnden aufzunehmen, das heißt, zu verstehen, und eine unüberbrückbare Distanz zum Objekt entstehen läßt, die letztlich zu falschen Befunden führt, oder zumindest dem Gegenstand nicht gerecht wird.

Andererseits kann die Nähe zum Forschungsobjekt und die eigene Beteiligung die Wahrnehmung der Wirklichkeit ebenfalls verzerren. "... Identifikation ist das Element der Teilnahme, des Verstehens, Distanz ist das Element der Beobachtung, der Prüfbarkeit"

(LAMNEK 1995b,312-313). So gehört zum Beobachten "... notwendigerweise das Verständnis oder die zutreffende Interpretation des subjektiven Sinns und der sozialen Bedeutung einer bestimmten Handlung oder Verhaltenssequenz" (MAYNTZ et al. 1974; zitiert nach: LAMNEK

1995b,241). Die Relativierung der eigenen 'kulturellen Selbstverständlichkeiten' und die

50 Mit diesem Begriff soll im weiteren die über die von LAMNEK (1995b,263) und FLICK (1999,153) hinausgehende aktive Rolle des Beobachters bezeichnet werden.

Aneignung des der beobachteten Gruppe angemessenen Sinnverständnisses, ist auch bei der Untersuchung anderer sozialer Schichten oder Subkulturen innerhalb des gesellschaftlichen Gesamtsystems des Beobachters nötig (LAMNEK 1995b,241-243).

Eine Schwierigkeit bei der Beobachtung ist, daß der Beobachter eine praktikable Rolle annehmen muß, die seinen Aufenthalt im Feld oder an seinem Rand rechtfertigt und die Beobachtung ermöglicht (FLICK 1999,154). Von dieser Rolle hängt ab, in welchem Grad der Beobachter das Geschehen beeinflußt und damit die Ereignisse eventuell behindert. Dazu gehört auch die Frage nach offener oder verdeckter Beobachtung und inwieweit den Beobachteten die Absicht des Forschers bekannt ist. Die Rolle des Beobachters kann verschiedene Stufen innerhalb einer Skala zwischen Engagement und Distanz einnehmen (LAMNEK 1995b,263; FLICK 1999,153):

- völlige Identifikation mit dem Feld: Identität und Zweck der Teilnahme ist den Beobachteten nicht klar, daher handelt es sich um verdeckte Beobachtung;

- Teilnehmer als Beobachter: sowohl Beobachter als auch Beobachtete sind sich der Forschungssituation bewußt;

- Beobachter als Teilnehmer: der Beobachter ist in das soziale Geschehen integriert, beschränkt sich aber auf die Beobachtung;

- reiner Beobachter ohne Interaktion mit dem Feld (wobei es sich nicht mehr um teilnehmende Beobachtung handelt).

Man kann zwischen der strukturierten und unstrukturierten Beobachtung unterscheiden.

Durch die Strukturierung anhand vorher festgelegter Beobachtungskategorien kann man den Beobachtungsvorgang besser zu kontrollieren versuchen, läuft aber Gefahr, daß das theoretische Raster des Forschers dominant wird. Dies widerspricht aber den Prinzipien der qualitativen Sozialforschung, da es die Aufstellung eines detailliertes Kategoriensystems voraussetzt, was aber erst möglich ist, wenn dem Beobachtungsvorgang differenzierte und konkrete Hypothesen zugrunde liegen. Selbst damit ist jedoch nicht garantiert, daß alles erfaßt wird, was von Bedeutung ist. Beide Verfahren richten sich auf ein genau formuliertes Forschungsziel und werden systematisch geplant und aufgezeichnet (LAMNEK 1995b,250).

Bei der offenen Beobachtung tritt der Beobachter ausdrücklich als Forscher auf. Das soziale Feld kennt den Zweck der Anwesenheit des Forschers, wobei es in bestimmten Fällen nicht möglich ist, die theoretischen Aspekte mitzuteilen, und es in anderen nicht opportun wäre, das Ziel völlig exakt zu benennen, da dies zur Verfälschung der Beobachtungssituation führen würde. Bei der verdeckten Beobachtung gibt der Beobachter sich nicht als Forscher zu erkennen - eine Methode, die mehr von Journalisten angewandt wird (LAMNEK 1995b,250).

Strategien wie das theoretische Sampling lassen sich bei der teilnehmenden Beobachtung leichter verfolgen, da der Forscher längere Zeit im Feld bleibt und den Kontakt mit den Personen und Kontexten, die erforscht werden sollen, über einen relativ langen Zeitraum aufrecht erhält. Ein Problem bei der Methode ist, daß die Beobachtungen nur beschränkt möglich sind. Man kann nicht alles beobachten, man muß Glück haben, bei den wesentlichen Ereignissen dabei zu sein. Im Grunde ist man darauf beschränkt, was mit Augen und Ohren erfaßt werden kann. Daher werden häufig zusätzlich die Befragung von Beteiligten oder andere Verfahren angewandt, um dieses Defizit zu überbrücken. Teilnehmende Beobachtung ist als Methode wenig standardisierbar (FLICK 1999,163-166).

2.1.3 Ethnographie

Die Ethnographie ("Kulturbeschreibung") wurde als Forschungsmethode entwickelt, um eine Kultur oder Gesellschaft zu studieren. Der Begriff kann zwei Bedeutungen haben: die Gesamtheit der Techniken um Daten über Werte, Gewohnheiten, Glauben, Praktiken und Verhalten einer sozialen Gruppe zu untersuchen, und der schriftliche Bericht als Ergebnis der Anwendung dieser Techniken (ANDRÉ 2000,27). Eine wesentliche Rolle kommt MALINOWSKI

(1973,20-42; erste Veröffentlichung 1922) zu, dessen Anliegen war, die Ethnographie zu einer anerkannten wissenschaftlichen Methode zu entwickeln. Der Forscher sollte wie in den Naturwissenschaften deutlich machen, wie er zu seinen Daten kam. So sollen in der Ethnographie die Beobachtungsresultate, die Sinngebung der beobachteten Personen und die Interpretation sowie die Schlußfolgerung des Forschers deutlich getrennt sein. Positive neue Elemente des von Malinowski eingeführten Ansatzes waren: die Anerkennung anderer Gesellschaften als in sich kohärente Systeme; das Verstehen der untersuchten Kultur; die Reflexion über die Gesellschaft und die Gewohnheiten des Forschers selbst; die Einführung der Feldforschung sowie andere Aspekte der qualitativen Forschung, wie der Einsatz des Forschers als Instrument der Datenerhebung.

Wenn nun die Ethnographie für andere Ziele eingesetzt werden soll, stellt sich die Frage nach den essentiellen Merkmalen dieser Methode und ob diese ihre Anwendung für den beabsichtigten Zweck erlauben. Der lange Feldaufenthalt, der Kontakt mit anderen Kulturen und der breit angelegte Gebrauch sozialer Kategorien bei der Datenanalyse, von WOLCOTT

(1988; zitiert nach: ANDRÉ 2000,28) genannte Voraussetzungen, sind in dieser Form in anderen Fachgebieten nicht notwendig. ANDRÉ (2000,28-29) nennt diese Adaption daher Forschung "vom Typ Ethnographie", um sie von der Ethnographie im strikten Sinne zu unterscheiden. Für den Erziehungsbereich identifiziert sie folgende Aspekte, um eine Arbeit als "vom Typ Ethnographie" bezeichnen zu können. Erster Aspekt ist der Gebrauch traditionell der Ethnographie zugeordneter Techniken wie teilnehmende Beobachtung, Intensivinterview und Analyse von Dokumenten. Das Prinzip der konstanten Interaktion zwischen Forscher und Forschungsobjekt sowie die Tatsache, daß der Forscher das prinzipielle Instrument bei der Erhebung und Auswertung der Daten ist, charakterisieren den zweiten Aspekt der Ethnographie. Ein anderer Aspekt ist die Hervorhebung des Prozesses, also was geschieht, und weniger des Endproduktes. Der vierte Aspekt ist das Interesse an dem Sinn, den die Personen ihren Handlungen und ihrer Erfahrung mit der sie umgebenden Welt geben, und die der Forscher versucht, zu erfassen und wiederzugeben. Ein fünfter Aspekt ist, daß die Ethnographie Feldforschung einschließt. Ein nächster Aspekt ist die große Menge beschreibender Daten: Situationen, Personen, Umgebung, Aussagen, Dialoge. Und schließlich die Induktion: die Ethnographie will Hypothesen, Konzepte, Abstraktionen, Theorien formulieren, die sie aber nicht zu testen beabsichtigt. Der Einstieg in die Ethnographie erfolgt ohne vorformulierte Hypothese. Man benötigt zunächst eine gewisse Zeit, um die von den Personen gelebten Beziehungen zu problematisieren. Was Sinn macht für den Forscher, macht noch nicht Sinn für die Personen. Häufig ist der Forscher nicht daran interessiert, welche Probleme die Personen haben. Eine vorformulierte Hypothese behindert die Herstellung eines Dialogs mit den Personen, sie muß daher unberücksichtigt bleiben. Daher ist der Arbeitsplan in der Ethnographie offen und flexibel und konstante Anpassungen, Evaluierungen und Neuformulierungen selbstverständlich. Ihr Ziel ist die Entdeckung neuer Konzepte, neuer Beziehungen und neuer Formen, die Realität zu verstehen.

Wie bei der teilnehmenden Beobachtung ist in der Ethnographie der Forscher das prinzipielle

"Instrument" der Datenerfassung und -analyse. Diese Tatsache schafft eine zu anderen

"Instrumenten" völlig unterschiedliche Situation, weil der Forscher aktiv auf die jeweiligen

Umstände eingehen kann und falls notwendig die Fragen, die die Forschung leiten, überprüfen, neue Untersuchungsgegenstände entdecken und die gesamte Methodologie noch während des Arbeitsablaufs verändern kann, so wie auch schon beim theoretischen Sampling beschrieben. Während der Feldforschung hat der Forscher keine Absicht, die Umgebung zu verändern oder Modifikationen einzuführen. Die Personen und Situationen werden in ihrer natürlichen Äußerung51 beobachtet (ANDRÉ 2000,28-29).

Die Ethnographie findet in der deutschen Literatur über qualitative Sozialforschung noch wenig Anerkennung. In DIEKMANN (1996) findet sie keine Aufmerksamkeit. LAMNEK

(1995b,385; Erstaufl. 1988) räumt ihr nur 6 Zeilen im Glossar mit folgender Einschätzung ein: "... weitgehend ohne theoretisches Erkenntnisinteresse erfolgt eine systematische Erfassung von Regelmäßigkeiten im individuellen und sozialen Verhalten (z.B. Sitten) fremder Gesellschaften". FLICK (1999,166; Erstaufl. 1995) dagegen stellt bereits fest, daß die Methode der teilnehmenden Beobachtung zunehmend in den Hintergrund rückt und die

"generellere Strategie der Ethnographie" größere Aufmerksamkeit erfährt, in der die Beobachtung mit anderen Verfahrensweisen verbunden ist. Zwei Umstände haben dazu beigetragen: einerseits fand in diesem Kontext eine ausführliche Diskussion über die Darstellung des Beobachteten mit Folgen für andere Bereiche der qualitativen Forschung statt und andererseits ist die neuere methodische Diskussion im angelsächsischen Raum über qualitative Methoden stark von der Ethnographie geprägt (FLICK 1999,167).

Nach FLICK (1999,167) geht die Ethnographie von der Beschreibung sozialer Wirklichkeiten und ihrer Herstellung aus, zielt dabei auf die Entwicklung von Theorien ab und richtet sich mit ihren Fragestellungen vor allem auf ihre detaillierte Beschreibung in Fallstudien. Nach LÜDERS (1992; zitiert nach: FLICK 1999,166) wandelt sich die Ethnographie "... in eine Forschungsstrategie, die alle nur denkbaren und ethisch vertretbaren Optionen der Datengewinnung einschließt." Die Sammlung der Daten wird konsequent der Fragestellung und den Gegebenheiten im Feld untergeordnet. Die Methoden der Datenerhebung werden in der aktuellen Diskussion weitgehend als sekundär hinter den Strategien der Teilnahme am Feld, der Interpretation und der Darstellung der Ergebnisse angesehen. Die "situativen, zufälligen und individuellen Momente" des Prozesses rücken in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und das "kunstgerechte Handeln des Forschers in der jeweiligen Situation"

gewinnt an Bedeutung. Die Vorgaben, die Methoden für die Orientierung des Forschers vermitteln können, werden aufgegeben "... zugunsten einer allgemeinen Forschungshaltung, mit der er sich in der untersuchten Lebenswelt zurechtfinden soll" (FLICK 1999,167).

Mit dieser Flexibilität kann die Ethnographie jedoch Gefahr laufen, in methodischer Beliebigkeit zu enden. Durch die verwendeten Methoden wird sie zu einer Strategie der Triangulation52 im Rahmen der Umsetzung einer allgemeinen Forschungshaltung (FLICK

1999,168). Dies bedeutet, daß die Fähigkeit des Forschers besondere Aufmerksamkeit verdient. LÜDERS (1992; zitiert nach: FLICK 1999,166) betont daher auch, daß "... das kunstgerechte Handeln des Forschers in den jeweiligen Situationen an Bedeutung ..."

gewinnt.

51 Ohne verfremdende Einflüsse, die zum Zwecke der Untersuchung erzeugt werden.

52 Triangulation ist die Kombination verschiedener Methoden zur Untersuchung eines Phänomens (ausführliche Erläuterung weiter unten in diesem Kapitel).

2.1.4 Fallstudie

Auch die Einzelfallstudie ist trotz ihrer langen Tradition durch die quantitative Sozialforschung und den Empirismus zeitweise verdrängt worden. "Die Dominanz der Methode vor dem Gegenstand" sowie die Bevorzugung und "... zum Teil Fetischisierung quantitativer Forschung ... hat die Einzelfallstudie über Jahrzehnte zu einem Mauerblümchen-Dasein degradiert" (LAMNEK 1995b,4). Lamnek sieht die Einzelfallstudie (im weiteren Fallstudie genannt) weder als eine konkrete Erhebungstechnik, noch als ein eigenständiges methodologisches Paradigma an. Daher stuft er sie als Forschungsansatz (approach53) ein.

Das bedeutet, daß die Fallstudie in Forschungen unterschiedlicher paradigmatischer Positionen eingesetzt werden kann, wobei das Datenmaterial prinzipiell mit allen Methoden erhoben werden kann, die innerhalb dieser Position akzeptiert sind beziehungsweise mit ihr kompatibel sind. Beruft sie sich auf das "qualitative Paradigma"54 (LAMNEK 1995b,8), so wirkt sich dies auch auf die Methoden aus, denen LAMNEK (1995b,20-21; 1995a,41) folgende Merkmale zuordnet:

- Offenheit: bezüglich des theoretischen Konzepts, der untersuchten Personen und der Erhebungssituation; dies bedeutet vor allem, daß theoretische Konzepte und Hypothesen nicht aufgrund von Vorwissen, sondern aufgrund der untersuchten sozialen Sachverhalte vorurteilsfrei formuliert werden, ohne vorschnell in eine bestimmte Richtung gelenkt zu werden;

- Kommunikativität: soziale Wirklichkeit wird durch situative Interaktionen und Kommunikation konstituiert;

- Naturalistizität: die Untersuchung soll keine verfremdenden Einflüsse durch eine ungewöhnliche, "unnatürliche" Kommunikationssituation erfahren, die dem Lebensalltag der Personen fremd ist; und

- Interpretativität: "Die soziale Realität wird als gesellschaftlich, ihr Sinn also durch

- Interpretativität: "Die soziale Realität wird als gesellschaftlich, ihr Sinn also durch