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1.5 Der Kontext

1.5.2 Die bäuerliche Landwirtschaft

Der brasilianische Begriff "Familienlandwirtschaft" (Agricultura Familiar) für die Kategorie, mit der in der Untersuchung gearbeitet wird, wird hier mit "bäuerlicher Landwirtschaft"

übersetzt, die dementsprechend von "Bauern" betrieben wird. Der häufig benutzte Begriff kleinbäuerliche Landwirtschaft würde demgegenüber "Kleinheit" in Bezug auf die Betriebsfläche oder die Produktion suggerieren und damit der Heterogenität der Agricultura Familiar nicht gerecht werden. Dem wird die unternehmerische Landwirtschaft (z.B. von Fazendeiros betrieben) gegenüber gestellt.

Der Bauer ist heute in Brasilien sowohl in der wissenschaftlichen Diskussion als auch in der Regierungspolitik zunehmend als bedeutende soziale Gruppe anerkannt. Dies ist eine neue Entwicklung, denn lange Zeit wurde er nicht als ein wichtiger Faktor angesehen und sein Schicksal schien von der Eliminierung gekennzeichnet zu sein, um im kapitalistischen Modernisierungsprozeß von den Agrarunternehmen ersetzt zu werden. Für die Veränderung dieser Sichtweise stehen Namen wie SCHULTZ (1964), der aufgrund seiner langen Erfahrung in landwirtschaftlicher Forschung und Beratung auf der Rationalität des Bauern bestand, sowie HAYAMI & RUTTAN (1985) und LAMARCHE (1993), die mit Studien über den Beitrag der bäuerlichen Landwirtschaft zur Entwicklung in Ländern wie Deutschland, Frankreich,

25 Kirchliche Organisation für Landrechts- und Bauernangelegenheiten, die mit der katholischen Bischofskonferenz verbunden ist.

26 Das MPST nannte sich im Zuge seiner Umwandlung in eine regionale Entwicklungsorganisation im Jahr 2000 in Movimento pelo Desenvolvimento da Transamazônica e Xingu (MDTX) um.

27 Mögliche Motive: Raubüberfall, sein Engagement gegen die Umstände der Realisierung eines Großprojektes von Wasserkraftwerken am Rio Xingu, sein Beitrag zur Aufklärung der Zweckentfremdung von Entwicklungsgeldern für Amazonien (Fall SUDAM, Superintendência para o Desenvolvimento da Amazônia) oder sein Beitrag zur Aufklärung der zahlreichen Überfälle zum Raub von Fahrzeugen an der Transamazônica.

Polen, Japan und USA zu einer veränderten Wahrnehmung beitrugen. Auch die Arbeit von PRIEBE & HANKEL (1980) über die Bedeutung der Landwirtschaft im Entwicklungsprozeß sei hier erwähnt. In Brasilien sind VEIGA (1991), ABRAMOVAY (1992), WANDERLEY (1997), ROMEIRO (1998) und COSTA (1992), letzterer in Pará, zu nennen (vgl. HURTIENNE 1999).

Allerdings bereitet die Abgrenzung dieser Kategorie von den unternehmerischen Landwirten (agricultores patronais) jedoch einige Probleme angesichts der enormen Unterschiede in der bäuerlichen Landwirtschaft. In einer Studie im Rahmen der Kooperation FAO/INCRA (1996) und in einer aktuellen Ergänzung der Autoren (GUANZIROLI et al. 2001,50) wird die bäuerliche Landwirtschaft Brasiliens folgendermaßen definiert: der Betrieb wird von dem Bauern geleitet und er setzt überwiegend Familienarbeitskraft und weniger Lohnarbeit ein.

Zusätzlich wird eine "größte regionale Fläche" als obere Grenze bestimmt, um den erheblichen regionalen Unterschieden Rechnung zu tragen, die bei der durchschnittlich von einer Familie bewirtschafteten Betriebsflächen bestehen, und zu vermeiden, daß unproduktive Latifundien zur bäuerlichen Landwirtschaft gerechnet werden.28

Die Mehrzahl der landwirtschaftlichen Betriebe in Brasilien sind der bäuerlichen Landwirtschaft zuzurechnen (Tabelle 1).29 Sie erwirtschaften 37,9% der Produktion (in R$) auf 30,5% der Fläche, obwohl sie nur 25,3% der Finanzierung (Kredite) erhalten (Tabelle 2).

In der Region Norden (siehe Karte 2) übersteigt ihr Anteil an der Produktion sogar den der unternehmerischen Landwirtschaft. Die 218.610 km² der Fläche der bäuerlichen Landwirtschaft in dieser Region sind immerhin so groß wie 61% der Fläche Deutschlands.

Demgegenüber ist das durchschnittliche Jahreseinkommen der bäuerlichen Betriebe in Brasilien gering. Im Norden liegt es mit 2.904 R$ (einschließlich des Eigenverbrauchs) leicht über dem brasilianischen Durchschnitt, davon beträgt das monetäre Einkommen 1.935 R$.

Das monatliche Einkommen pro Arbeitskraft (Annahme: 3 Familienarbeitskräfte) ergibt somit etwa 80 R$. Dies liegt weit unter den Opportunitätskosten, die man für den gleichen Zeitraum (Tagelohn in Pará 5,57 R$)30 mit etwa 117 R$ ansetzen kann (GUANZIROLI et al. 2001,53-57).

Die bäuerliche Landwirtschaft ist der wesentliche Faktor für die Arbeit auf dem Land in Brasilien. Mit 13,8 Mio. Arbeitskräften ist sie für 76,9% der Beschäftigten in der Landwirtschaft verantwortlich, das sind 18,8% der ökonomisch aktiven Bevölkerung Brasiliens (eigene Berechnung nach ALMANAQUE 1998,192). Im Norden sind sogar 82,2%

der Arbeitskräfte in der Landwirtschaft in bäuerlichen Betrieben beschäftigt (GUANZIROLI et al. 2001,57-63). Die Entwicklung der bäuerlichen Landwirtschaft stellt somit eine wichtige Aufgabe dar in einer Region, in der Arbeitslosigkeit oder Unterbeschäftigung strukturell bedingt sind.

28 Diese "größte regionale Fläche" beträgt im Norden 1.222 ha (GUANZIROLI et al. 2001,108). In fast allen Regionen des Bundesstaates Pará dominiert die Familienarbeitskraft in den Betrieben bis 200 ha.

29 Für Einzelheiten der Abgrenzung und Berechnung sei auf GUANZIROLI et al. (2001) verwiesen, die im wesentlichen dem Ansatz von Marc Dufumier folgen, der zahlreiche Einsätze im Rahmen der Zu-sammenarbeit FAO/INCRA realisierte. Die Daten wurden auf der Basis des Agrarzensus 1995/96 des Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística (IBGE) errechnet.

30 Vgl. GUANZIROLI et al. (2001,109). Dabei muß berücksichtigt werden, daß der Tagelöhner nicht jeden Tag Arbeit findet. Man müßte also das tatsächliche Jahreseinkommen dieser Kategorie für den Vergleich heranziehen.

Tabelle 1: Zahl und Fläche der Betriebe

Untern. Lw. 554.501 11,4 2.400.421 67,9 423

Bäuerl. Lw. 4.139.369 85,2 1.077.685 30,5 26 Region Norden

Untern. Lw. ---* ---* ---* ---* 1.008 Region Norden

Bäuerl. Lw. ** 380.895 85,4 218.610 37,5 57

Anmerkungen: Lw: Landwirtschaft. Die unternehmerischen und bäuerlichen Betriebe zusammen ergeben weniger als 100%, da es einige andere Betriebsarten gibt (z.B. Betriebe des Staates oder der Kirchen). Gekennzeichnet mit *: Daten nicht vorhanden oder nicht sinnvoll; mit **: Prozentsätze beziehen sich auf die Region. Quelle: GUANZIROLI et al.

2001,53-65).

Tabelle 2: Produktion, Einkommen, Finanzierung und Beschäftigung in der Landwirtschaft

Anmerkungen: Lw: Landwirtschaft. Die unternehmerischen und bäuerlichen Betriebe zusammen ergeben weniger als 100%, da es einige andere Betriebsarten gibt (z.B. Betriebe des Staates oder der Kirchen). Das Betriebseinkommen schließt den Eigenverbrauch mit ein.

Gekennzeichnet mit *: Daten nicht vorhanden oder nicht sinnvoll; mit **: Prozentsätze beziehen sich auf die Region. Angaben zur Währung (R$) in Kap. 1.5.4. Quelle: GUANZIROLI

et al. 2001,53-65).

Karte 2: Brasilien

Quelle: STATISTISCHES BUNDESAMT (1994,11).

Die Investitionen in der bäuerlichen Landwirtschaft betragen insgesamt 2,5 Mrd. R$ pro Jahr (32% der gesamten Landwirtschaft), das sind 612 R$/Betrieb und 23,50 R$/ha (etwas mehr als in den unternehmerischen Betrieben), jedoch im Norden nur 7,4 R$/ha pro Jahr

(GUANZIROLI et al. 2001,67). Die besonders niedrigen Investitionen und das geringe Betriebseinkommen im Norden deuten auf eine von anderen Großräumen Brasiliens völlig verschiedene Situation hin. Der Grad der Intensivierung in der Landwirtschaft ist äußerst gering. Auch die "konservative Modernisierung" (SILVA 1982,126; siehe Kap. 1.5.1) hat hier nicht stattgefunden und die Mechanisierung der Landwirtschaft (Zugtieranspannung, Traktoren, Geräte) ist äußerst gering. Nur in Gebieten im Süden Amazoniens, die an die Savannenlandschaft angrenzen, wiederholen sich Prozesse, die den Mittelwesten von Brasilien zu einem Gebiet mit hochproduktiven landwirtschaftlichen Großbetrieben (Anbau von Getreide, Soja) gemacht haben.

Diese Daten zeigen, daß die bäuerliche Landwirtschaft nicht nur auf dem Land, sondern auch im größeren Rahmen der brasilianischen Wirtschaft ein wesentlicher Faktor, vor allem für die Beschäftigung ist. Trotz ihrer Bedeutung, unter anderem für die Produktion von Nahrungsmitteln und Grundstoffen für den Verarbeitungssektor sind die Einkommen und die Investitionen sehr gering, letztere besonders in der Region Norden. Dies ist ein fruchtbares Feld für die Arbeit eines effizienten landwirtschaftlichen Forschungs- und Beratungsdienstes.

Heute zeigt sich die Bedeutung der bäuerlichen Landwirtschaft auch in der Regierungspolitik, die Ergebnis der Forderungen und Aktionen der Bauernorganisationen ist, insbesondere des MST. Die wichtigsten Maßnahmen sind die Agrarreform31, der Zensus zur Agrarreform, das Lumiar-Projekt, das Programm zur Stärkung der bäuerlichen Landwirtschaft (Programa Nacional de Fortalecimento da Agricultura Familiar - PRONAF) sowie das Forschungsprogramm der bäuerlichen Landwirtschaft der EMBRAPA. Wenn auch hier nicht auf die Einzelheiten, Widersprüche und zeitlichen Horizonte dieser Programme eingegangen werden kann, so kann doch erstmals von einer Regierungspolitik in diesem Bereich die Rede sein. Dies kommt auch in der Tatsache zum Ausdruck, daß Brasilien inzwischen zwei Minister im Bereich der Landwirtschaft hat, wobei das Landwirtschaftsministerium grob gesehen für die unternehmerische Landwirtschaft, die Exporte und die Agrarforschung (EMBRAPA, CEPLAC) zuständig ist und das Ministerium für Agrarentwicklung für die bäuerliche Landwirtschaft, darunter die Agrarreform und INCRA.32