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3.3 Forschung in Verbindung mit entwicklungsorientierten Aktionen

3.3.1 Aktionsforschung für den sozialen Wandel

Die Aktionsforschung hat nach Ansicht von BARBIER (1996,13) ihren Ursprung in der Arbeiterbefragung (enquête ouvrière), für die Karl Marx im Jahre 1880 einen Fragebogen formuliert hatte (THIOLLENT 1987,101-126). Andere Autoren identifizieren die ersten Schritte

101 Marginal: am Rande, auf der Grenze liegend; in den unsicheren Bereich zwischen zwei Entscheidungsmöglichkeiten fallend (DROSDOWSKI 1990,481). Vgl. ROGERS (1995,369). Personen lösen das Problem der "Marginalität" auf verschiedene Weisen: indem sie auf die eine oder andere Seite wechseln, eine Seite leugnen, zwischen den verschiedenen Welten "oszillieren" oder indem sie eine neue Welt bilden, die aus Menschen wie sie selbst bestehen (STAR & GRIESEMER 1989,412.

102 Zu Dyade und Triade siehe die Diskussion des Beitrags von Simmel in Kap.5.6.

103 Individuell bedeutet in diesem Fall auch eine Gruppe von Bauern, eine Assoziation oder Kooperative.

der Aktionsforschung in den "Hawthorne-Studien" der Equipe von Elton Mayo, die im Jahr 1929 in der Western Electric Company (Hawthorne, Illinois) Daten über die Situation am Arbeitsplatz erhob (Abwesenheitsrate), aus der sich nach und nach eine Zusammenarbeit zwischen Forschern und Arbeitern entwickelte. Der Begriff Aktionsforschung wurde zu Beginn der 40er Jahre geprägt von Kurt Lewin, einem deutschen Psychologen und Vertreter der Gestaltpsychologie. Lewin arbeitete über die menschliche Motivation in ihrem physischen und sozialen Kontext, soziale Probleme in Verbindung mit der Einführung von Veränderungen, Rassenkonflikte und Gruppendynamik in der Sozialpsychologie. Er glaubte, daß nur die Intervention in kontrollierten Untersuchungen bestimmte Phänomene der sozialen Realität zu beobachten und interpretieren ermöglicht. Er wollte die Forschung im Dienste der Lösung sozialer Konflikte einsetzen, als ein Mittel der Sozialtechnik, weshalb er von manchen Autoren nicht als Gründer einer emanzipatorischen und partizipativen Aktionsforschung anerkannt wird. Eine andere Quelle ist die Aktionsanthropologie (action anthropology), die von nordamerikanischen Anthropologen ab den 50er Jahren entwickelt wurde, die sich angesichts der Situation der Indianer nicht auf Forschung und Beschreibung beschränken wollten, sondern ihre eigene Haltung änderten und zur Veränderung der Situation beitrugen (ALBALADEJO & CASABIANCA 1997b,129-130; BARBIER 1996,15;

SCHNEIDER-BARTHOLD et al. 1995,117; SCHULTZ & SCHULTZ 1981,206, 320; SEITHEL 1990).

Die Aktionsforschung kann ausschließlich für kognitive Zwecke benutzt werden, was für die vorliegende Arbeit jedoch nicht zutrifft. Daher soll von einer während eines Kolloquiums 1986 in Frankreich von den beteiligten Wissenschaftlern erarbeiteten Definition ausgegangen werden: "Es handelt sich um Forschungen, die eine geplante Aktion beinhalten, um die Wirklichkeit zu verändern, Forschungen mit einem doppelten Ziel: die Realität zu transformieren und Erkenntnisse über diese Veränderungen zu produzieren" (HUGON &

SEIBEL 1988; zitiert nach: BARBIER 1996,7). Sie verbindet also die Forschung mit einer praktischen Aktion und zielt sowohl auf die unmittelbare Lösung aktueller Probleme, als auch auf die Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnisse ab. ALBRECHT (1992c,121) gebraucht auch den Begriff Verfahrensforschung. Die Dynamik des Prozesses beeinflußt die Richtung der Forschung und erbringt neue Einsichten. Die Aktionsforschung liefert nicht nur Ergebnisse, sondern informiert auch, wie sie erzielt wurden, eine Notwendigkeit, die von BENNIS (1965; zitiert von ALBRECHT 1992c,113) hervorgehoben wird: "Leider existiert keine Theorie vom sozialen Wandel. Es ist eine kuriose Tatsache, daß die gegenwärtigen Theorien eigenartig wenig aussagen in Bezug auf das Problem, sozialen Wandel zu implementieren und ihm Richtung zu geben." Sie sind nach Bennis brauchbar für Beobachter des sozialen Wandels, aber nicht für Praktiker, die Veränderungen herbeiführen wollen, weil sie keine Anleitung dazu geben.

In der Aktionsforschung wird ein Ausgangspunkt (Explorationsphase) und ein Endpunkt (Verbreitung der Ergebnisse; Rückgabe) definiert, während die Vorgehensweise zwischen diesen Punkten offen bleibt, die von einem Leitfaden ausgehen kann (THIOLLENT 1992,47).

Dies erlaubt, den Planungsprozeß auf die nächsten Schritte zu beschränken und die Arbeit nach dem Eintreffen erster Reaktionen auf die Aktionen neu zu orientieren. Diese Reaktionen können wesentlich zur Analyse der Situation beitragen ('Diagnostizieren mittels Intervention', wobei es sich hier nicht um einen Fremdeingriff handelt, da die Aktionsforschung die gemeinsame Planung voraussetzt). Die Wechselwirkung zwischen Aktion und Reaktion erbringt Erkenntnisse, die in einer "normalen" Forschung (Ausgangssituation - Endsituation - Bewertung in Bezug auf die Zielsetzung) nicht zu erhalten sind, weil es keine Analyse des Prozesses gibt. Diese Vorgehensweise ermöglicht die Korrektur von Fehlern und die Verbesserung der Methode zu einem relativ frühen Moment. Die Aktionsforschung kann auch ein soziales "Experiment" bedeuten, was äußerst selten in den Sozialwissenschaften möglich ist (ALBRECHT 1992c,115-116). Nach THIOLLENT (1992,18) "... ist es mit der

Aktionsforschung möglich, in dynamischer Weise die Probleme, Entscheidungen, Aktionen, Verhandlungen, Konflikte und Bewußtwerdungsprozesse zu studieren, die zwischen den Agenten während des Prozesses der Transformation der Situation ablaufen."

Die Aktionsforschung ist auf die Zusammenarbeit von Wissenschaftlern und Praktikern, seien es Entwicklungsagenten, landwirtschaftliche Berater oder Bauern, angewiesen. Sie wird daher nur realisierbar, wenn beide Seiten mit der Zusammenarbeit hinzu gewinnen. Für den Forscher ist sie vorteilhaft in komplexen Situationen, in denen die verschiedenen Einflußfaktoren nicht voneinander getrennt werden können, oder zu Beginn eines Projektes, das Entscheidungen in Situationen mit unvollständigen Informationen verlangt. Für die Praktiker hat die wissenschaftliche Begleitung und Analyse einer konkreten Situation den Vorteil, die spezifischen Erkenntnisse verallgemeinern zu können, was die Anwendung dieser Erfahrungen auch in unterschiedlichen Situationen erleichtert (ALBRECHT 1992c,114).

Außer den erwähnten Eigenschaften, unterscheidet sich die Aktionsforschung von anderen Methoden, die ebenfalls das Element der Aktion kennen (die nicht in allen partizipativen Forschungen vorkommt), durch die geplante und ausgehandelte Aktion, die eine Erfahrung zu machen erlaubt, die irreversibel ist, da die Ereignisse die Teilnehmer in einer Weise beeinflussen, daß sie verändert aus diesem sozialen Prozeß herauskommen. Ein weiterer Punkt ist die beabsichtigte breite Interaktion zwischen Forschern und anderen Beteiligten in der untersuchten Situation. Die Aktionsforschung bringt einige Risiken mit sich, unter anderem den Aktionismus, aufgrund der alltäglichen Anforderungen. Die Aktivitäten haben die Tendenz, sich auf die Aktionen zu konzentrieren, so daß die Gewinnung neuer Erkenntnisse an Gewicht verliert und auf Routineaufzeichnungen reduziert wird.

THIOLLENT (1992,8) grenzt die Reichweite der Aktionsforschung ein auf einen mittleren Bereich zwischen der mikrosozialen (Individuen, kleine informelle Gruppen) und der makrosozialen Ebene (Gesellschaft, soziale Bewegungen und Organisationen auf nationalem oder internationalem Niveau).

Kasten 7: Pesquisa participante

Die Pesquisa Participante104 hat nach BRANDÃO (1983; zitiert nach: SILVA 1991,22) ihren Ursprung in der Idee der Arbeiterbefragung (enquête ouvrière). Er identifiziert als weitere Quelle die teilnehmende Beobachtung, die von dem Anthropologen Malinowski entwickelt wurde, als er in seinem Feldtagebuch bestätigte: "Ich habe enge Beziehungen mit den Eingeborenen, lebe mit ihnen, esse mit ihnen, laufe herum und versuche alles zu erfahren, das ist meine Arbeitsmethode."

Eine der bekanntesten Erfahrungen der Pesquisa Participante in Lateinamerika wurde von der Fundación Rosca de Investigación y Acción Social gemacht, mit der Teilnahme des Soziologen Orlando Fals Borda (SILVA 1991,23). Nach FALS BORDA (1988,43) handelt es sich bei der Pesquisa Participante "... nicht um den konservativen Typ der geplanten Forschung von Kurt Lewin ...", sondern sie "... bezieht sich auf eine 'Forschung der Aktion, die auf die Basisbedürfnisse des Individuums gerichtet ist' (Huynh, 1979), die speziell auf die

104 SALAS (1992,245) bezeichnet diese Tendenz der Aktionsforschung als "Partizipative Aktionsforschung" und sieht in ihr einen selbständigen Ansatz im Vergleich zu anderen sozialwissenschaftlichen Perspektiven. Um nicht in eine Debatte einzutreten, welche der Tendenzen

"partizipativer" als die andere ist, behalte ich den in Brasilien vorherrschenden Begriff pesquisa participante bei.

Bedürfnisse der Bevölkerungsteile eingeht, zu denen Arbeiter, Camponeses105, Bauern und Indianer gehören ..." (Hervorhebung durch FALS BORDA). Unter dem Begriff

"Volkswissenschaft" (ciência popular) wird das Wissen des Volkes hinsichtlich seiner eigenen Rationalität und seiner eigenen Kausalstruktur anerkannt. Die Pesquisa Participante vertritt sechs methodologische Punkte, unter anderem: die Authentizität und die Verpflichtung der Techniker und Wissenschaftler, den Antidogmatismus, die systematische Rückgabe der Ergebnisse, die Notwendigkeit des Feedback zwischen allen Akteuren, die Bescheidenheit beim Gebrauch wissenschaftlicher Methoden und der Gebrauch von Techniken des Dialogs oder der Partizipation. Es sind noch viele Experimente notwendig, bis sie "... dann eine Wissenschaft wäre, die auf dem Niveau der Weisheit angelangt sei" (FALS

BORDA 1988,61).

Nach SILVA (1991,13), umfaßt die Pesquisa Participante verschiedene Bezeichnungen wie Pesquisa Participante, partizipative Forschung (pesquisa participativa), investigação-ação, Aktionsforschung (pesquisa-ação), investigação participativa, teilnehmende Beobachtung (observação participante), investigação militante, auto-senso, estudo-ação, pesquisa-confronto, etc.106. "Die Idee der Partizipation stellt vielleicht den Aspekt der Pesquisa Participante dar, der am meisten zentral und am meisten umstritten ist ... und es manchmal erschwert zu präzisieren, um welchen Typ von Partizipation es sich handelt und wozu die Partizipation" (SILVA 1991,116). Nach SALAS (1992) beeinflußten zwei akademische Quellen die Entwicklung der "Partizipativen Aktionsforschung" (ihre Bezeichnung für das Konzept der Pesquisa Participante): die Dependenztheorie und die

"Volkserziehung" (educação popular). Carlos Brandão gibt das Fehlen einer theoretischen und methodologischen Definition der Pesquisa Participante zu (SILVA 1991,82). Nach SILVA

(1991,186-188) muß man anerkennen, daß "... die aufgezeigten Probleme und Grenzen noch nicht angemessen aufgegriffen wurden von der begrenzten Produktion, die zirkuliert und die sich noch auf einem Anfangsniveau der Systematisierung befindet ... Die Pesquisa Participante in ein Paradigma zur Wissenserzeugung umzuwandeln ist eine Frage, die aufgeworfen, aber nicht gelöst ist, und vielleicht ist die grundlegende Aufgabe, die Überbewertung zu entmystifizieren, die man dem Sozialwissenschaftler zuerkannt hat, und die Partizipation des Volkes im Prozeß der wissenschaftlichen Produktion zu relativieren ..."

THIOLLENT (1992,7) stellt fest, daß die "... Ausdrücke 'Pesquisa Participante' und 'Pesquisa-ação' (Aktionsforschung) häufig als synonym angenommen werden. Nach meiner Meinung sind sie es nicht, weil die Aktionsforschung, außer der Partizipation eine Form der geplanten Aktion mit sozialem, erzieherischem, technischen oder anderem Charakter voraussetzt, der sich nicht immer in Vorschlägen zur Pesquisa Participante findet." Die Notwendigkeit wissenschaftlicher Anforderungen wird von THIOLLENT (1992,9) deutlich betont: "Obwohl er die empirische Seite bevorzugt, wird unser Ansatz niemals auslassen, die Fragen hinsichtlich der theoretischen Referenzrahmen einzubringen, ohne die die empirische Forschung - Aktionsforschung oder nicht - keinen Sinn machen würde."

Der Pesquisa Participante gelang es nicht, sich über einen längeren Zeitraum zu behaupten. Nach CASTELLANET (1997,4-5) hat sie vermutlich aus zwei Motiven an Raum verloren: die Idealisierung des Volkes und die Leugnung des Wertes der traditionellen Wissenschaft seitens einiger ihrer Vertreter, die sie als bourgeois bezeichneten, wodurch sie nach den 80er Jahren an den Universitäten nur noch eine marginale Rolle spielten. "Wenn die ideologische Einwirkung exzessiv ist, sind die in der Forschung gewonnenen Daten ohne Wert" (THIOLLENT 1992,39). Was bleibt, ist die Möglichkeit, einige der reichhaltigen

105 Zu dem Begriff Camponês und dem Unterschied, z.B. zu "Bauer" (Agricultor), siehe WANDERLEY

(1997). In der vorliegenden Arbeit wird diese Unterscheidung nicht vorgenommen, sondern nur der Begriff Bauer benutzt.

106 Es soll hier nicht die Mühe unternommen werden, alle Ausdrücke zu übersetzen. Einige Begriffe sind in diesem Zusammenhang fast gleichbedeutend wie pesquisa und investigação für Forschung.

Erfahrungen aufzugreifen und zu prüfen, inwieweit sie zu dem hier behandelten Thema einen Beitrag leisten können.