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4.2 Das Lumiar-Projekt: ein klientenorientierter Beratungsdienst

4.2.1 Das Konzept und die Struktur

Das Lumiar-Projekt entstand Anfang 1997 als Reaktion der Brasilianischen Bundesregierung auf den politischen Druck, der von den Forderungen und Aktionen der Landlosenbewegung (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra - MST) ausging und durch die weltweite Empörung über das am 17. April 1996 von der Militärpolizei veranstaltete Massaker an Landlosen in Eldorado (Bundesstaat Pará) verstärkt wurde. Das Projekt wurde mit dem MST und dem Nationalen Zusammenschluß der Arbeiter in der Landwirtschaft188 (Confederação Nacional dos Trabalhadores na Agricultura - CONTAG) verhandelt.189

Das Lumiar-Projekt war ein Eingeständnis der Bundesregierung, daß die Landwirtschaftliche Beratung in den Agrarreformgebieten unzureichend sei und damit die Investitionen in die anderen Komponenten, Landrechte, Infrastruktur (Straßen, Schulen, etc.) und Kreditprogramme unwirksam werden könnten. Es wurde als ein "Notprogramm" eingerichtet und durch das Programm der brasilianischen Bundesregierung "Brasilien in Aktion"

finanziert, wobei das Nationale Institut für Kolonisierung und Agrarreform INCRA für die Mittelbereitstellung sowie die Regelung und Überwachung der Aktivitäten verantwortlich war, obwohl die landwirtschaftliche Beratung niemals zu seinen Aufgaben gehörte. Das Projekt war nur für eine Übergangsperiode konzipiert190 und sah unter anderem vor, die Wiederherstellung der landwirtschaftlichen Beratungsinstitutionen in Brasilien anzuregen, um schrittweise die Notwendigkeit der Aktion von INCRA in diesem Bereich zu verringern (INCRA 1997,6; 16). Das Lumiar-Projekt konnte somit Kern eines neuen Beratungsdienstes werden.

Das Ziel des Lumiar-Projektes war, die Ansiedlungsgebiete der Agrarreform zu funktionsfähigen, strukturierten Produktionseinheiten zu entwickeln, sie konkurrenzfähig in den Produktionsprozeß einzubeziehen, auf den Markt auszurichten und in die munizipale und regionale Entwicklungsdynamik zu integrieren. Um dies zu erreichen, sollte Lumiar die technische Beratung für Organisation, Produktion und Vermarktung durchführen und einen

188 Arbeiter in der Landwirtschaft können Bauern sein, die einen offiziellen Landtitel haben, ein Stück Land besetzt haben und bestellen, Pächter, Landarbeiter (Tagelöhner) sein, sind aber im Kontext dieser Arbeit in der Mehrzahl Bauern.

189 Da es in dieser Arbeit im wesentlichen um die Beziehungen und Interaktionen zwischen den Akteuren ging, war die für die Fallstudien angewandte Forschungsmethode von einer Kombination verschiedener Ansätze gekennzeichnet (siehe Kap. 2.2). Der teilnehmenden Beobachtung, ergänzt um Elemente der Ethnographie sowie der Aktionsforschung, kam eine zentrale Rolle bei der Untersuchung zu. Weiter wurde die Triangulation mit der Auswertung von Texten (auch gemeinsamer Berichte) und zusätzlichen Befragungen angewandt.

190 Die Dauer des Projektes wurde jedoch nicht zeitlich festgelegt.

gemeinsamen Lernprozeß der Siedlergemeinschaften zu nachhaltiger Entwicklung und Verbesserung der Lebensqualität initiieren (INCRA 1997,4).

Die Idee war, daß die Ansiedler (Bauern in den Agrarreformgebieten) die landwirtschaftliche Beratung unter Vertrag nahmen und INCRA die Bezahlung übernahm, sofern die Bauern die Qualität der Dienstleistung durch die monatliche Unterschrift ihrer Repräsentanten bestätigten. Das Lumiar-Projekt sollte die landwirtschaftliche Beratung nicht nur hinsichtlich quantitativer Kriterien, sondern auch in ihrer Qualität verbessern und auf die nachhaltige Entwicklung der Ansiedlungsgebiete auszurichten. Dabei sollten "... die traditionellen Methoden der Beratung (extensão rural) vermieden werden, die sich vor allem auf die technisch-produktiven Aspekte des Pflanzenbaus und der Tierhaltung konzentrieren" (INCRA 1997,37), und "ein konstruktivistischer Erziehungsprozeß" ausgelöst werden (MOREIRA

1997,166).

Auf nationaler Ebene wurde das Projekt von einer Nationalen Kommission Procera191 / Lumiar geleitet, während innerhalb von INCRA die Direktion der Ansiedlungsgebiete (Diretoria de Assentamento) in Brasília zusammen mit der Nationalen Koordination des Lumiar-Projektes verantwortlich für die Durchführung war. Auf der Ebene der einzelnen Bundesstaaten war eine Staatliche Kommission Procera / Lumiar (Comissão Estadual Procera / Lumiar - CEPRO) das Entscheidungsorgan, deren Vorsitz vom Chef der Abteilung der Ansiedlungsgebiete (Divisão de Assentamento) von INCRA übernommen wurde. Die CEPRO war zusammengesetzt aus Repräsentanten des Agrarministeriums des Bundesstaates (Secretaria Estadual de Agricultura - SAGRI), den für die ländlichen Kreditprogramme zuständigen Banken (Banco da Amazônia S.A., Banco do Brasil) und den Organisationen der Bauern (FETAGRI, die auch die Ansiedler vertrat) und traf ihre Entscheidungen mit 2 Stimmen der Behörden, 2 Stimmen der Banken und 2 Stimmen der Bauernorganisationen.

Die CEPRO wurde von einer Equipe von Supervisoren beraten.

Die Auswahl der Berater192 erfolgte auf Vorschlag der Bauern (FETAGRI, MST, STRs, Assoziationen) oder der Institutionen mit Verbindung zur Agrarreform (Universitäten, INCRA, staatliche Beratungsdienste), und wurde von der Supervisionsequipe in drei Schritten durchgeführt: Analyse des Lebenslaufs, Interview und Bewertung der Leistung während eines 10-tägigen Trainings, das die Vorbereitung der Berater durch die Erarbeitung einer Diagnose (vgl. Kap. 3.3.2) in einem für die Einrichtung von Lumiar vorgesehenen Ansiedlungsgebiete.

Die Beratung erfolgte durch interdisziplinäre, lokale Equipen von Beratern. Eine Lokalequipe war für die Beratung in einem bestimmten Gebiet zuständig (z.B. die Ansiedlungsgebiete eines Munizips) und setzte sich normalerweise aus 4 Fachkräften zusammen (Standardequipe), zwei Beratern mit mittlerer Bildung (vorzugsweise Agrartechniker) und zwei Beratern mit Universitätsausbildung, davon einer (z.B. Soziologe oder Sozialarbeiter) bevorzugt zur Unterstützung der Organisation (der Gemeinschaft, der Vermarktung, der gemeinschaftlichen Verwaltung von Maschinen, etc.) und der andere mit Schwerpunkt in der Landwirtschaft (z.B. Agraringenieur). Diese Equipe sollte 300 Familien beraten (INCRA 1997,9). Die Equipen konnten die Hilfe von Spezialisten in Kurzeinsätzen beantragen.

Die Arbeit der lokalen Equipen wurde durch eine Trägerinstitution angeboten, die eine Arbeitskooperative der Lumiar-Berater oder eine andere Institution (öffentliches

191 Procera (Programa de Crédito Especial para a Reforma Agrária) ist eine günstige Kreditlinie für die Ansiedlungsprogramme.

192 Es handelte sich um verschedene Berufsgruppen, wie Agraringenieure, Agrartechniker, Soziologen, etc.

Unternehmen, NRO, etc.) sein konnte, wobei die Berater Mitglieder einer selbstverwalteten Kooperative oder Angestellte sein konnten.

Kasten 15: Träger des Beratungsdienstes

Im Amtsgebiet der Regionalen Superintendenz von Belém SR (01)193 waren folgende Träger unter Vertrag genommen:

FANEP (Fundação Sócio-Ambiental do Nordeste Paraense): eine NRO der Sozialen Bewegungen mit enger Verbindung zur FETAGRI, im Nordosten von Pará,

COODERSUS (Cooperativa de Prestação de Serviços em Apoio ao Desenvolvimento Rural Sustentável): eine Kooperative von Lumiar-Beratern in der Region der Bundesstraße Belém - Brasília,

COODESTAG (Cooperativa de Desenvolvimento Sustentável, Técnico e Social da Agricultura): eine Kooperative von Lumiar-Beratern an der Transamazônica;

POEMAR: eine NRO, die mit POEMA (Programa Pobreza e Meio Ambiente), einem Programm an der UFPA, verbunden ist;

UNIAGRO (Cooperativa de Trabalho dos Engenheiros Agrônomos do Pará Ltda):

gegründet von Beratern der EMATER, um auf die mögliche Privatisierung des staatlichen Beratungsdienstes vorbereitet zu sein.

Im ersten Jahr war die CEPLAC (Comissão Executiva do Plano da Lavoura Cacaueira) Träger an der Transamazônica. Dieses Bundesinstitut für Kakaoforschung mit Sitz in Itabuna, dem Zentrum des Kakaoanbaus im Süden des Bundesstaates Bahia, führt außer der Forschung Beratung (Extensão, Verbreitung) und Ausbildung (Formação) durch.

Es ist eines der letzten produktorientierten Institute, die früher eine erhebliche Bedeutung für die Exportproduktion hatten.

Auch die FASE (Federação de Orgãos para Assistência Social e Educacional), eine der größten und ältesten NROs Brasiliens, mit Sitz in Rio de Janeiro, war im ersten Jahr Träger, bis sie im Rahmen einer Reorganisation ihre Präsenz im ländlichen Raum von Pará reduzierte und das Projekt an die FANEP übergab.

Das MPST wurde trotz seiner Bewerbung nicht berücksichtigt.

Die staatlichen Beratungsdienste wurden nicht eingeladen, ihre Dienste im Rahmen des Projektes anzubieten. Sie konnten sich lediglich als Träger in das Projekt integrieren und Fachkräfte mit Zeitverträgen einstellen, jedoch nicht ihre staatlichen Berater anbieten. Von dieser Möglichkeit machten beispielsweise die CEPLAC in Pará sowie die EMATER des Bundesstaates Minas Gerais Gebrauch. Dies unterstrich den Eindruck, daß die Regierung vom Scheitern dieser Dienste ausging und neue Strukturen schaffen wollte. Es blieb jedoch auch Raum für die Interpretation, daß es nur um eine kurzfristige Reaktion in den Gebieten mit dem größten politischen Druck ging, wozu die Lösung, einen Dienst ohne längerfristige Stabilität flexibel anbieten zu können, besser geeignet war als eine "Revitalisierung" der staatlichen Dienste.

193 Das Amtsgebiet der Regionalen Superintendenz SR (01) von INCRA in Belém umfaßt den gesamten Bundesstaat Pará mit Ausnahme des Südens von Pará. Diese Region, zu der unter anderem die Munizipien Marabá, Conceição do Araguaia und São Felix do Xingu gehören, wird von einer speziellen Regionalen Superintendenz SR (27 E) verwaltet. Diese Unterteilung wurde aufgrund der Intensität der Landkonflikte im Süden von Pará vorgenommen.

Der Ansatz sah die Supervisionsequipen als das wichtigste Leitungselement des Lumiar-Projektes an (INCRA 1997,10; INCRA 1998,25). Sie setzten sich aus externen Supervisoren, die von den Universitäten oder den Bauernorganisationen vorgeschlagen wurden, und internen Supervisoren, Mitarbeitern von INCRA, zusammen. Die externen Supervisoren begleiteten 2 Lokalequipen (also insgesamt 8 Berater), während die internen Supervisoren für 4 Equipen verantwortlich waren und daher mit 2 externen Supervisoren zusammenarbeiteten.

Die Supervisoren wählten die Berater aus und waren für deren Training, Anleitung, Begleitung und Evaluierung zuständig. Ihre Aufgabe war auch die Evaluierung der Leistung der Kurzzeitexperten. Darüber hinaus erstellten sie technische Gutachten für die Abteilung der Ansiedlungsgebiete von INCRA und die CEPRO, die Entscheidungsträger auf der Ebene des einzelnen Bundesstaates.

Das Projekt hatte einen partizipativen Ansatz und bot einen klientenorientierten Dienst an, wobei erstmalig für einen Beratungsdienst in Brasilien die Bauernorganisationen auf lokaler, staatlicher und nationaler Ebene als wesentliche Elemente der Projektdurchführung anerkannt und offiziell in das Konzept eingebunden waren.