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Die Föderative Republik Brasilien ist in 27 Bundesstaaten aufgeteilt (siehe Karte 2), deren Autonomie in etwa mit den deutschen Bundesländern zu vergleichen ist. Brasilien hatte im Jahr 2000 eine geschätzte Bevölkerung von 166,1 Millionen Einwohnern, ist mit

45 Oft ist die Arbeit mit Anhängern unterschiedlicher Kirchen schwierig, da sie unterschiedliche Gewohnheiten haben. So müssen Anhänger evangelischer Kirchen Alkohol, Tanz, freizügige Kleidung meiden. Andere Kriterien für die Bildung einer Lokalität können Verwandtschaft, Engagement in der Gewerkschaft, Einfluß einer Führungspersönlichkeit oder Abstammung aus dem gleichen Großraum (Süden, Nordosten Brasiliens) sein.

46 Der Begriff "Region" wird in dieser Arbeit nicht für einen Großraum (Makroregion) gebraucht, bei-spielsweise Westafrika oder Andengebiet (vgl. OKALI et al. 1994,16), sondern stellt eine Einheit von der Art des Einflußgebietes der Transamazônica dar (eine Mikroregion). Ihre Handlungsfähigkeit hängt dabei von der Existenz organisierter Gebilde ab, z.B. einer regionalen Bauernorganisation oder ein effektiver Zusammenschluß der Präfekturen dieses Raumes. Auf den Gebrauch des Begriffes

"Region" für statistische Zwecke (z.B. Region Norden) wird an dieser Stelle hingewiesen, in der weiteren Arbeit wird der Begriff jedoch nur in dem eingangs beschriebenen Sinne benutzt.

47 Der Begriff Munizip wird in dieser Arbeit beibehalten, da ein Munizip sehr groß sein kann (Altamira 130.000 km², Uruará 10.839 km²), mehrere Städte umfassen kann und im allgemeinen dem Präfekten mehr Macht zuweist als in einer Gemeinde in Deutschland (es gibt nur drei hierarchische Stufen in Brasilien).

8.547.403,5 km² 24 mal größer als Deutschland, ist die achtgrößte Wirtschaftsmacht mit einem Bruttosozialprodukt von 558 Mrd. US$, das zu 9,1% von der Landwirtschaft, zu 31,1%

von der Industrie und zu 57,8 von Dienstleistungen erwirtschaftet wird. Das statistische Einkommen pro Kopf und Jahr ergibt 3401 US$ (ALMANAQUE 2001b,139). Das Land exportiert unter anderem Verkehrsflugzeuge in die USA. 26% der Haushalte werden "von Frauen geleitet", wobei es sich vor allem um alleinerziehende Mütter handeln dürfte. Die Lebenserwartung beträgt 68,1 Jahre (ALMANAQUE 2001a,115). Brasilien ist eines der Länder der Welt mit der größten sozialen Ungleichheit, die auf extremer Konzentration von Land und Einkommen basiert.

Die Währung ist seit 1994 der Real, dessen Wert anfangs 1 US$ betrug, heute (April 2002) entspricht 1 R$ etwa 2,28 US$ (oder 0,5 Euro). Die Inflation dürfte in dieser Zeit etwa 100% betragen haben, was in etwa die in dieser Zeit erfolgte Abwertung begleitet (ALMANAQUE 2001a,74; FOLHA DE SÃO PAULO 2002).

Pará ist mit 1.253.164,5 km² der zweitgrößte Bundesstaat (etwa 15% der Fläche Brasiliens oder zweieinhalbfache Größe der Bundesrepublik Deutschland; siehe Karte 3) (ALMANAQUE 2001a,205). Die Bevölkerung beträgt 6,2 Millionen Einwohner.

Karte 3: Bundesstaat Pará

Estado do Amapá

Belém

Rio Amazonas

Rio Xingu Br. 230 (Rodovia

Transamazonica)

Marabá

Estado do Pará

OCEANO ATLANTICO

Ilha do Marajó

Altamira

Quelle: MELLO et al. (2000.)

Meine Einbindung in der Untersuchungsregion war zunächst das Programm Forschung - Ausbildung - Entwicklung (Pesquisa - Formação - Desenvolvimento - PFD), das mit der Gründung des CAT (Centro Agro-Ambiental do Tocantins) begann, einem Versuch, die Arbeit der Universität (UFPA) für die sozialen Bewegungen und speziell die Bauern in der Region Marabá nutzbar zu machen. Führende Persönlichkeit in diesem Prozeß war Jean

Hébette, der das CAT und das Programm leitete. Das CAT setzte sich aus einer Forschungsorganisation, dem LASAT (Laboratório Sócio-Agronômico do Tocantins) und der FATA (Fundação Agrária do Tocantins-Araguaia), einem Zusammenschluß der Bauerngewerkschaften (STR) von vier Munizipen, zusammen (HÉBETTE & NAVEGANTES

2000; REYNAL et al. 1995). Die Erkenntnis, daß diese Entwicklungsprozesse geeignete Fachkräfte erforderten, führte 1991 zur Gründung eines einjährigen interdisziplinären Aufbaukurses für Agrarwissenschaftler in Bäuerlicher Landwirtschaft und Nachhaltiger Entwicklung (DAZ), der später um einen Masterstudiengang erweitert wurde.48 Diese Studiengänge bildeten bereits über 80 Fachkräfte aus, die eine wichtige Rolle in den Organisationen Amazoniens spielen. Die Forderungen der Bauern an der Transamazônica führten zur Gründung eines ähnlichen Laboratório im Rahmen des Programmes, dem LAET in Altamira, mit dem ich assoziiert war. Später trat ich in den Núcleo de Estudos Integrados sobre Agricultura Familiar (NEAF - Fachgebiet für Studien über bäuerliche Landwirtschaft) der Agrarfakultät (CAP - Centro Agropecuário, "Agarforschungszentrum") der UFPA ein.

Inzwischen hatte sich die Konstellation verändert und NEAF stand nun an der Spitze des Programmes PFD mit den assoziierten Equipen von LASAT in Marabá und LAET in Altamira sowie den beiden Studiengängen, denen das Grundstudium in Agrarwissenschaften (Curso de Licenciatura Plena em Ciências Agrárias) in Altamira und Marabá folgte. Die Idee war, Studiengänge, Forschung in der Region und Entwicklungsprozesse auch inhaltlich miteinander zu verknüpfen. Die Bundesuniversität von Pará (UFPA) wird von der brasilianischen Bundesregierung unterhalten und ist mit etwa 25.000 Studenten eine relativ große Universität, die in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts mit der Gründung verschiedener Campi (Santarém, Altamira, Marabá, etc.) einen Teil ihrer Aktivitäten ins Landesinnere von Pará verlagerte.

1.6 Der Aufbau der Arbeit

Die vorliegende Arbeit ist in sechs Kapitel gegliedert. Im ersten Kapitel werden der Anlaß für die Arbeit (Kap. 1.1), das Problem (Kap. 1.2) und das Ziel (Kap. 1.3) der Forschung, die Hypothesen und Forschungsfragen (Kap. 1.4) sowie der Kontext der Untersuchung (Kap. 1.5) vorgestellt.

Das zweite Kapitel behandelt die in der Forschung angewandten Methoden. Zunächst werden die in die engere Wahl eingegangenen Methoden diskutiert (Kap. 2.1), sodann die gewählte Methodenkombination begründet sowie die Datenerhebung und Auswertung präsentiert (Kap.

2.2). Anschließend wird die eigene Rolle in der Untersuchung problematisiert und auf die Vorkehrungen zur Reduzierung möglicher Verzerrungen eingegangen (Kap. 2.3).

Das dritte Kapitel behandelt die in Forschung und Beratung eingesetzten Konzepte. Dazu werden die verschiedenen für Brasilien relevanten Ansätze seit der Gründung des landwirtschaftlichen Beratungsdienstes analysiert (Kap. 3.1), wobei die Literaturanalyse durch eigene Erfahrungen ergänzt wird. Im Anschluß werden die Veränderungen der

48 Mit dem an Entwicklungsorientierter Forschung ausgerichteten Ansatz und einem Praktikum in bäuerlichen Familien im Landesinnern zu vier unterschiedlichen Zeiten des landwirtschaftlichen Jahres (jeweils drei Wochen) brach der Kurs mit der traditionellen Ausbildung in den Agrarwissenschaften. Der Name DAZ war eine Anpassung des ursprünglich an der Université des Antilles e de la Guyane (UAG) entwickelten Konzeptes und bezog sich auf Desenvolvimento (D) und Amazônia (AZ). Den Aufbaukurs habe ich von 1996 bis 1998 geleitet und den Masterstudiengang von 1996 bis 2000.

Konzepte in der Beratung analysiert (Kap. 3.2), wobei zunächst auf die generelle Problematik des Konzeptes und die möglichen Veränderungen, die die Beratung bewirken soll, eingegangen wird. Danach werden drei unterschiedliche Beratungsansätze vorgestellt. Dem Diffusionsmodell als einem Beeinflussungsmodell mit linearer Kommunikation und seiner bekanntesten Version, dem Training and Visit System, werden die Modelle der Beeinflussung mit nicht-linearer Kommunikation gegenübergestellt, die Anregungen durch die Idee des Landwirtschaftlichen Wissenssystem erhielten und in dem partnerzentrierten Beratungsansatz eine klare Ausprägung fand. Als drittes Thema wird die Bedeutung der Erziehung im Veränderungsprozeß behandelt, da ihr in der landwirtschaftlichen Beratung häufig ein hoher Stellenwert beigemessen wird, unter anderem infolge der Arbeit von Paulo Freire. Dieser Abschnitt schließt mit einer ersten Diskussion über das Leitbild und das Rollenverständnis des Beraters ab. Unter dem Thema "Forschung in Verbindung mit entwicklungsorientierten Aktionen" werden Ansätze behandelt, die die Interaktion zwischen Forschern und Bauern in den Vordergrund stellen (Kap. 3.3): die Aktionsforschung, darunter auch die in Lateinamerika zeitweise sehr beachtete pesquisa participante, und die Entwicklungsorientierte Forschung mit ihren verschiedenen Varianten. Anschließend wird unter dem Thema Partizipation und Partnerschaft (Kap. 3.4) die Begründung und das Verständnis von Partizipation behandelt, zwei ausgewählte "Partizipative Ansätze" diskutiert und im Rahmen der Debatte über die Reichweite dieser Ansätze die Partnerschaft als eine spezifische Form der Partizipation eingeführt. Zum Schluß dieses Kapitels wird ein erstes Zwischenergebnis vorgestellt, das auch auf die Frage der Stärkung der Zielgruppe (empowerment) eingeht und die Eignung der Ansätze für ein klientenorientiertes Forschungs- und Beratungssystem diskutiert (Kap. 3.5).

Im vierten Kapitel werden die beiden Fallstudien vorgestellt. Im ersten Fall (Kap. 4.1) wird im Rahmen einer Entwicklungsorientierten Forschung mit Gruppen von Bauern die Möglichkeit der Mechanisierung im Rahmen des Übergangs von der Brachewirtschaft zu einer intensiveren Landwirtschaftsform, mit längerer Nutzung der gleichen Parzelle, und damit der Reduzierung der Abholzung in der Region der Transamazônica (Bundesstaat Pará) untersucht. Diese Arbeit, deren Kern eine Aktionsforschung ist, gibt Einblicke in die Beziehungen zwischen den beteiligten Akteuren und deren Interessen sowie die Einwirkungen aus den "übergeordneten Handlungsebenen". Diese Forschung ist in eine Partnerschaft zwischen einer Forschungsorganisation (LAET) und einer Bauernorganisation (MPST) eingebunden, deren Problematik ebenfalls analysiert wird. Im zweiten Fall wird der Aufbau eines bundesweiten landwirtschaftlichen Beratungsdienstes auf der Ebene des Bundesstaates Pará und die Orientierung von drei interdisziplinären Beratergruppen in der gleichen Region (Transamazônica) analysiert (Kap. 4.2). Die Darstellung der Fallbeispiele erfüllt zwei Aufgaben: neben einem zusammenhängenden Überblick über die beiden Projekte, liefern sie bereits Informationen, die im nächsten Kapitel aufgegriffen werden. Diese Form der Darstellung wird gewählt, um das Verständnis für die Dynamik der beiden Fälle zu erleichtern, das allein durch die isolierte Diskussion einzelner Aspekte unter den verschiedenen Blickwinkeln der Schlüsselelemente nicht herzustellen wäre. Wiederholungen werden jedoch vermieden. So wird ein großer Teil der Fakten erst im folgenden Kapitel beschrieben.

Das fünfte Kapitel ist der Analyse der beiden Fallstudien und der Identifizierung und dem Verstehen von Problemfeldern partizipativer Zusammenarbeit und Partnerschaft gewidmet, die in Form eines an ausgewählten Schlüsselelementen orientierten Dialogs zwischen theoretischen und praktischen Erkenntnissen realisiert wird. Da in den einzelnen thematischen Abschnitten Bezug auf unterschiedliche theoretische Ansätze genommen wird, erfolgt eine ausführlich Erläuterung zu Beginn (Kap. 5.1). Daher werden hier nur kurz die behandelten Elemente genannt: Einstellung, Motivation und Fähigkeit (Kap. 5.2), Bedarf (Kap. 5.3),

Macht (Kap. 5.4), Organisationen (Kap. 5.5), Konflikte (Kap. 5.6), Vertrauen (Kap. 5.7) und Verhandlungen (Kap. 5.8).

Kapitel sechs faßt die in den Fallstudien und dem Dialog zwischen Theorie und Praxis gewonnenen Ergebnisse zusammen. An erster Stelle werden die Erkenntnisse über die Beziehungen und Interaktionen zwischen den verschiedenen Akteuren und der Beitrag zu einem besseren theoretischen und praktischen Verständnis der Partnerschaft behandelt, um eine Antwort auf die aufgestellten Hypothesen und Forschungsfragen zu geben (Kap. 6.1). An zweiter Stelle werden die sich daraus ergebenden Ideen für einen konkreten, auf die Situation im Untersuchungsgebiet abgestimmten Vorschlag vorgestellt (Kap. 6.2).

Wegen der gewählten Vorgehensweise, die Elemente der Partnerschaft in einem Dialog zwischen Theorie und Praxis zu behandeln, war es nicht möglich, die theoretischen Ausführungen an einem Ort zu konzentrieren. Sie wären zu umfangreich geworden und zu sehr losgelöst von der jeweiligen Notwendigkeit gewesen. Daher wird die Theorie dort diskutiert, wo sie gebraucht wird: die Forschungsmethode wird in Kapitel 2 zur Diskussion gestellt, die Ansätze der landwirtschaftlichen Forschung und Beratung und ihr Verhältnis zu Partizipation und Partnerschaft werden in Kapitel 3 behandelt, während die theoretische Auseinandersetzung im Dialog mit den Erfahrungen aus den Fallstudien in jedem einzelnen Abschnitt des Kapitels 5 erfolgt. Zur besseren Einordnung dieser Debatte wird ihr eine Kontextualisierung des theoretischen Hintergrundes vorangestellt (Kap. 5.1). Ich habe mich bemüht Wiederholungen zu vermeiden. Nur im Fall der Aktionsforschung mußte eine kurze Vorstellung bereits bei den Forschungsmethoden erfolgen. Sie sollte aber nicht aus der zusammenhängenden Vorstellung der landwirtschaftlichen Forschungs- und Beratungsansätze herausgelöst werden. Aus diesem Grund wird sie erst zusammen mit den anderen aktionsorientierten Ansätzen in Kapitel 3 ausführlich behandelt.

In dieser Arbeit wird als Darstellungselement häufig der Kasten benutzt. Er wird dort eingesetzt, wo Erläuterungen erfolgen, die sich nicht selbstverständlich in den Lesefluß einordnen. Es kann sich dabei um Definitionen, Exkurse, Beispiele, Daten, Interviews oder Übersichten handeln. Wegen der besseren Lesbarkeit verzichte ich darauf, ausdrücklich zwischen männlichen und weiblichen Formen, beispielsweise Bäuerinnen und Bauern (oder BäuerInnen), zu unterscheiden, wenn eine bestimmte Gruppe von Menschen gemeint sind.

Alle Worte mit männlichen Endungen bezeichnen deren Klasse und nicht das Geschlecht dieser Personen. Wenn nicht ausdrücklich anders erwähnt, stammen die Übersetzungen von fremdsprachigen Publikationen (vgl. Literaturverzeichnis) vom Autor.

2 Forschungsmethode

2.1 Methoden und deren Abgrenzung

2.1.1 Qualitative Sozialforschung

Die Dynamik des sozialen Wandels in der heutigen Gesellschaft erklärt die Feststellung Herbert BLUMERs (1973; zitiert nach: FLICK 1999,10): "Die Ausgangsposition des Sozialwissenschaftlers und des Psychologen ist praktisch immer durch das Fehlen des Vertrautseins mit dem, was tatsächlich in dem für die Studie ausgesuchten Bereich des Lebens geschieht, gekennzeichnet." Die Forschung ist daher in stärkerem Maße auf induktive Vorgehensweisen verwiesen. Für die Untersuchung sozialer Zusammenhänge, in denen neue Phänomene aufgrund rascher Veränderungen auftreten, wie die Erfahrung einer Partnerschaft zwischen Bauern, Beratern, Forschern und ihren Organisationen in einer Region, die erst in den letzten 30 Jahren kolonisiert wurde, ist besonders die qualitative Forschung geeignet, die darauf abzielt, das untersuchte Geschehen zu verstehen.

Die qualitative Sozialforschung entstand als Versuch, eine von den Methoden der Natur-wissenschaften unabhängige eigene Methode zu entwickeln, die den Zielen der Sozialwissenschaften, die Untersuchung menschlicher und sozialer Phänomene, angemessener ist. Physik und andere Naturwissenschaften ließen sich zu diesem Zeitpunkt, dem Ende des 19. Jahrhunderts, von positivistischen Sichtweisen leiten. Es waren vor allem Dilthey und Weber, die das Verstehen der Tatsachen in ihrem jeweiligen Kontext als wesentliches Ziel betonten und daher Ansätze benutzten, die sich mit der Interpretation der Bedeutungen beschäftigten, die die Subjekte ihren Handlungen beimessen. Diese neue Position, die auch als idealistisch und subjektiv bezeichnet werden kann, stellte sich der positivistischen "Weltanschauung" entgegen. Dies führte zu einer Auseinandersetzung zwischen qualitativen und quantitativen Methoden, die von beiden Seiten betrieben wurde und sich bis zum Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts hinzog. ANDRÉ (2000,25; Erstaufl.

1995) hält diese Phase heute für überwunden, aber die Abgrenzung wird von vielen Wissenschaftlern, auch innerhalb der Thematik dieser Arbeit noch als wesentlich empfunden, wie beispielsweise JIGGINS & RÖLING (1997).

Verschiedene Strömungen in der Soziologie wie die Hermeneutik, Phänomenologie, der Symbolische Interaktionismus, die Ethnomethodologie und die Ethnographie49 haben die qualitative Sozialforschung beeinflußt. Während des letzten Jahrhunderts hat es jedoch keine kontinuierliche Entwicklung gegeben, sondern einzelne Disziplinen orientierten sich zeitweise an anderen Paradigmen. Die Erziehungswissenschaften waren zeitweise von der Psychologie dominiert, die sich von Comtes Positivismus leiten ließ, und die Soziologie wurde mehr als 20 Jahre vom Funktionalismus beherrscht, so daß man erst ab den 60er Jahren, ausgelöst vor allem durch die sozialen Bewegungen dieser Epoche, eine Weiterentwicklung der qualitativen Ansätze feststellen kann (ANDRÉ 2000,18.20).

49 Zu den Begriffen siehe LABOURTHE-TOLRA & WARNIER (1997,67-68), die darauf hinweisen, daß die Definition der einzelnen Begriffe mehr durch ihre Entstehungsgeschichte, die von Land zu Land unterschiedlich ist, als durch eine rigorose Axiomatik beeinflußt wurde.

Auch wenn es unterschiedliche Vorstellungen über die qualitative Sozialforschung gibt, scheint eine Ansicht jedoch sehr populär zu sein, nämlich daß es eine Vorgehensweise ist, die keine Zahlen einbezieht. Das "Unbehagen an der unreflektierten Anwendung" (LAMNEK

1995a,1) quantitativer Forschungsmethoden hat sicher dazu beigetragen, daß die qualitative Sozialforschung sich zunächst negativ abgegrenzte: eine kleine Zahl von Untersuchungspersonen; keine echten Stichproben nach dem Zufallsprinzip; keine quantitativen Variablen und keine statistischen Analysen. Für ANDRÉ (2000,24) ist die Tatsache, daß Zahlen verwendet werden (was für manche Untersuchungen sehr wichtig sein kann), nicht ausschlaggebend, um eine Untersuchung der positivistischen Linie zuzuordnen.

Es kommt vielmehr auf die Fragen an, die diesem Instrument gestellt werden, und auf die theoretische Haltung sowie die Werte, auf die der Forscher sich bezieht. Dabei spielt beispielsweise eine Rolle, ob der subjektive Faktor Anerkennung findet und wie die Einbeziehung des Forschers als einer der Akteure beurteilt wird.

Die qualitativen Methoden können auf unterschiedlichen theoretischen Sichtweisen basieren.

Die ethnographische Forschung kann beispielsweise einer strukturalistischen Linie folgen, phänomenologisch orientiert sein oder sich auf die Kritische Theorie oder den Historischen Materialismus beziehen. LAMNEK (1995b,400) sieht die qualitative Sozialforschung als Sammelbezeichnung für Verfahren an, die sich am interpretativen Paradigma orientieren.

ANDRÉ (2000,24-25) hält es nicht für überzeugend, den Begriff quantitative Forschung zu benutzen, um eine positivistische Perspektive zu kennzeichnen. Die Betonung des Gegensatzes zwischen qualitativer und quantitativer Forschung, die in einem bestimmten historischen Moment notwendig war, wird von ihr heute als überholt angesehen, was erlaubt, den Blick auf die wesentlichen Merkmale dieser Forschung zu richten.

FLICK (1999,40) arbeitet folgende Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen theoretischen Positionen heraus: Verstehen als Erkenntnisprinzip (das Geschehen soll von innen heraus verstanden werden); Fallkonstruktion als Ausgangspunkt (zunächst wird am Einzelfall angesetzt); Konstruktion von Wirklichkeit als Grundlage (Wirklichkeit ist nicht vorgegeben, sondern wird von unterschiedlichen Instanzen konstruiert) und Text als empirisches Material (es werden Texte produziert, an denen die eigentlichen empirischen Analysen vorgenommen werden).

Neben der aus der quantitativen Forschung bekannten Vorab-Festlegung der Samplestruktur, die auch der Stichprobenziehung zugrunde liegt, kennt die qualitative Forschung auch die schrittweise Festlegung der Samplestruktur. Diese Vorgehensweise orientiert sich unter anderem an dem von GLASER & STRAUSS (1967; zitiert nach: FLICK 1999,81-82) entwickelten theoretischen Sampling, das den Prozeß der Datensammlung zur Generierung von Theorien bezeichnet, "... wobei der Forscher seine Daten gleichzeitig sammelt, kodiert und analysiert und dabei entscheidet, welche Daten als nächste gesammelt werden sollten und wo sie zu finden sind, um seine Theorie zu entwickeln, während sie emergiert. Dieser Prozeß der Datensammlung wird durch die emergierende Theorie kontrolliert."

Geht man von dem allgemeinen Begriff qualitative Forschung ab, so findet man in der Literatur folgende als qualitativ einstufbare Methoden: Einzelfallstudie, qualitative Methoden der Befragung (wie qualitatives Interview, Intensivinterview), Gruppendiskussion, Inhaltsanalyse, teilnehmende Beobachtung, qualitatives Experiment, biographische Methode, Ethnographie und Aktionsforschung (ANDRÉ 2000; DIEKMANN 1996; LAMNEK 1995b). FLICK

(1999) unterscheidet zwischen verbaler Datenerfassung, wie Interviews, und visueller Datenbeschaffung, wie (teilnehmende) Beobachtung, Ethnographie, Photo- und Filmanalyse.

Die Auswahl der Methoden divergiert jedoch sehr stark zwischen den Autoren. Die Weiterentwicklung der qualitativen Methoden hat zur Zunahme ihrer Anwendung geführt.

Im weiteren sollen nun die Methoden näher betrachtet werden, die für die beabsichtigte Untersuchung in Frage kommen. Für die Auswahl waren folgende Überlegungen maßgebend:

die Untersuchung nahm ihren Ausgang bei der Beobachtung sozialer Phänomene in einem spezifischen Zusammenhang, wobei der Beobachter nicht nur Teilnehmer, sondern

"gestaltender Akteur"50 war. Daher ist der Versuch notwendig, die Verzerrungen zu kontrollieren, die durch die Person des Beobachters als zentralem Instrument der Datenerfassung hervorgerufen und durch seine gestaltende Rolle noch verstärkt wurden.

2.1.2 Teilnehmende Beobachtung

Die teilnehmende Beobachtung wird angewandt, wenn der Forscher Aussagen über ein soziales Feld machen will, das er weder aus eigener Erfahrung, noch aus der Literatur genügend kennt, um relevante Hypothesen aufstellen zu können. Sie wird vor allem dort eingesetzt, wo es um ansonsten schwer zugängliche soziale Felder geht und / oder Neuland betreten wird (LAMNEK 1995b,313; 243). Die Beobachtung wird als teilnehmend bezeichnet, wenn zwischen dem Forscher und der untersuchten Situation ein gewisser Grad von Interaktion besteht, die sowohl die Situation als auch ihn selbst beeinflußt.

Die teilnehmende Beobachtung ist daran interessiert, eine weitgehende Innenperspektive auf das Feld bei gleichzeitiger Systematisierung des Fremdenstatus zu gewinnen. Letztere ermöglicht erst den Blick auf das Besondere im Alltäglichen (FLICK 1999,161). Wer daher nicht nur Teilnehmer sein will, sondern Erkenntnisse über Zusammenhänge gewinnen will, muß die Distanz des "professionellen Fremden" beibehalten. So betont KOEPPING (1987;

zitiert nach: FLICK 1999,161), daß der Forscher für die teilnehmende Beobachtung "... als soziale Figur genau die Eigenschaften besitzen muß, die Simmel für den Fremden herausgearbeitet hat: Er muß in sich selbst beide Funktionen, die des Engagiertseins und der Distanz, dialektisch verschmelzen können."

Unbestritten ist in der quantitativen wie in der qualitativen Sozialforschung, daß es darum geht, ein möglichst wenig von der Subjektivität des Betrachters verzerrtes Bild der sozialen Wirklichkeit zu zeichnen. Dies ist jedoch weder bei quantitativer noch bei qualitativer Sozialforschung völlig zu erreichen. Sind es in der quantitativen Forschung die theoretischen Raster des Forschers, die sich in den Erhebungsinstrumenten widerspiegeln, so ist es in der qualitativen Forschung, besonders bei der teilnehmenden Beobachtung, der Forscher selbst in seiner Rolle als Erhebungsinstrument. Einerseits besteht in der quantifizierenden Forschung die Gefahr, daß der Forscher das Forschungsobjekt nach seinen eigenen theoretischen Kategorien strukturiert, er also nicht in der Lage ist, den Sinn der Handelnden aufzunehmen,

Unbestritten ist in der quantitativen wie in der qualitativen Sozialforschung, daß es darum geht, ein möglichst wenig von der Subjektivität des Betrachters verzerrtes Bild der sozialen Wirklichkeit zu zeichnen. Dies ist jedoch weder bei quantitativer noch bei qualitativer Sozialforschung völlig zu erreichen. Sind es in der quantitativen Forschung die theoretischen Raster des Forschers, die sich in den Erhebungsinstrumenten widerspiegeln, so ist es in der qualitativen Forschung, besonders bei der teilnehmenden Beobachtung, der Forscher selbst in seiner Rolle als Erhebungsinstrument. Einerseits besteht in der quantifizierenden Forschung die Gefahr, daß der Forscher das Forschungsobjekt nach seinen eigenen theoretischen Kategorien strukturiert, er also nicht in der Lage ist, den Sinn der Handelnden aufzunehmen,