• Keine Ergebnisse gefunden

5.5 Organisationen

5.5.1 Die Dynamik der Organisation

FRIEDBERG (1995a,375) definiert Organisation in einfacher Weise als "... menschliche Einheiten, die formalisiert und hierarchisiert sind mit dem Ziel, die Zusammenarbeit und die Koordination ihrer Mitglieder beim Erfüllen bestimmter Zielsetzungen zu sichern." Zwischen formalen Organisationen und kollektiven, diffuseren Handlungsstrukturen sieht er lediglich graduelle und nicht grundsätzliche Unterschiede, so daß Organisationen als "konkrete Handlungssysteme" (FRIEDBERG 1995a,406), oder vielleicht besser "kollektive Handlungssysteme" identifiziert werden können. Mit diesem Organisationsbegriff ist es möglich, die Handlungen so unterschiedlicher Akteure wie Institutionen267 mit definierten Paradigmen, Zielen, Ansätzen und Aufgaben (z.B. Landwirtschaftliche Forschungs- und Beratungsinstitute), Institutionen, die Wahlverfahren unterworfen sind (z.B. Präfekturen),

267 Der Begriff Institution bedeutet (öffentliche, staatliche oder kirchliche) Einrichtung (z.B. Parlament, Behörde, Stiftung, Gesellschaft). Er wird in dieser Arbeit vorwiegend in diesem Sinne benutzt, z.B.

für eine formale Organisation mit staatlichem Einfluß, z.B. ein Agrarforschungsinstitut.

WOHLGEMUTH (1991,35) weist auf die Problematik hin, für sozio-technische Systeme, die Organisation genannt werden, den Begriff "Institution" zu verwenden, da er auch für kulturelle Einrichtungen wie Ehe und Eigentum gebraucht wird.

repräsentative und informelle Organisationen der Bauern (z.B. Gewerkschaften und Assoziationen), und informellen Interessengruppen zu erklären.

Angesichts der Problematik einer Klassifizierung von Organisationen, hält FRIEDBERG

(1995a,375-377) ein solches Instrumentarium nicht für sinnvoll, sondern hebt stattdessen das gemeinsame Problem aller Organisationen als kollektive Handlungsstrukturen hervor, ihr Überleben als organisierte Einheiten zu sichern. Dies setzt immer die Organisation des Verhaltens einer gewissen Anzahl von Akteuren voraus, deren Zusammenarbeit unerläßlich ist, die aber einen Grad an Autonomie beibehalten, der ihnen erlaubt, Interessen zu verfolgen, die nicht unbedingt konvergent sind. Entscheidende Punkte sind dabei die Verhaltensweisen der Akteure, das Problem, trotz unterschiedlicher Zielsetzungen dieser Akteure zu dem erforderlichen Minimum an Zusammenarbeit mit der notwendigen Vorhersehbarkeit zu gelangen, das Verhältnis der Organisation zu ihrem Umfeld, was die Interaktionen interner und externer Akteure über die Organisationsgrenzen einbezieht, und schließlich die Organisationseffekte, die aufgrund der Autonomie des Organisationsgebildes auf die Umgebung wirken.

CROZIER & FRIEDBERG (1993,25) führen das Phänomen der Freiheit der Akteure in die Organisationsanalyse ein. Entgegen den sogar unter Managern und Politikern verbreiteten Illusionen, ist das menschliche Verhalten nicht ein mechanisches Produkt des Gehorsams oder des Drucks struktureller Bedingungen. Es ist immer der Ausdruck und die Verwirklichung einer, selbst (noch so) geringen, Freiheit. Die Vorstellung von einer utilitaristischen oder "strategischen" Rationalität des Verhaltens transformiert die Organisation zu einem Ort der Berechnung, des Feilschens, der Macht und der Einflußnahme.

Sie kann aber keineswegs einfach als Unterdrückungsinstrument verstanden werden (CROZIER

& FRIEDBERG 1993,27).

Die Vorstellung, daß das Handeln der Organisation das Produkt individueller Aktionen seiner Mitglieder sei, ist relativ neu. In der klassischen Organisationstheorie stellte das menschliche Verhalten kein Problem dar, da es als vollkommen vorhersehbar angesehen wurde, wie in dem Taylorschen Modell einer Maschine, deren Räder aufgrund einer einzigen Rationalität angetrieben werden. Die Organisation wurde als eine geschlossene, kohärente und völlig strukturierte Einheit betrachtet, mit einer unterscheidbaren Grenze zwischen innen und außen.

Die Komplexität des menschlichen Verhaltens wurde erst mit den Experimenten in den Fabriken der Western Electric in Hawthorne268 Gegenstand von Untersuchungen (FRIEDBERG

1995a,378-384). Eine erste Öffnung des Organisationsbegriffes ist auf BENNIS (1966269; zitiert nach: FRIEDBERG 1995a,378) zurückzuführen, der mit der Erweiterung der Vorstellungen über Motivation dem Individuum ein Minimum an Autonomie zurückgab und begann, ihn als einen komplexen und relativ unvorhersehbaren Agenten anzusehen ("komplexer Mensch"). Es wurde auch die Bedeutung der Gefühle offensichtlich, der affektiven und psychischen Faktoren, um das Verhalten der Menschen innerhalb der Organisationen zu verstehen. Ein anderer Weg öffnete sich durch die Arbeiten von SIMON270

über Entscheidungsfindung, die dazu führten, das klassische Modell der "allwissenden"

Rationalität durch das empirische Modell der begrenzten Rationalität zu ersetzen, das die drei Prämissen des früheren Modells in Frage stellte: das Vorliegen vollkommener Information sowie die Fähigkeit, diese zu verarbeiten, die Suche nach der optimalen Lösung aus den vorhandenen Möglichkeiten und die klare Vorstellung der eigenen Präferenzen. Anstatt diese

268 Siehe auch Kap. 3.3.1.

269 BENNIS, W. 1966: Changing Organzations. McGraw-Hill, New York.

270 Unter anderen: SIMON, H.A. 1955: A Behavioural Model of Rational Choice. Quarterly Journal of Economics, v.69, 99-118. MARCH, J.G.; SIMON, H.A. 1958: Organizations. Wiley, New York.

Defizite zu bedauern, versuchte man nun besser zu verstehen, welche kontextualen Bedingungen die Entscheidung beeinflussen. So stellte man fest, daß die "Charakteristika, Regeln, Machtgleichgewichte und Allianzsysteme die Wahrnehmung und, folglich, die Rationalität derjenigen, die eine Entscheidung treffen, konditionieren" (FRIEDBERG

1995a,382). Mit dem Rückgriff auf Festingers Schlußfolgerungen über "Kognitive Dissonanz" (FESTINGER 1957; zitiert nach: FRIEDBERG 1995a,382) gewinnt nun die Ansicht an Bedeutung, daß die Präferenzen im Entscheidungsmoment nicht genau, kohärent und eindeutig, sondern vielfältig, flüchtig, zweifelhaft und widersprüchlich sind. Man geht von einer kontingenten und opportunistischen Natur des menschlichen Verhaltens aus, das Ergebnis des Drucks und der Möglichkeiten ist, die sich dem Individuum im Handlungskontext anbieten und zusammen mit den Erfahrungen der Vergangenheit das Verhalten des Individuums prägen (FRIEDBERG 1995a,383).

Kasten 19: Hand, Herz und Kopf - die Organisation aus der Sicht von Crozier

"In einer früheren Arbeit haben wir die Tatsache unterstrichen, daß der Mensch in einer Organisation weder nur als Hand betrachtet werden kann, wie dies das Taylorsche Organisationsschema implizit voraussetzt, noch lediglich als Hand und Herz, wie es die Fürsprecher der Human-Relations-Bewegung fordern. Wir haben betont, daß beide vergessen, daß der Mensch auch und vor allem Kopf, das heißt, Freiheit ist, oder in konkreteren Worten, daß er ein autonom Handelnder ist, der berechnen und manipulieren kann und sich den Umständen und Bewegungen seiner Gegenspieler erfinderisch anpaßt." (CROZIER 1994271; zitiert nach: CROZIER & FRIEDBERG 1993,27).

Der Ansatz von CROZIER & FRIEDBERG (1993,57) stellt die Existenz gemeinsamer Ziele der Organisation in Frage. Es können Ziele existieren, die von einem Teil der Mitglieder geteilt werden, aber völlige Übereinstimmung kann es nicht geben, da jeder Akteur eine verzerrte Sicht der Ziele aufgrund seiner Funktion in der Organisation hat und sein Ziel als vorrangig betrachtet, um Vorteile daraus zu ziehen, was aufgrund begrenzter Ressourcen und Möglichkeiten die Individuen und Gruppen in Konkurrenz um ihre Verteilung bringt.

Innerhalb der Organisation können sich Gruppen bilden, die über gemeinsame Handlungsmöglichkeiten (Trümpfe) und Interaktionsfähigkeiten verfügen, wobei einige Gruppen als strategisch, andere wiederum als apathisch angesehen werden können, je nach ihrem Einfluß im Organisationsleben (CROZIER & FRIEDBERG 1993,30). Der Zwang, die Kohärenz und die Integration der Gesamtheit bleiben unsicher und schwach, so daß man sich

"organisierte Anarchien" (COHEN, MARCH & OLSEN 1972) oder "Systeme mit schwacher Bindung" (loosely coupled systems, WEICK, 1976; beide zitiert nach: FRIEDBERG 1995a,387) vorstellt. Wenn also weder Ziele, noch Rationalität jenseits der Individuen und Gruppen existieren, und die Organisation ein Ort der Konflikte ist, wird ihre Existenz als Rahmen kollektiver Handlungen unsicher und problematisch. Angesichts dieser Situation bedarf es einer Antwort auf die Frage, wie es denn nun die Organisation schafft, sich am Leben zu erhalten, weiterzuentwickeln und gemeinsame Interessen beizubehalten.

Die Einführung des Spielbegriffs, der Freiheit und Zwang zu vereinen erlaubt, vermeidet das Scheitern verschiedener Modelle der Organisationsanalyse, die von isolierten Akteuren ausgehen, die über eine unbegrenzte Freiheit und Rationalität verfügen und als souveräne Personen die Bedingungen der Kooperation ohne irgendeinen Zwang aushandeln (CROZIER &

271 CROZIER, M. 1994: Le phénoméne bureaucratique. Ed. du Seuil, Paris, p.202.

FRIEDBERG 1993,32, 68). "Die Behauptung, daß es sich um Spiele handelt, impliziert also keinesfalls weder irgendeine Ausgangsgleichheit unter den Spielern noch irgendeinen Konsens über die Spielregeln selbst." (CROZIER & FRIEDBERG 1993,69). Das Spiel als Instrument kollektiven Handelns kann als ein grundlegender Mechanismus verstanden werden, um die Machtbeziehungen und das kollektive Handeln zu strukturieren und so die Zusammenarbeit zu ermöglichen. Um das Spiel fortsetzen zu können, muß jeder Teilnehmer, zumindest auf kurze Sicht, die geltenden Regeln der Organisationsspiele berücksichtigen, und somit, ob er will oder nicht, zur Verwirklichung der Ziele der Gesamtheit beitragen. Das gemeinsame Interesse ist die Fortsetzung der Beziehung (FRIEDBERG 1995a,390). Wer sich in dieser Arena272 beziehungsweise in diesem (strukturierten) Netzwerk von Machtbeziehungen in einer günstigen Position befindet, kann eine Reihe von Vorteilen erlangen, aber er kann sie nur weiter ausnutzen, wenn die Organisation ebenfalls, wenigstens teilweise, den Erwartungen der übrigen entspricht, da diese sich sonst entfernen werden.

In ihrer Beziehung mit dem sozio-ökonomischen Kontext interessiert vor allem, wie es der Organisation gelingt, auf externe Anforderungen zu reagieren. Dies wirft die Fragen nach der Organisationsgrenze und der Beziehung der Organisation zu ihrer Umwelt auf. Viele Arbeiten zeigen, daß Organisationen mit sehr unterschiedlichen Strukturen, auch im gleichen Kontext, gleichermaßen erfolgreich sind. Andere überleben auf einem "suboptimalen" Niveau, ohne aber eliminiert zu werden. Diese Tatsachen relativieren die Versuche, die richtige Organisation zu identifizieren (FRIEDBERG 1995a,394). Verschiedene Autoren sehen die Organisationen als aktiv an, bemüht die Abhängigkeit von ihrer Umwelt zu verringern und die Ungewißheiten im Umfeld ihrer Aktivitäten zu kontrollieren. Dieses Verhalten wird aber nicht nur an der Spitze der Organisation entschieden, sondern ist vielmehr Resultat der Wahrnehmung aller Individuen und Gruppen, aus denen sie sich zusammensetzt, sowie ihrer Weise, mit den Möglichkeiten und Einschränkungen umzugehen. Der Kontext ist auch von den Organisationsangehörigen beeinflußt, die Tausch- und Machtbeziehungen mit einer beschränkten Zahl von "Intermediären (Personen)" unterhalten. Dies öffnet ein Feld von interorganisatorischen Beziehungen (FRIEDBERG 1995a,395-396).

Die hier vorgestellte Sichtweise relativiert auch die übersteigerte Rolle, die man den Führungspersönlichkeiten zuschreibt. Um deren Situation zu verstehen, muß man wissen, was ihre Trümpfe sind, welche Machtzone sie kontrollieren und wie sie die Organisation leiten.

Sie kontrollieren mehr als die anderen die Kontinuität des Ganzen und damit die Stabilität und die Regeln des Spiels, die die Spielkapazität der anderen Mitglieder bestimmen - und genau dies erwartet man auch von ihnen. Sie sind die "Croupiers" im Kasino, die die Einsätze verteilen und das Roulette in Bewegung setzen. Alle müssen gegen sie spielen - und mit ihnen. Sie versuchen, ihre Trümpfe auszunutzen, um die Spiele im Sinne ihrer Ziele oder auch der Ziele der Organisation zu gestalten. Der Erfolg des Ganzen, gut sichtbar und meßbar, hängt von ihrer Leistung ab, was einen Zwang erzeugt, Erfolg aufzuweisen. Die Vorgesetzten haben außerdem die Möglichkeit, die Informationen und die Politik der Förderung von Untergebenen zu beeinflussen. Aber ihre Möglichkeiten sind begrenzt. Sie können beispielsweise nicht die Informationen allzusehr manipulieren oder zurückhalten, wenn sie nicht an Glaubwürdigkeit verlieren wollen, da die Informationen damit auch ihre Bedeutung verlieren, und sie können auch nicht die Spiele radikal verändern, außer in Krisenmomenten.

So verlaufen die Spiele unter den bereits vorher bestehenden Bedingungen und alles ist bereits durch die vorangegangenen Spiele und die angesammelte Erfahrung der Spieler vermittelt (CROZIER & FRIEDBERG 1993,73-75).

272 Ich brauche Ausdrücke wie Arena oder Feld unabhängig von den Implikationen, die die Übernahme der Theorien, in denen diese Begriffe eine "Aufwertung" erfahren haben, wie z.B. Feld bei Bourdieu, Arena bei Giddens, etc.

Die Kritik an der von Crozier geprägten "französischen Schule der Organisationssoziologie", wird vor allem an der Sichtweise der Organisation als kollektive Handlungssysteme geübt, die den Anforderungen an eine Unternehmenssoziologie nicht gerecht würde (vgl. LAFAYE

1996,71). Das Unternehmen findet keine angemessene Rolle als Akteur, der die Spiele strukturiert. Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, daß die Arbeiten von Crozier vor allem die öffentliche Verwaltung betreffen. Für die vorliegende Arbeit ist jedoch dieser Ansatz ausreichend. Die in den Fallstudien behandelten Organisationen zeichnen sich durch relativ "lose" institutionelle Verpflichtungen aus. Selbst in einer "rigiden" hierarchischen Organisation wie der CEPLAC führen der Arbeitsbereich (Forschung, Beratung) mit schwer zu kontrollierendem "Produkt" und vor allem die Tatsache, daß die Mitarbeiter Beamte sind, die Organisation also nicht die zentrale Unsicherheitszone kontrolliert, in der es darum geht, ob die Spieler weiterspielen dürfen oder ausgeschlossen werden, zu einer gewisse

"Lockerheit". Es handelt sich bei den Organisationen im Umfeld der Fallstudie nicht um Privatunternehmen mit materieller Produktion.

Eine Vertiefung der in dieser Arbeit angeschnittenen Themen in Richtung auf eine Verbesserung der Identifikation der Mitarbeiter mit den Zielen oder in Richtung auf eine Reorganisation von Organisationen, wie beispielsweise die staatlichen Beratungsdienste, müßte die Thematik der Unternehmenskultur vertiefen. Auch die Unterschiede zwischen den organisierten Akteuren des Wissenssystems müßten deutlicher herausgearbeitet werden, um der Funktionsweise eines staatlichen Forschungsinstitutes, einer Universität, einer Kooperative von Beratern oder einer repräsentativen Bauernorganisation gerecht zu werden.