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5 Die Konstitution des Alters: Der lange Weg der alten Weisen über die soziale

7.4 Zusammenfassung oder die Macht der Ohnmacht

Seit Beginn der Achtzigerjahre erschien eine ganze Reihe von Publikationen, die bereits in den Titeln widerspiegeln, dass die Alten heiter, aber sehr bestimmt auf Alterszuschreibungen verzichten und durchschaute Fremdbilder nicht mehr unkritisch übernehmen. Eine kleine Auswahl bezeichnender Titel sind: „Nicht so wie unsere Eltern!“ (Zoll), „Störfall Alter – Für ein Recht auf Eigen-Sinn“ (Schachtner), „Die späte Freiheit“ (Rosenmayr), „Wenn alles in Scherben fällt“ (Rosenthal), „Vabrühte Milch und Langeweile? Wenn Ehen älter werden“

(Fülgraff), „Ausgedient?!“ (Backes), „Der weise Leicht-Sinn“ (Aliti), „Die Alten kommen“

(Hug). Nicht vergessen werden darf auch das populärwissenschaftliche Sachbuch von Betty Friedan, dessen Titel „Mythos Alter“ kurz und bündig den herrschenden Altersbegriff in den Bereich irrationaler, legendärer Überlieferungen verweist, mit denen die Autorin betroffen und engagiert aufräumt. Ohne großes Lamento, doch dezidiert setzen sich ältere Menschen mit ihrer Situation auseinander. Mit dem Bild der Kranken, Schwachen, Armen haben sie auf-geräumt – gegen dieses Image braucht niemand mehr zu kämpfen.

Doch von einem Bild des potenten Alters ist man nach wie vor weit entfernt. Ein Vergleich der geschichtlichen und modernen „Machtmittel“ mag das verdeutlichen: Was ist geblieben von der Macht der Alten in der Antike? Was von der der Alten in der Barockzeit?

Die Finanzmacht wurde zur Kaufkraft, die soziale Macht zur freizeitindustriellen Marktkraft, die politische Macht zum Wählerpotential, die antike überlegene Macht der Weisheit zur Denksportkompetenz in der Sparte Lebenssinn. Marktmacht und Kaufkraft, Wählerpotential und Reflektionsfähigkeit – Mächte, die die Gesellschaft den Alten gerne lässt, müssen sie doch nur in die richtigen Bahnen gelenkt und die Nützlichkeit für die Gesellschaft gesichert werden. Zwar war Macht auch in der Geschichte noch nie „an sich“ vorhanden, Macht

exis-tierte nur, wenn ihre (Macht-)Mittel als solche erkannt und anerkannt wurden (vgl. Abschnitt 5.3), sonst war sie nichtig. Der moderne Umgang mit der Macht der Alten jedoch zeigt noch eine dritte, andere Art des Umganges: Macht wird interpretiert zugunsten des gesellschaftlich Wünschenswerten oder Erforderlichen. Die Machtpotentiale des Alters werden instrumentali-siert für die Interessen der Gesellschaft, funktionaliinstrumentali-siert zum Nutzen des Staate – marktwirt-schaftlich, ethisch und sozial („Auch die eigenen Familien können von den Alten profitieren“

schreibt wörtlich „DIE ZEIT“ im bereits zitierten Dossier).

Natürlich kann und darf und wird das, was Alte (nach und außerhalb ihrer Erwerbstätigkeit) denken, wollen und tun, gesellschaftlich wünschenswert und nützlich sein. Das ist nicht das Problem. Die Problematik besteht vielmehr in der Abstraktheit der Nützlichkeitserwartung, die den sozialen Definitions- und Sanktionsmächten die jeweilige Inhaltsbestimmung über-lässt bzw. überträgt in der teils expliziten, teils kryptonormativen Fremdbestimmung dessen, worin eine sinnvolle Existenz oder Betätigung im Alter bestehe.

Auf solche Art funktionalisierter (Konsum-, Markt-, Geistes-)Macht zu verzichten, fällt leicht.

Mit „weisem Leicht-Sinn“ entziehen sich die Alten zunehmend den scheinbaren Machtzu-schreibungen von außen, auch wenn sie damit auf das Unverständnis der Anbieter stoßen:

„Wer Seniorenteller serviert, hat bei den Kukidents schon verloren“. Dieser oben bereits zi-tierte Titel aus „DIE ZEIT“ zeigt in schöner Selbstentlarvung den Unwillen über das „eigen-tümliche“, ja „undankbare“ Verhalten der Alten gegenüber dem Bemühen der Produzenten und Verteiler materieller und nicht-materieller Senioren-Sinn-Angebote.

Macht hat an sich keinen Wert, wurde festgestellt – dieser ist allein abhängig von der Inhaltsbestimmung und Be-Deutung durch die Umwelt. Mit dem Verzicht auf die Machtbeschreibung und Machtzuschreibung durch die Umwelt hat das Alter sich „e-manzipiert“, sich freigemacht von vorgegebenen Denk-, Deutungs- und Verhaltensnor-men. Das Bekenntnis zu einer solchen Art der Ohn-Macht ist zugleich ein Fazit, eine Bi-lanz, ein Schlussstrich: Die Zuschreibungen von Außen, die Angebote zur Identifikation und Sinngebung haben nicht geholfen in der Bewältigung von Lebenskrisen, von Selbst-vergewisserung in pluralen Orientierungsangeboten. Die in der Tendenz deutliche Ver-zichtserklärung auf Funktionszuweisungen stellt eine Willenserklärung dar zur eigenen Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit, zur selbstbestimmten Deutung und Gestaltung der eigenen Alterswirklichkeit.

Unter diesem und nur unter diesem Gesichtspunkt sind auch die Ergebnisse einer Untersu-chung über die Bedürfnisstrukturen älterer Menschen des Deutschen Zentrums für Alternsfor-schung (DZFA) in Heidelberg verständlich: Bei einer Rangplatzverteilung unterschiedlicher Bedürfnisse erreicht das Bedürfnis nach Selbstbestimmung den 2. Rangplatz (nach der Ge-sundheit, die als sine qua non für die Befriedigung aller anderen Bedürfnisse gilt und entspre-chend den ersten Rangplatz einnimmt). Das Bedürfnis nach Prestige/ Macht jedoch rutscht einhellig auf den zehnten, damit letzten möglichen Platz. Was vordergründig widersprüchlich sein könnte, klärt sich mit den Vermutungen der Forschergruppe: Es könnte Ausdruck dafür sein, dass Macht und Prestige „nicht als erstrebenswert gelten, bzw. ... mit zunehmendem Al-ter an Bedeutung verliert“ (DZFA 1997: 38). Das primär dominierende Bedürfnis nach Selbstbestimmung signalisiert dagegen, dass ältere Menschen hierin die Chance sehen, zur Entwicklung einer „eigenen Alterskultur, die Wert und Sinn jenseits der Leistungs-gesellschaft stiften könnte“ (Pauli 1997: 10). Dahinter steht das Recht, davor liegt die Aufgabe der individuellen Sinnerfüllung des Alters und der Selbstgestaltung der Bio-grafie – ausgehend von der Erkenntnis des alten Menschen, nicht Objekt, sondern Sub-jekt seiner persönlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung zu sein.

8 Entwicklung kulturrelevanter Kompetenzen im Alter

Wandte man den Begriff der Kompetenz gemeinhin im Bereich der „vita activa“ an für eine positive Leistungsfähigkeit, ein gutes Leistungsvermögen, im speziellen für eine fachlich be-sondere Zuständigkeit aufgrund herausragender Qualifikationen im Arbeitsbereich, so wan-delte sich dies Anfang der sechziger Jahre, festigte sich in den achtziger Jahren, als man den nicht-arbeitsaktiven Gruppen zunächst der Kinder, später der Alten mit dem Begriff der Kom-petenz eine Leistungsfähigkeit außerhalb des Arbeitsbereiches zuzuschreiben vermochte. Zu-nächst motiviert über eine Kritik am allein auf Intelligenztests aufbauenden psychometrischen Intelligenzmodell, das vorwiegend allgemeine, vom erworbenen und erfahrenen Wissen zu-meist unabhängige Denkfähigkeit abfragt, und deren Bewertungsmaßstäben so nur eine be-grenzte Fähigkeitsbeschreibung von Alten und Jungen zuließ, suchte man nach Komponenten einer Beurteilungsmöglichkeit außerhalb einer Leistungsmessung nach testnormgeprägten Wissensstandards. Im dafür übernommenen Begriff der Kompetenz waren soziale, kognitive, affektive und motivationale Komponenten enthalten, er bezog sich in erster Linie auf die Fä-higkeit und Bereitschaft, erforderliche Alltagsaktivitäten unabhängig und selbstständig auszu-führen, den Lebensalltag zu strukturieren und zu organisieren und zielorientiert, planungseffi-zient und ausdauernd einen Lebensstil zu entwickeln und aufrecht zu erhalten. Im weiteren zielte der Begriff dann auf die Fähigkeit, seine sozialen Rollen und Beziehungen selbststän-dig, eigenverantwortlich und unabhängig zu leben. Später wurden aufgrund des Faktors der

„Lebenszufriedenheit“ insbesondere im Altenbereich die emotionalen und die motivationalen Komponenten des Kompetenzverständnis stärker beachtet (vgl. Thomae 1983, Kruse 1996), worunter u.a. die „bewusste und verantwortliche Auseinandersetzung mit Grenzsituationen“

und die „erlebte Mitverantwortung für andere Menschen“ zu fassen ist (Kruse 1996: 306, 312).

Der Grad konzeptualisierter, zugeschriebener oder postulierter Kompetenz ist immer das Er-gebnis eines Bewertungsprozesses durch die Umwelt, die Umgebung – so sind auch in den wissenschaftlichen Untersuchungen je nach vorgegebenen Kriterien die Aussagen zu „hoher“

oder „niedriger“ Kompetenz bei gleichen Items sehr unterschiedlich. Auch die Gewichtung der einzelnen Kompetenzelemente mag die Entscheidungsabhängigkeit und Relativität des Kompetenzbegriffes verdeutlichen – einerseits fließen „kognitive Maße wie Intelligenz oder psychomotorische Fähigkeiten“ in die Beurteilung ein, andererseits sind es „Persönlichkeits-maße wie Aktivität, Angepasstheit oder Steuerung, schließlich Ausmaß und Art der aktiven Auseinandersetzung mit Belastungssituationen und Teilnahme an sozialen Rollen“ (Thomae et al. 1987: 10) – es können je nach Stichprobengrundlage die gleichen Personen einmal als

„von niedriger sozialer Kompetenz“ (nach Intelligenz, Anregbarkeit, Aktivität) gelten, ein an-deres Mal als „hoch kompetent“ (nach der eigenständigen Lebensbewältigung) und umge-kehrt. Der Begriff der Alltagskompetenz ist vielschichtig und diffus, weil es keine objektiven und allgemein anerkannten Kriterien für Alltagskompetenz gibt.

M. Baltes et al. entwickelten aus der Multidimensionalität des Begriffes ein Zweikomponen-tenmodell, das unterscheidet zwischen einer basalen Kompetenz, die hochautomatisiert, routi-nemäßig abläuft und für das tägliche Überleben notwendig ist und einer erweiterten Kompe-tenz, deren Aktivitäten individuellen Präferenzen, Motiven, Fähigkeiten und Interessen ent-springen. Die basale Kompetenz wäre demnach in dem Sinne „biologisch“, also vitalitätsab-hängig determiniert, als dass sie von Gesundheitsfaktoren bestimmt wird, während die erwei-terte Kompetenz vorrangig von psychosozialen Faktoren abhängig ist. „Dabei setzt sich kon-sistent zu anderen Forschungsarbeiten ... die basale Kompetenz aus Selbstpflegeaktivitäten (waschen, anziehen usw.) sowie den ‚einfachen’ instrumentellen Aktivitäten wie Einkaufen und Benutzen von Verkehrsmitteln zusammen; die erweiterte Kompetenz bezieht sich hinge-gen auf komplexe instrumentelle sowie soziale Freizeitaktivitäten“ (M. Baltes et al. 1999:

527). Im Rahmen der Berliner Altersstudie verlegte man sich nicht zum wiederholten Male

auf eine Untersuchung gradueller Abstufungen innerhalb eines isolierten Bereiches, sondern verfolgte im interdisziplinären Ansatz den Zusammenhang und die vermutete Abhängigkeit der erweiterten von der basalen Kompetenz. Tatsächlich lassen die Ergebnisse der Berliner Forschergruppe als Ergebnis eine enge Vernetzung der beiden Bereiche zu: „Sozioökonomi-scher Status, Alter und körperliche Gesundheit spielen eine wichtige Rolle bei der Alterskom-petenz, werden aber durch Variablen wie Intelligenz, Persönlichkeit und sensomotorische Funktionsfähigkeit moderiert“. Offensichtlich sind es die Aktivitäten im Bereich der er-weiterten Kompetenz, die einen positiven Einfluss auf die der basalen Kompetenz aus-üben – und nicht, wie zunächst vermutet, umgekehrt. Dennoch ist das Vorhandensein von basaler Kompetenz eine „zwar keineswegs ausreichende, wohl aber notwendige Bedingung für Kompetenz im Sozial- und Freizeitbereich“ (M.M. Baltes 1999: 540). Durch die Ein-schränkung „wohl aber“ wird deutlich, dass Untersuchungen zu einem gesicherten Nachweis fehlen; die „notwendige Bedingung“ liegt noch im Rahmen der Vermutungen: „Ein fundiertes Wissen über das genaue Zusammenspiel zwischen den beiden Kompetenzbereichen selbst und deren Veränderungen im Alternsverlauf kann jedoch nur aufgrund einer Längsschnittstu-die überprüft werden“ (a.a.O. S. 540). So bleibt letztlich Längsschnittstu-die Vermutung eines primären Rang-platzes für die basale Kompetenz im Bereich der vorwissenschaftlichen Annahmen (wie sie ähnlich auch in der Heidelberger DZFA - Studie vorgegeben und in den Probanden-Aussagen bestätigt wurden: „Gesundheit“ als sine-qua-non-Bedingung für alle anderen Bedürfnisse):

„Die Daten lassen vermuten, dass eine gewisse basale Kompetenz vorhanden sein muss, um den ExCo-Aktivitäten nachgehen zu können“ (a.a.O. S. 539). [Mit ExCo-Aktivitäten werden Tätigkeiten im Bereich der erweiterten Kompetenz bezeichnet]).

Unabhängig jedoch von einem vermuteten Zusammenhang sind es eben genau diese ExCo-Aktivitäten, die auch für M. Baltes die „vielleicht anspruchsvolleren und eher sinnstiftenden Aktivitäten“ darstellen. Es sind vor allem jene Aktivitäten, die im Rahmen der vorliegenden Thematik vorrangig besonders beachtet werden müssen – aus zweierlei Gründen:

Zum einen ist der Bereich der erweiterten Kompetenz eben genau jener Bereich, auf des-sen Stärkung hin diejenigen Aktivitäten entwickelt werden, die Hinweise auf ein kultu-relles Aktionspotential geben, kulturell also relevant sind (in der Berliner Untersuchung wurden als solche abgefragt: Sport treiben, Restaurantbesuche, tanzen, Ausflüge machen, kul-turelle Ereignisse, Hobbys, ehrenamtliche Tätigkeiten, Reisen, künstlerische Aktivitäten, Spiele, Weiterbildung, politische Aktivitäten). Die erfragten Tätigkeiten auf dem Gebiet der basalen Kompetenz hingegen zeichnen sich nicht durch kulturelle Relevanz aus, sie sind für die kulturelle Inszenierung des Menschen relativ uninteressant (‚relativ‘ deshalb, weil ein vermuteter Zusammenhang [eine angenommene Beziehung] durchaus bestehen mag, der aber nicht [als relevant] ins Gewicht fällt): z.B. einkaufen, Transportmittel benutzen, baden/ du-schen, spazierengehen, anziehen, Toilette benutzen, aufstehen, hinlegen, essen, kämmen, etc..

Sie fallen eher in den Bereich der Geriatrie denn in den der Kulturarbeit.

Zum anderen lässt sich anhand der wissenschaftlichen Forschungsergebnisse nachweisen, dass ein Zuwachs, eine qualitativ positiv zu bewertende Veränderung der Potentiale im Bereich der erweiterten Kompetenz möglich, kulturell bedeutungsvoll und deshalb auch Gegenstand dieser Untersuchung ist, hingegen ein Zuwachs im Bereich der basalen Kom-petenz eher unwahrscheinlich und außerindividuell weniger wichtig und gesellschafts- oder gar kulturpolitisch von eher geringerem Interesse ist.

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