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9 Bestimmung der kulturellen Relevanz von Alterspotentialen

9.6 Die Möglichkeit zur Beratung

„Wir brauchen aber auch den Rat der Älteren“. So schlicht konstatierte 1998 auf dem 1. Fo-rum der Generationen eine der Pionierinnen der Gerontologie, Ursula Lehr, die Notwendig-keit der Beratung durch Ältere. Sie glaubt Gründe zu haben, dies aus den Kompetenzen der Älteren ableiten zu können und postuliert: „Eine Seniorenpolitik darf heute nicht primär von der Frage geleitet sein ‚Was können wir für die Alten tun‘, sondern von der Frage ‚Was kön-nen Senioren für die Gesellschaft tun?‘“. Die Antwort gibt Lehr gleich selbst: „... engagiert an der Lösung gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, familiärer und politischer Fragen mitzuwir-ken“, sei deren Aufgabe und die Folgerung für die Gesellschaft: „Kompetente Senioren sind aber auch eine Aufforderung an die Gesellschaft, ... den Rat der Alten einzuholen“ (Lehr 1998: 43).

Dass mit der Entwicklung von Weisheitspotentialen (vgl. Abschnitt 8.4.2.3) gleichermaßen auch eine Fähigkeit zur Beratung einhergeht, steht für sie außer Frage, ist so selbtverständlich, wie sie auch in der weiteren gerontologischen Literatur als (aus dem Weisheitskonzept resul-tierende) Tatsache dargestellt und hier in der empirischen Untersuchung durch die – alten wie jungen – Probanden bestätigt wird:

„Nicht zuletzt gehören kommunikative und empathische Fähigkeiten des Verstehens und Rat-gebens zur Lebenserfahrung. Man sollte wissen, wem, wann und wie man seine Erfahrungen weitergeben kann“ (Staudinger & Dittmann-Kohli 1992: 412) lautete das Zitat, das im schrift-lichen Interview den Probanden zur Stellungnahme vorgelegt worden war.

Bezeichnenderweise äußerten sich nur sehr wenige Teilnehmer zu den hierin angesprochenen methodischen Aspekten („wem, wann, wie“). Diese verwahrten sich gegen die Möglichkeit der „Besserwisserei“ oder „Belehrung“, hoben eher die Erfahrung des Beratens in Form von

„Gleichnissen“ (PB 5j) oder des Erzählens“ (Pb 5a, Pb 6a) hervor, die den Adressaten Platz und Möglichkeit zur eigenen Deutung und Interpretation ließen, und erfahren darin kulturso-ziologische Unterstützung: Schulze sieht in der Kultur des „Erzählens“ als Beratungsform „ei-ne soziale Ur-Idee: gemeinsam aus dem Fluß des Alltagsgeschehens herauszutreten“ (vgl.

hierzu: Abschnitt 8.1). In einem Akt kultureller Vergewisserung beantworten Erzählungen

„grundlegende existenzielle Fragen: Was ist das Wesen der Dinge, mit denen wir tagtäglich

umgehen? Wo kommen wir her und welchen Sinn hat unser Leben? Was muß man tun, um wichtige Ziele zu erreichen und um Bedrohungen abzuwenden?“ (Schulze 1999: 23, 24). Da-mit geht Schulze bereits über die Form („wie“) der Erzählung als Beratung hinaus in die in-haltlichen Aspekte („was“), die sich deutlich am Weisheitskonzept orientieren.

Diese inhaltlichen Aspekte interessierte auch die Mehrzahl der Probanden weitaus mehr als die nur dem Impuls dienenden Aspekte der Methodik. Die Inhalte, wie sie Schulze als wesent-lich für eine beratende Erzählung darstellt, entsprechen weitgehend den Überzeugungen der Älteren, was sie vermitteln können, und den Äußerungen der jüngeren aus der Kontrollgrup-pe, was sie an Beratung erwarten und erhoffen. Keinesfalls wird unter „Beratungskompetenz“

eine Fähigkeit zu reiner Wissensvermittlung verstanden – die Kenntnis über einen raschen In-formationsverfall ist groß „... angesichts der bekannten Explosion unseres Wissens und der entsprechenden Halbwertzeiten“ (Pb 6a), verbunden mit der Tatsache, dass „die Kinder ... mit Techniken konfrontiert (werden), mit denen Ältere kaum Schritt halten können“. Obwohl das Institut für Entwicklungsplanung und Strukturforschung an der Universität Hannover (IES) im Forschungsbereich hohe ungenutzte Wissens- und Informationspotentiale ausgemacht hat und entsprechende Projekte zu Wissenstransfermöglichkeiten im Alter entwickelt, steht man dem „Expertentum“ als „Spezialistenwissen“ in der Befragung sehr skeptisch gegenüber.

Vielmehr sieht man – wie Schulze (s.o.) – eine soziokulturelle Relevanz der Beratungsfähig-keit auf dem Gebiet des menschlichen Zusammenlebens, der Konfliktlösungen, des „Erken-nens von Charakteren“ und der „Eigenheiten von Menschen“ (Pb 8j), erwartet häufig und vor allem „Entscheidungshilfe“ (z.B. PB 13j) oder „den Blick fürs Wesentliche“ (Pb 18a), weil

„Zusammenhänge schneller erkannt“ (z.B. Pb 14j) werden.

Nicht also der fachspezifische Wissenstransfer wird als relevant erachtet von den Jüngeren, wird als relevante Kompetenz von Älteren angeboten, sondern als relevant zeigt sich die Be-ratung im Sinne eines Erfahrungstransfers.

Erfahrungstransfer – darunter verstehen Schmitz-Scherzer et al. die Weitergabe von Lebenser-fahrung und Lebenswissen: „In den Beziehungen zu jüngeren Menschen können Lebenserfah-rung und Lebenswissen, ... ausgebildete Strategien, sowie die eigenen Formen der Auseinan-dersetzung mit Aufgaben und Belastungen weitergegeben werden“ (Schmitz-Scherzer et al.

1993: 56). Noch entschiedener abgesetzt gegen fachspezifischen Wissenstransfer definieren auch Staudinger/ Dittmann-Kohli den Erfahrungstransfer: Er bezieht sich „nicht nur auf die Üblichkeiten und Regelmäßigkeiten des Lebens, sondern auch auf die Unverständlichkeiten des Lebens, die Lebensrätsel ... (er besteht) nicht nur aus Erkenntnissen über Zusammenhänge und Sachverhalte, sondern darüber hinaus auch aus bestimmten Denkweisen, Strategien und Heuristiken“ (Staudinger/ Dittmann-Kohli 1992: 412).

Beide Erklärungen von Erfahrungstransfer verdeutlichen, dass eine Kompetenz vorausgesetzt und vermittelt wird, die ein tieferes und weiteres „Expertentum“ (Baltes) als das rein berufli-che darstellt: Es ist das erst mit dem Alternsprozess gewonnene Wissen „über das Leben, über existenzielle Aspekte der Conditio humana, das sich durch ungewöhnliche Kenntnisse und Einsichten, ausgewogene Urteile sowie fundierte Ratschläge zu komplexen, unklaren und un-gewissen Problemen der menschlichen Grundsituation und Lebensführung auszeichnet“ (Bal-tes 1996: 47, Hervorhebung durch M.K.). Diese Aussage kommt einer Rundum-Beantwortung der inhaltlichen Kompetenz („was“) gleich – als einer deutenden Zusammen-schau der Aspekte Schmitz-Scherzers und Staudinger/Dittmann-Kohlis – die die methodische Ausgangsfrage („wem, wann, wie“) bereits hinter sich gelassen hat. Sie kann nur noch unwe-sentlich ergänzt werden durch den Hinweis auf die notwendige Voraussetzung zu dieser Kompetenz, nämlich „welch entscheidende Rolle dabei Erfahrungswelten in der Auseinander-setzung mit Lebensproblemen spielen“ (Staudinger/ Baltes 1996:73).

Die Frage nach dem Zweck, der Relevanz, gar der kulturellen Relevanz einer (auch noch methodisch guten) Beraterkompetenz begründet sich folglich vornehmlich aus

ei-ner geei-nerativen Verpflichtung, nämlich aus dem Bedarf der Jüngeren nach Erfahrungs-transfer, nach Beratung auf Gebieten, in denen die Älteren qua Erfahrung kompetent sind: Kulturrelevanz der Beraterkompetenz besteht zunächst in einer Erfüllung der Nachfrage Jüngerer nach Hilfen zur (eigenen) Entscheidungsfindung bei komplexen Problemen.

Daneben und keinesfalls weniger wichtig zeigt sich eine kulturelle und kulturpolitische Relevanz der Beraterfähigkeiten in einem individuell sich rascher entwickelnden und damit gesellschaftlich sich verbreiternden höheren Weisheitsstandard: In der Weisheits-forschung wird die Beratungskompetenz als individuell und gesellschaftlich weisheitsbe-günstigender Faktor aus den Ergebnissen der Weisheitsforschung abgeleitet. „Zu allge-mein weisheitsbegünstigenden Faktoren zählen wir auch Erfahrungen mit guten Mentoren, die in der Lage sind, den einzelnen in die Komplexität des Lebens und angemessene Bewälti-gungsstrategien einzuführen“ (Baltes 1994: 181). Der Erwerb von Weisheitskompetenzen stellt sich also nicht ausschließlich und allein als Folge des Alternsprozesses dar: Zwar kann erwartet werden, „daß ‚Weltrekorde‘ in Weisheit von älteren Erwachsenen gehalten werden“, doch haben Baltes /Smith bereits 1990 „verdeutlicht, daß sich Expertentum in der fundamen-talen Pragmatik des Lebens nicht notwendigerweise erst im hohen Alter einstellen muß... und daß die Betreuung durch gute Mentoren ebenfalls von erheblicher Bedeutung ist“ (Baltes/

Smith 1990: 117). Dies bestätigt den Verdacht eines älteren Probanden der Untersuchung,

„dass Erkenntnisse nicht allein altersspezifisch bedingt sind“ (Pb 6a), sondern „daß diese Ein-sichten ... kommunizierbar ... sind“ (Staudinger/ Dittmann-Kohli 1992: 413). Wenn die Ant-wort auf die Frage nach gesellschaftlicher und kultureller Relevanz der Beratungskompetenz den Aspekt der Vermittelbarkeit beinhaltet, so folgt daraus zugleich eine Verantwortung: Es ginge nicht an, dass eine gesellschaftliche Gruppe der anderen eine wichtige, in manchen Be-langen sogar notwendige und zumindest erwünschte Kompetenz vorenthält, obwohl diese mit-teilbar ist.

Damit böte die Wahrnehmung der kulturellen und gesellschaftlichen Verantwortung in der Konsequenz - sozusagen als soziokulturelle Nebenwirkung – den Beitrag zu einer Aufwertung des Altersstatus und damit zu einer eigenen, neuen Alterskultur- vorausgesetzt, die Älteren zeigen sich engagiert und diskussionsbereit und nicht wie Pb 17a ablehnend gegenüber einer Erfüllung dieser Aufgabe: „Eigentlich habe ich gar keine Lust mehr, meine Sicht der Dinge, meinen 'Senf' zum einen oder anderen zu geben, auch wenn ich zu erkennen meine, ich hätte was beizutragen.“

„Besonders die ... älteren Menschen, die ihre Verantwortung nicht gleichgültig verkommen lassen, sich aber auch der Strenge und der Tendenz zur Selbstbestrafung durch neurotische Über-Ich-Strukturen (Selbstschädigungsmoral‘) verweigern, tragen zur Aufwertung des Al-tersstatus bei“ (Rosenmayr 1996: 60). Hierzu darf als ein geradezu vorbildliches, gleicherma-ßen von Selbstbewusstsein und Frustrationstoleranz zeugendes Gegenbeispiel zu Pb 17a die Aussage des älteren Probanden Pb 6a angeführt werden: „Und? Was soll man nicht alles wis-sen? Man muss nicht wissen, wem, wann und wie man seine Erfahrungen weitergeben kann, sondern die Offenheit konservieren: es auch dann zu versuchen, wenn man es selbst für an-gemessen hält und bereit sein, dass diese Anan-gemessenheit nicht geteilt wird“.

Einen Beitrag zur Konstitution einer eigenen Alterskultur über die Kompetenz der Beratung vermutet auch die IES Hannover: „Aus der Sicht derjenigen, die entsprechende Interessen und Fähigkeiten haben, werden ihnen ... die verdiente gesellschaftliche Anerkennung zuteil. Für die übrige Gesellschaft werden als durchaus geplanter Nebeneffekt der Wert und die Bedeu-tung der Gruppe der Älteren für die Gesamtgesellschaft ... bewußt gemacht. Dies bedeutet in-sofern auch eine Abkehr vom Defizitmodell, das bisher die Gruppe der Älteren als in ihrer Leistung gegenüber den Jüngeren defizient auffaßt. Hier geht es nicht um Menschen, denen

man – wie auch immer – bei ihrer Lebensbewältigung helfen muß, sondern um Menschen, die für andere ... etwas zu geben haben“ (IES 1996: 5, 6).

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