• Keine Ergebnisse gefunden

Die Darstellung spezifischer Alterskulturen: Entwicklung des kulturellen

9 Bestimmung der kulturellen Relevanz von Alterspotentialen

10.4 Die Darstellung spezifischer Alterskulturen: Entwicklung des kulturellen

In dem Interview mit der Probandin 5a waren verschiedene Merkmale ihrer „ureigensten Bin-nenkultur“ deutlich geworden: Alternativen zu entwickeln, scheinbar gegebene Elemente der Wirklichkeit neu zu deuten, vorgefundene Realitäten zu überschreiten, sie zu eige-nen Gestaltungsprozessen zu nutzen – das wurde als besondere Kriterien einer spezifi-schen Alterskultur beschrieben. Aus „dem Strom des Lebens“ auszusteigen, dies ist vorwiegend eine Möglichkeit des Alters; die Realitäten – „sogenannte Realitäten“, schreibt die Probandin – kritisch aus der Distanz zu betrachten und nicht als gegeben

hinzunehmen, ist eine weitgehend spezifische Altersleistung, da sie auf Weisheits-qualitäten beruht, die bevorzugt erst im Alter entwickelt werden.

Proband 6a hatte konstatiert: „Lebenserfahrung ... bedeutet ... historische Erfahrung, transzen-diert damit einen augenblicklichen Status und ist eine vorzügliche Voraussetzung dafür: in qualitativen Alternativen zu denken“. Diese Erkenntnis entspricht fast wörtlich dem wissen-schaftlichen Forschungsergebnis „Im Unterschied zu ‚unreifen Denkern‘ sind reife Denker in der Lage, ... Fakten zu transzendieren und auf diese Weise zu neuen Problemen und Lösungs-weisen zu gelangen“ (Staudinger/ Baltes 1996: 62).

Diese vorwiegend altersspezifische Fähigkeit bezeichnet Rosenmayr als „spezifische Kreati-vität der Lebensreife“. Während zu der Intelligenz das Problemlöseverhalten in neuen Situati-onen zählt, gehören zur Kreativität auch die Neuheit von (überraschenden und unerwarteten) Mitteln und Methoden. Es gehört zudem dazu die Kenntnis von vielfältigen Lösungsmöglich-keiten und die Fähigkeit, diese distanziert und kritisch zu beurteilen: „Kreativität im vorge-rückten Leben liegt auch im Erkennen und Zirkulieren von bereits entworfenen Ideen und im Eingehen auf Lösungsversuche anderer. Alterskreativität entspräche somit einer Form von

‚Generativität‘ ..., der bewußten Einbeziehung der Lösungsvorschläge auch der jüngeren Ge-neration“ (Rosenmayr 2000: 453). Damit werden hier sowohl die gleichzeitig aktivierte Fä-higkeit des Auslotens als auch der Synoptik (vgl. Abschnitt 8) als spezifische alterskulturelle Kompetenzen angesprochen, zu beiden ist die Distanz zum „Strom des Lebens“ notwendig, ein Heraustreten aus dem scheinbar logischen, scheinbar zwingenden, realen Sachverhalten der Lebensgestaltung.

Diese Fähigkeit entsteht mit der Reife, mit der verarbeiteten individuellen Lebenserfahrung, die als solche eine besondere, eine spezifische Prägung erhielt. „Als speziell für das Alter zu-treffende Kreativität möchte ich markante Unverwechselbarkeit (Originalität) ansehen und die Fähigkeit, seine besonderen und seltenen Einsichten allgemein und unmittelbar als ‚Vereinfa-chung ohne Vereinseitigung‘ zugänglich zu machen. Alterskreativität liegt in der Sicherheit der Auswahl und in der Direktheit der angewandten Form oder Sprache. Dabei steht aller-dings die Unbeirrbarkeit der Selbstaussage im Vordergrund“ (Rosenmayr 2000: 454). Die Be-sonderheit, die Originalität der schöpferischen Altersleistung liegt in der in Abschnitt 9.5 er-arbeiteten und beschriebenen Altersfähigkeit des ‚precise cut‘, die nur vordergründig eine Technik zu sein scheint: Hinter dieser Fähigkeit versteckt sich ein zu einem kompakten Kon-zentrat verdichtetes Wissen, das allein es ermöglicht, den entscheidenden Punkt zu finden, die nur so zulässig vereinfachte Aussage in einer Vielfalt von Gesichtspunkten zu treffen. Dieser pragmatisch gerichteten Fähigkeit liegen alle Weisheitsqualitäten zugrunde, die vorwiegend dem Alter (nach Rosenmayr sogar ausschließlich dem Alter) eigen sind. Sie stellen kulturkon-stituierende Elemente dar, bilden gleichzeitig die Voraussetzung und die Begründung für spe-zifische Alterskulturen. Es sind dies: „... das vertiefte Urteilsvermögen, das Widersprüche zu verbinden vermag (Paradoxie-Kapazität); die Fähigkeit, Unsicherheiten sowohl in der Wahr-nehmung als auch im Urteil, wenn nicht zu überwinden, so doch zu ertragen (Unsicherheits-Toleranz), das Vermögen, Irrtümer einzusehen und frühere Urteile zurückzunehmen; das Ver-mögen, eigene Lebenserfahrungen in wissenschaftliche oder philosophische Zusammenhänge einfließen zu lassen (Existenzialisierung), bzw. wechselseitige Annäherung von Ich und Wis-sen“ (a.a.O.).

Dies sind die Voraussetzungen der Möglichkeiten zu Distanz und zu Supervision, zu Fremd- und Selbstkritik und zur „Existenzialisierung“, zur Ver-Wirklichung, zur Gestaltung des Wirklichen durch das Subjekt. Zwar sind dies kennzeichnende Elemente grundsätzlich jeder Kultur. Die spezifischen Kulturen des Alters jedoch haben durch ihre besonderen, bevorzug-ten Voraussetzungen bei entwickelbevorzug-ten Weisheitsqualitäbevorzug-ten besondere Möglichkeibevorzug-ten:

„Seit ca. 10 Jahren hat sich ein radikaler Wandel in meiner künstlerischen Tätigkeit vollzo-gen. Bis dahin habe ich mich eher in klassischen Techniken ausgedrückt und die Technik an

sich stand im Vordergrund, bis ich mit diesen Mitteln nicht mehr ausdrücken konnte, was mir wichtig war, was ich in der Gesellschaft wahrgenommen habe. Der Schritt bedeutete, die ge-wohnte Ästhetik zu verlassen, Dinge zu tun, die für mich selber neu waren“ (Pb 12a), schreibt eine Künstlerin im Interview. „Die gewohnte Ästhetik verlassen“ – das bedeutet neben der Aufgabe bisher benutzter ästhetischer Mittel und Techniken auch ein Verlassen der gewohn-ten Sichtweisen – denn es sind die neuen Sichtweisen, die in der Folge die neuen Mittel ver-langen. Dieses „Verlassen“ setzt einen Reifungsprozesse voraus, jene „Entwicklungsprozes-se“, die gekennzeichnet sind dadurch, wie Menschen „ihre animalische Begrenzung transzen-dieren ... neue, andersartige, spezifische menschliche Kräfte zur vollsten Entfaltung bringen“

(Peck 1968: 530). Was Peck mit „animalischer Begrenzung“ bezeichnet, wäre das Eingebun-densein in die existenziellen physischen Lebenskämpfe der jungen Jahre, die „spezifischen menschlichen Kräfte“ wären die im Alter durch Distanz und Transzendierung entwickelten neuen kreativen Fähigkeiten.

Für die zitierte Künstlerin barg der Schritt des Verlassens der gewohnten Ästhetik eine neue Möglichkeit, eine neue Kreativität, „Dinge zu tun, die für mich selber neu waren“. Erst an diesem Punkt, in der Distanz, in der Entfernung vom Gewohnten, entsteht die Möglichkeit zur Beurteilung und Kritik des Alten, zur Entwicklung von Neuem, erst hier erhält Kreativität einen neuen gesellschaftlichen Sinn, der über Bestätigung und Konsolidierung hinausgeht:

„An diesem Punkt fängt für mich erst Kunstschaffen an“, schreibt die Künstlerin weiter,

„wenn diese Dinge, die hierbei entstehen, dann auch noch im gesamtgesellschaftlichen Kon-text auf Neues verweisen oder selbst neu sind, ist das für mich Kunst“ (Pb 12a). Mit dieser Aussage schließt sich der Kreis zu den zunächst befremdlichen Begriffen des „Animalischen“

und „spezifisch Menschlichen“ bei Peck: Jenseits bloßer Reaktionen auf Umweltreize erwacht im Verlaufe des Reifungs- oder Entwicklungsprozesses die „ureigenste Binnenkultur“ (Pb 5a), die reflektierende Kreativität, eine neue, schöpferische Auseinandersetzung. Die Worte Oscar Wildes „Die Kunst fängt da an, wo die Natur aufhört“, beschreiben ähnlich wie die Worte Pecks eben diesen Prozess, in deren Verlauf der bewusste, selbst-ständige Akt der Ges-taltung beginnt. Notwendige Voraussetzung dafür ist Alter als Erfahrung im Sinne erlebter und reflektierter Zeit, „Zeit, um die Reife, die zum selbständigen Schaffen gehört, zu erlan-gen“ (von Bracken 1952: 22).

Es ist dies ein wesentlicher, ja der grundlegende Unterschied spezifischer Alterskulturen zu pluralen Alterskulturen: Während letztere vornehmlich der Stilisierung einer indivi-duellen (Alters-)Biografie dienen, enthält die altersspezifische Kultur eine gesellschafts-kritische Funktion: Mit der Entwicklung neuer Ästhetiken, mit dem Aufzeigen alterna-tiver Realitätsdeutungen wird eine „gesamtgesellschaftliche“ De-Stabilisierung vorge-nommen. Und nur auf einer solchen Verunsicherung des Selbst-Verständlichen können sich neue Perspektiven entwickeln. „Die Prägung der primären Wirklichkeit und die Erwei-terung der primären Wirklichkeit, das ist ein wesentlicher Punkt für das, was meines Erach-tens durchgängig Bedingung kultureller Entwicklungen ist“ (Negt 96: 25).

Die „Prägung der Wirklichkeit“, die subjektive Gestaltung von Welt, das sind Kreativitätspro-zesse im weitesten Sinne: „KreativitätsproKreativitätspro-zesse sind Forschungsgegenstand der Kunst, aber nicht ausschließlich der Kunst vorbehalten. In der Kunst nehmen wir diese Kreativitätsprozes-se als zweckfrei wahr, gerade deshalb ist der Modellcharakter, den sie verkörpern – im Schaf-fen von Welt - , so bedeutsam. Deshalb sind die Erkenntnisse so virulent, weil sie Sichtweisen in Form von Schneisen freilegen. Individuelle Sichtweisen, welche für die schöpferische Kompetenz des einzelnen im Zeitalter der Verflachung von Hierarchien ... ausschlaggebend sein können“ (Ammann 1998: 39).

Auf diese „Verflachung von Hierarchien“ und der daraus erfolgende Zwang zur selbstständi-gen Sinnbestimmung und Sinnfestlegung wurde bereits in Abschnitt 10 einleitend hingewie-sen: Hierarchien sowohl in Form von Deutungshierarchien als auch in Form von Wertungs-hierarchien kultureller Bereiche (z.B. sog. „Kunstkultur“ gegenüber sog. „Off-Kultur“) sind in

der Auflösung begriffen, können keine Orientierung mehr vorgeben. Die Wirklichkeitsdeu-tung und –gestalWirklichkeitsdeu-tung muss durch alle Subjekte erfolgen, die sich einer solchen kreativen (Neu-) Entwicklung stellen und sie leisten. Die Worte Joseph Beuys „Jeder Mensch ist ein Künstler“ erfahren (nur) in dieser Hinsicht ihre Bedeutung: Jeder ist an der Gestaltung der Wirklichkeit beteiligt und diese Gestaltung erfolgt in jedem Bereich, nicht in einem mehr oder minder wichtigen Bereich der Wirklichkeit.

So müssen zwangsläufig auch spezifische Alterskulturen weit hinausgehen über die Be-reiche eines engen Kunstkulturverständnisses. Sie umfassen weite BeBe-reiche der Kom-munikations- und Gesellschaftskultur. Auch eine Erweiterung, wie von der Probandin Pb 5a angedeutet, auf den Bereich der Körperkultur („Fitness- und Solarkultur“) ist durchaus denkbar in dem Sinne, dass sie auch die Person, das Subjekt selbst als Gestaltungsobjekt mit einbezieht – so wie auch Pb 18a und Pb 8j beispielsweise den Bereich einer „besseren Esskul-tur“ ganz selbstverständlich als kulturellen Zukunftswunsch benennen.

Im Begriff der „sozialen Plastik“ von Joseph Beuys kommt ein solches Verständnis schöpferi-scher Kreativität zum Ausdruck: Das gesamtgesellschaftlich begriffene Kunstobjekt (Gestal-tungsobjekt) ist darin ebenso enthalten wie der gestaltende und gestaltete Mensch selbst. Es zeigt gleichzeitig (objektiv, auf die Objekte gerichtet) ein kulturbegriffsumfassendes Ver-ständnis, wie es (subjektiv, auf die Subjekte gerichtet) einen Verantwortungsappell an die Ge-staltenden darstellt.

Viele der Probanden erkennen diese neuen Fähigkeiten, die sie an sich wahrnehmen, die neu-en Sichtweisneu-en, die sie einnehmneu-en, als das Ergebnis eines Entwicklungsprozesses, sehneu-en die-sen jedoch rein persönlich, individuell, nur auf sich bezogen – wohingegen sie ihre kulturellen Haltungen in jungen Jahren eher gesellschaftsabhängig, situationsbedingt sahen (z.B. Pb 16a:

„Wesentlich für mich: die Erkenntnis, dass der Hang zum Progressiven, zur Avantgarde [Bil-dende Kunst, Jazz] ein Stück lebenssituationsbedingte Selbstverwirklichung war“; z.B. Pb 19a: „In jungen Jahren wurden die kulturellen Angebote zuerst politisch vorsortiert, bevor ich mich engagiert oder konsumiert habe“). Die neue, persönliche Erfahrung wird als eigene, in-nerpersönliche Offenheit empfunden (z.B. Pb 17a: „Heute gibt’s da mehr Toleranz, ich lasse die Dinge auf mich einwirken“ ), was als aufregend und spannend geschildert wird (z.B. Pb 16a: „Die Lust am kulturellen Abenteuer, Neues sehen, Neues hören“) und als ungewohnte sinnliche Erfahrung (z.B. Pb 18a: „Heute befasse ich mich mehr mit der experimentellen Seite der Kultur. Reduktion und die leisen Töne regen heute meine Vorstellungskraft an“).

Pfaff erkennt in solchen Erfahrungen die entwicklungsbedingten Veränderungen in Richtung einer neuen altersspezifischen Individualität: „Das erwachende Individuum, das sich träumen-de Subjekt, das träumen-denkend sich erfinträumen-denträumen-de Selbst kann mit träumen-den alten Bildungsangeboten kollek-tiver Verallgemeinerungen nicht fruchtbar und sinnvoll leben. Es muß in anstrengenden Lern-prozessen die Klischees und die Stereotype zerbrechen und in dieser Arbeit die Solidarität al-les Erwachten schöpfen“ (Pfaff 2000: 460).

Wenn ein solcher solidarischer Akt „alles Erwachten“ gelänge, wäre dies der erste Schritt zu einer fragwürdigen, aber vor allem in der amerikanischen gerontologischen Literatur (Friedan, Rose) als notwendig erachteten, gemeinsamen Alterskultur als einer Art Subkultur. Friedan hält eine solche alterskulturelle Solidarität für eine zwingende Voraussetzung einer Verwirkli-chung des kulturellen Spätstiles, die in „totaler Isolation vermutlich schwer“ zu vollziehen sei.

Sie vergleicht die Situation derer, „die das neue, unerforschte Terrain des Alters betreten“, mit der Situation der Frauen, der Emanzipationsbewegung der frühen Sechzigerjahre: „... wir...

entdeckten Möglichkeiten in uns selbst, die wir nicht zu benennen gewagt hatten“, und folgert für eine gemeinsame solidarische Alterskultur: „Wir müssen uns gegenseitig sagen, wie es wirklich ist, älter zu werden, und einander helfen, die Möglichkeiten zu benennen, die wir kaum erkennen, ... wenn wir sie in uns spüren...“ (Friedan 1997: 836). Tatsächlich erinnern diese Worte an die Selbsterfahrungsgruppen der Frauenbewegung, sie verdeutlichen Friedans Vorstellung, eine gemeinsame Alterskultur habe den Zweck einer Interessengemeinschaft mit

politisch-solidarischer Stoßkraft. Es widerspräche jedoch heftig dem von ihr selbst diagnosti-zierten „eigenen und einzigartigen Spätstil“, widerspräche weiter auch Pfaffs These des erwa-chenden Individuums. Nicht zuletzt stünde es allen empirischen Belegen der Soziologie ent-gegen, die eine hochdifferenzierte Individualitätspflege und eine Abneigung von Älteren ge-genüber Vereinheitlichung und Solidarisierungsbestrebungen feststellen ( Schulze, Kohli, Ri-ley & RiRi-ley). Die „Solidarität aller Erwachten“ wäre, wenn überhaupt, nur vorstellbar als eine politische Solidarität, als ökonomische und soziale Interessenvertretung, keinesfalls vorstell-bar und denkvorstell-bar aber wäre sie als eine kulturelle Gleichgesinntheit:

Gerade die vielfältigen, individuellen, in anstrengenden Erkenntnisprozessen gewonnenen neuen Deutungs- und Gestaltungskompetenzen der Einzelnen sind die Chance zu neuen indi-viduellen Sichtweisen – „Sichtweisen in Form von Schneisen“ (Amman), nicht aber in Form von Einheitsrodungen, gar in Form einer solidarisch-globalen „Altersleitkultur“. Nur in der hohen Vielfalt einer größtmöglichen Anzahl von spezifischen Alterskulturen können die ent-wickelten, ausdifferenzierten, individuellen Alterskompetenzen als vielschichtige alternative Deutungskompetenzen gegen scheinbare Gültigkeitsansprüche einer „sogenannten Wirklich-keit“ (Pb 5a) sinnvoll und wirksam sein.

Nur im Einzeleinsatz, im eigenen, eigen-sinnigen Beitrag des Individuums zu der Wirklich-keitsdeutung und –gestaltung kann ein verantwortungsvoller gesellschaftlicher Beitrag beste-hen – nicht aber in einer vereinten Truppenformation, in der individuelle kreative Möglichkei-ten einem hierarchisch und außenbestimmMöglichkei-ten „Gesamtziel“ untergeordnet werden müssen.

„Eigene Sinne, sich wehren gegen die Enteignung der Sinne, ist Eigensinn. Das heißt das Be-harren auf unverwechselbarer eigener Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit. Wir stehen heute in der Situation der vielfachen Enteignung unserer Sinne und unseres Verstandes durch das, was uns an deren Stelle gesetzt wird, mit der Maßgabe, viel kompetenter, viel genauer, viel exakter zu sein, ja, die eigentliche Wirklichkeit zu sein, gegenüber den täuschenden Sinnen“

(Negt 1996: 21). So könnte es zumindest als Gefahr sich herausstellen: Dass hinter einem „gut gemeinten“ Solidarisierungsappell zu einer starken „gemeinsamen Alterskultur“ sich ein neu-er, wenngleich sozialpolitisch verständlicher Hierarchisierungs- und damit Bevormundungs-anspruch versteckt. Nicht nur angesichts weisheitskompetenter Alter, auch in Anbetracht der Individualisierungsmöglichkeiten und Erfordernisse der reflexiven Moderne wäre dies nicht mehr vorstellbar – nicht für die pluralen (vielfältigen, individualisierten) Alterskulturen (vgl.

Abschnitt 10.3.1), schon gar nicht für die spezifischen (besonderen, subjektorientierten) Al-terskulturen.

Weisheitskompetenzen werden, obwohl sie potentiell angelegt sein können, nur selten bereits in jungen Jahren manifest (s. im folgenden Abschnitt 11), im Allgemeinen sind sie vorwiegend dem Alter vorbehalten. Sie sind, zumal ihre Entwicklung an ein gutes Bildungsniveau gebunden ist, ausgesprochen elitär. Spezifische Alterskulturen, die auf entwickelten Weisheitskompetenzen beruhen, sind damit spezifisch (besonders) in dop-peltem Sinne: Ihre Entwicklung ist an Bildung und (in der Regel) an Alter gebunden.

Diese elitäre Gruppe, so wurde bereits nachgewiesen (vgl. Abschnitt 6.1.4, 8.3.1 und 9.7) wird in naher Zukunft eine immer größere, eine immer „normalere“ Gruppe werden:

Die Zunahme von Bildung und die Ausdehnung der Altersphase werden die soziologisch noch eher kleine Gruppe der privilegierten alten Menschen, die eine spezifische Alters-kultur entwickeln (können), zu einer zumindest quantitativ stärkeren Gesellschafts-gruppe machen. Darin liegen Perspektiven positiver Entwicklungschancen der Gesell-schaft, darin liegt gleichzeitig eine Verpflichtung, an der sich eine gesellschaftliche Gruppe nicht vorbeidrücken kann, die durch ihre favorisierten, elitären Voraussetzun-gen einen potentiell größeren Lösungsreichtum bei Aufgaben der Deutung und Gestal-tung von Wirklichkeit vermuten lassen.

11 Zukunftsplanung und Zukunftsgestaltung: der kulturelle Pflichtbeitrag spezifischer Alterskulturen

„Zukunft ist ein kulturelles Programm“ – nach diesem Wort Hilmar Hoffmanns wurde An-fang des Jahres 2000 ein Symposium der Evangelischen Akademie Iserlohn betitelt. Mit die-ser pointierten Aussage verdichtet der Kulturpolitiker eine Stellungnahme, die er bereits zehn Jahre zuvor an die Adresse von Stadt- und Landespolitik richtete:

„Kultur ist aber nicht nur, wie wir leben, sondern auch, wie wir leben wollen. In der Kultur und mit ihrer Hilfe verständigen sich die Menschen über Sinn und Perspektive ihres eigenen und ihres gemeinschaftlichen Lebens. Mit Hilfe der Kultur orientieren sie sich über das, was ihnen wichtig und lebenswert ist und wofür sie ihre Kräfte und ihre Arbeitskraft einsetzen möchten. Damit verkörpert Kultur die ganze Fülle von Möglichkeiten menschlicher Lebens-perspektiven und Glücksvorstellungen“ (Hoffmann 1990: 160, Hervorhebung durch Autor).

Gleichermaßen der individuell-persönliche wie der gesellschaftliche Aspekt einer Zukunfts-gestaltung werden hier angesprochen: In der „Fülle der Möglichkeiten“ aller Perspektiven und Vorstellungen gilt es, nicht nur im Sinne des modernen Pluralismus seine individuellen Opti-onschancen wahr zu nehmen, „sich“ zu orientieren, sondern gleichzeitig wird der Verhand-lungsaspekt kulturellen Werte- und Zieldiskurses betont. Sinn und Perspektiven des gemein-schaftlichen Lebens sind ja nicht bereits historisch Vorhandenes, so dass der kulturelle Akt bereits und allein in der (Aus-)Wahl bestünde, sondern Sinn und Perspektiven werden ständig prozessual und durchaus kontrovers konstituiert. Lebensperspektiven und Glücksvorstellun-gen werden zugleich gesellschaftlich und individuell begründet und sind so voneinander ab-hängig und miteinander vernetzt.

Für Hofmann ist Kultur maßgebender und bestimmender Faktor sowohl für gesellschaftliche als auch für individuelle Entwicklungsprozesse. Sie ist einmal kommunikationsförderndes und –tragendes Element im gesellschaftlichen Bereich, zum anderen ist sie Element der Selbst-Verwirklichung im individuellen Bereich: „Kultur ist in unseren sozialen Beziehungen die bereichernde Gestaltung des sozialen Raumes zwischen Familie und gesellschaftlichen Gruppen, als menschliche Kommunikation und menschliches Miteinander. Sie ist nicht nur verpflichtende internationale Solidarität, sondern Gemeinsamkeit auch überall dort, wo sie be-reichert und beglückt, und sie ist damit eine wesentliche Form der Selbstverwirklichung des Menschen als soziales Wesen. Kultur ist ... die Realisierung der Träume von Humanität und einer lebenswerten Zukunft“ (a.a.O. S. 161).

Die kulturelle Interdependenz von Individuum und Gesellschaft ist zwingend und eindeutig:

Es gibt keine Zukunftsplanung isoliert für ein Individuum. Mit einer „persönlichen“ Planung ändern sich zugleich soziale Verflechtungen. Andererseits gibt es keine gesellschaftliche Zu-kunftsplanung ohne Rückwirkungen auf den Einzelnen. Diese gesellschaftliche und individu-elle Gestaltung und Gestaltbarkeit von Entwicklungsprozessen, von Zukunft, aufgrund von Auseinandersetzungen, Wünschen, Ängsten und Hoffnungen, ist kultureller Prozess. Er ver-läuft unter anderem auf dem Hintergrund geschichtlicher, politischer, sozialer und auch situa-tiver Bedingungen. Er ist Produkt individueller und gesellschaftlicher Auseinandersetzung:

Zukunftsplanung und –gestaltung als kultureller Prozess ist „von den Menschen gestaltet (und) wirkt zugleich auf sie zurück“ (a.a.O.).

Damit wird bereits deutlich, dass ein solcher Prozess nicht in solidarischer Einigkeit verlaufen kann, nicht verlaufen darf: Wie in jedem gesellschaftlichen Bereich, in dem Deutungs- und Gestaltungsfähigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft notwendig wird (z.B.

Religion, Wissenschaft, Politik), geht es zugleich auch immer um Deutungs- und Gestal-tungsmacht. Denn die Darstellung von (vergangenen, gegenwärtigen, zukünftigen) Zu-ständen kann nicht reine Beschreibungstätigkeit sein (vgl. Abschnitt 9.4), sondern ist im-mer Deutungstätigkeit, d.h. sie verläuft auf der Basis von Anschauungen, Bewertungen,

Ziel- und Orientierungsvorgaben von Einzelnen, von Gruppen, von Institutionen, die von Interessenhaltungen geprägt und getragen werden. Bei einer – auch und vor allem – kulturellen Zukunftsplanung handelt es sich immer auch zugleich um eine Frage von Einfluss und Macht. In den besorgten Fragen der Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbil-dung kommt dies sehr eindringlich zum Ausdruck: „Selbst Beschreibungen, erst recht jedoch ... Vorschläge für zukünftige Entscheidungen haben vielfältige Beziehungen zu der Frage von Macht und Einfluß: Wer schlägt Deutungen vor? Welche Deutungen setzen sich durch? Wel-che Relevanz haben die Deutungen und die Personen, die sie vertreten? WelWel-che Akzentset-zungen im Hinblick auf die unterschiedlichen Rollen und Funktionen bestimmter gesellschaft-licher Gruppen finden sich in den Deutungsvorschlägen?“ (Fuchs 1998: 11). Allein mit dem Versuch einer Beantwortung dieser Fragen wird klar, dass „Kultur“, die scheinbar „harmlos“

Gegenwart und Vergangenheit reflektiert, bereits zugleich auch Gestaltungsmöglichkeiten von Zukunft ableitet und damit aus dem Bereich unschuldiger Betrachtungsweisen hineinge-rät in ein Feld interessengeleiteter (Kultur-)Politik. Über Selektion und Bewertung erfolgt

Gegenwart und Vergangenheit reflektiert, bereits zugleich auch Gestaltungsmöglichkeiten von Zukunft ableitet und damit aus dem Bereich unschuldiger Betrachtungsweisen hineinge-rät in ein Feld interessengeleiteter (Kultur-)Politik. Über Selektion und Bewertung erfolgt

Outline

ÄHNLICHE DOKUMENTE