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„Die Routine der Kaffee- und Kuchennachmittage bei Kerzen und nostalgischen Klängen aus dem Kassettenrekorder gehört in die Reihe der karitativen Beschäftigungen mit den Alten, die sie das Wartesaalgefühl einmal nicht als individuelles, sondern zur Abwechslung als kollekti-ves Schicksal erleben lassen. Daher stellt sich für Sozi und Kulturpolitiker die Aufgabe, al-le Anstrengungen zu unternehmen, um das Bewusstsein unserer Senioren dahin zu verändern , dass sie ihre Situation nicht als schicksalhaft empfinden, sondern als gesellschaftlich bedingt und damit als veränderbar begreifen. Nur wer zu diesem Selbstverständnis findet, wird am Horizont eine Zukunft sehen, in der einzurichten sich lohnt“ (Hoffmann 1981:339, Hervorhe-bung durch Autor).

Obwohl vor rund zwanzig Jahren geschrieben, entspricht das von Hilmar Hoffmann gezeich-nete Bild gemütlichen, kommunikativen Beisammenseins noch häufig den Vorstellungen von Seniorenkultur: Sog. Altennachmittage bei Organisationen wie Kirchen, Vereinen, Parteien, Gewerkschaften, Berufsverbänden, die sich durchaus als kulturtragende Institutionen verste-hen und so verstanden werden, severste-hen immer noch recht ähnlich aus. Gelegentlich wird nach der Verteilung von Text- und Notenblättern noch etwas gesungen, der Kassettenrekorder durch einen Alleinunterhalter am Keyboard oder Akkordeon ersetzt, ab und an werden selbst- oder fremdverfasste Gedichte vorgetragen oder besinnliche Geschichten vorgelesen, manch-mal Diareihen gezeigt von gemeinsamen Ausflügen oder von einem interessanten Urlaub ei-nes Senioren und häufig, vor allem in der Vorweihnachts- oder Osterzeit, die Nachmittage mit aktivierenden Programmen wie kleineren Bastelarbeiten bereichert. Die Idee der

„Verschöne-rung des Lebensabends“ steht im Vordergrund solcher Veranstaltungen – das „Wartesaalge-fühl als kollektives Schicksal“, wie Hilmar Hoffmann es sardonisch formuliert, lässt leichter erscheinen, was allein nur schwer zu ertragen ist: die langsam verrinnende Restzeit des Le-bens.

Theorie und Praxis, Einstellungen und Arbeitsweisen der Veranstalter auf dem breiten

„Schlachtfeld der Seniorenkulturarbeit“ scheinen unverändert – war es diese kritische Vision, die Hoffmann bewog, nicht in der Kulturpraxis Veränderungsmöglichkeiten zu erkennen, son-dern in der Kulturpolitik? Mit der Bewusstseinsänderung der Senioren, nicht mit der der Ver-anstalter eine Situationsänderung herbeizuführen – das wäre die „Revolution von unten“ in der Kulturarbeit: Die Alten erkennen die Misere ihrer Lage als nicht schicksalhaft, sondern als gesellschaftlich bestimmt und begreifen sie als veränderbar - nähmen so die Macht zur Verän-derung in die eigene Hand. Tatsächlich scheint sich auf der Basis dieser Art gesellschafts-po-litisch begriffenen „Kulturrevolution“ etwas geändert zu haben: Obwohl die Praxis einer Kul-turarbeit des „verschönerten Lebensabends“ immer noch existiert, nimmt die Zahl derjenigen rapide ab, die ihren Lebensabend auf diese Art „verschönert“ wissen wollen. Bei zunehmen-der absoluter Zahl von alten Menschen wird von den Veranstaltern ein zunehmenzunehmen-der Teilneh-merschwund an den einst beliebten Seniorennachmittagen beklagt.

3.1 Die Alten als Zielgruppe der Kulturarbeit

„Wenn sich die Seniorenkulturarbeit auf die Suche nach ihrer Zielgruppe begibt...“ (Zemann 1992: 39).

Eine ganze Reihe von unausgesprochenen Präsumptionen und Einschlüssen, aber auch Hinter-gründigkeiten und Einstellungen sind in diesem einfachen vorangestellten Nebensatz enthal-ten, der dann handfeste Kriterien zur Zielgruppenfindung folgen: An der in ihrer Aktivität personifizierten, so verselbständigten „Seniorenkulturarbeit“ (sie begibt sich auf die Suche) ist kein „Senior“ beteiligt, denn dieser wird erst noch gesucht. Es sind offensichtlich andere, die diese Arbeit (Kulturarbeit) für die Alten verrichten, die Jüngeren also. Damit entspricht dieses Verständnis von Zielgruppenarbeit weitgehend einer Definition des Kulturmanagements:

„Zielgruppenarbeit im Kulturbereich versteht sich ... als die (möglichst) gezielte Ausrichtung kultureller Angebote auf Bevölkerungsgruppen, die nicht so selbstverständlich wie andere an der Kultur teilnehmen, besonderer Ansprache bedürfen, Hilfestellung verdienen, in ihrer kul-turellen Betroffenheit aufgesucht werden wollen (oder sollen). Als Beispiele hierfür gelten Kinder und Jugendliche, ältere Menschen, ausländische Mitbürger sowie darüber hinaus ganz allgemein sozial und beruflich Benachteiligte“ (Heinrichs/ Klein 1996:317). Heinrichs, dessen Distanz zu dieser Definition bereits durch den einschränkenden Begriff „gelten“ deutlich wird, hat diese Art der Zielgruppendefinition bereits drei Jahre zuvor aus dem Blickwinkel neuerer Ergebnisse der Lebensstilforschung heraus kritisiert: „Wenn von Zielgruppen die Re-de ist, Re-denkt man vor allem im öffentlichen Kulturbetrieb immer noch an Bevölkerungsgrup-pen wie Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Senioren. Doch sind solchermaßen differen-zierte Zielgruppen für ein Marketing im Kulturbetrieb völlig ungeeignet“ (Heinrichs 1993:

180). Doch kommt auch Heinrichs nicht umhin, darauf hinzuweisen, dass sich die öffentliche, aber auch die marktwirtschaftliche Kulturarbeit (noch) häufig und weitgehend an diesem Ziel-gruppenkonzept orientiert.

In dieser lexikalischen Definition von Zielgruppenarbeit, nach der ältere Menschen mit sozial und beruflich benachteiligten, vielleicht sogar mit geistig beeinträchtigten Menschen gleich-gesetzt werden, wird gleichermaßen wie in den Implikationen Zemanns deutlich, dass die in-stitutionelle oder organisierte Kulturarbeit noch immer ganz selbstverständlich von einem teilweise unkritisch hingenommenen defizitären Altersbild ausgeht: Es muss für die Alten ge-arbeitet, für sie Kultur gemacht, für sie kulturell gesorgt werden. Die Nähe zum Gedanken der Für-Sorge liegt entsprechend nahe. Denn es sind nicht etwa die Strukturen, die vorbereitet

werden, es sind die Inhalte, die zunächst von den Für-Sorgern geplant und entwickelt und schließlich angeboten werden („gezielte Ausrichtung kultureller Angebote“). Man begibt sich also mit fertigen Inhalten, die für die Alten als wichtig erachtet werden, auf den Weg zu den passenden, den bedürftigen Alten – der Zielgruppe.

Zwar spricht Zemann u.a. auch von „Autonomie“ der Zielgruppe, plädiert abschließend sogar für eine Kulturarbeit für, mit und von Älteren als Teil eines ganzheitlichen Konzeptes, doch bezieht sich dies auf das von ihm favorisierte „Selbst-Produktiv-Sein“ und „Selbst-Kreativ-Sein“, was er ausdrücklich als „Werte“ bezeichnet. Die pädagogischen, bei genauerer Be-trachtung im Grunde sonderpädagogischen Ziele „Stärkung von Selbstwertgefühl, Lebenssinn und sozialer Einbindung“ geben Hinweise auf das Bild des defizitären Alten: Denn diese Ei-genschaften sind wohl im Alter nicht vorhanden, sonst müssten sie nicht als zu erreichende Ziele formuliert werden. Das Erreichen dieser (sonder-) pädagogischen Ziele wird „vorrangig mit kreativen Mitteln angestrebt“ (Zemann S. 40), wobei es offen bleibt, was man sich unter kreativen „Mitteln“ vorzustellen hat.

Hier zeigt sich ein durchaus übliches Verständnis von „Seniorenkulturarbeit“, wie es sich auch in den Einstellungen von vielen Kulturarbeitern, Kulturpädagogen und Kulturvermitt-lern in kulturellen Institutionen und Organisationen spiegelt: Seniorenkulturarbeit wird ver-standen als ein pädagogischer Vermittlungsprozess, in dem die Inhalte vom Vermittler festge-legt, die Zielgruppe entsprechend definiert und formiert wird, die Ziele „vorrangig mit kreati-ven Mitteln angestrebt“ und mit entsprechendem Medieneinsatz („Hilfsmittel jeder Art [fi-nanzielle Subventionen können ebenso dazugehören wie behindertengerechte Räume]“) und angemessenen methodischen Fähigkeiten („situationsflexibel“) erreicht werden sollen. Quasi als Lernvoraussetzung und Lernbedingung wird auch der Kontext berücksichtigt, in dem der alte Mensch lebt, und zwar „nicht nur die aktuelle räumliche und soziale Situation ... Kontext ist auch seine Biografie“ (a.a.O. S. 39). Ein geradezu klassisches Modell pädagogischer Ver-mittlungsarbeit tritt hier zutage – konventionelles „Unterrichten“ mit eindeutiger Zielorientie-rung:

Die Biografie des alten Menschen wird zu einem Instrument der Didaktik, die kreativen Mit-tel als kulturelles Moment werden zu einem der Methodik. Die Ziele von Kulturarbeit werden zu Zielen der Sozialarbeit (Selbstwertgefühl, Lebenssinn, soziale Einbindung). Der „Betroffe-ne“ wird Objekt in einem zielorientierten Lehrprozess – ausdrücklich ist es der Vermittler, der bei Zemann als „Akteur der soziokulturellen Arbeit“ bezeichnet wird.

Hinter dieser Art von Kulturarbeit steht genau die Vorstellung vom alten Menschen, die so fragwürdig ist (s. Abschnitt 4) wie „die Konzeption von Pädagogik“, mit deren Hilfe er vor der Gefahr der Langeweile, der Sinnlosigkeit, der Vereinsamung und des geistigen Abbaus bewahrt werden soll. Bei einer so verstandenen Kulturarbeit handelt es sich um „ ... eine Art Arbeit, in der die künstlerischen Mittel ‚eingesetzt‘ werden in kompensatorischer Absicht: als Werkzeug der Praktiken, mit deren Hilfe – oft von ästhetisch fortgebildeten Sozialarbeitern unter der Supervision von diplomierten Pädagogen oder auch Kulturwissenschaftlern – die

‚Modernisierungsverlierer‘ vor dem Absturz ... gerettet werden sollen. In der Kulturvermitt-lung geht es also oft um bloße Stützungsaktionen des Sozialen – Projektgelder kommen oft (noch) aus dem Sozialetat. Es geht nicht um die Erweiterung von Kreativität und Teilnahme am kulturellen Leben“ (Hartwig 1997:403).

Tatsächlich kann es den von Zemann benannten „Akteur der soziokulturellen Arbeit“ im Selbstverständnis der Soziokultur gar nicht geben, einen, der „das Interesse der Älteren“ auf sich zieht wie ein Alleinunterhalter, ein „Kulturanimateur“. Die von Zemann für die Senio-renkulturarbeit berufene Soziokultur wäre so missverstanden: Ein solcher Entwurf von Kul-turarbeit widerspräche ihrem demokratischen und emanzipatorischen Kulturverständnis.

„Soziokultur ... akzentuiert vielmehr die Bedeutung von Kunst und Kultur für das alltägliche Leben der einzelnen und den politisch kulturellen Zustand der Gesellschaft. Kreativität, künst-lerische Ausdrucks- und Genussfähigkeit und kommunikative Kompetenzen sind notwendige

Voraussetzungen für die Souveränität des Menschen im Umgang mit seinem eigenen Leben und für die Gestaltung der gesellschaftlichen Zukunft“ (BKK 1992:6).

Im demokratischen Kulturverständnis gibt es nur Akteure, die allesamt gleichberechtigt an der Kulturarbeit beteiligt sind, nämlich die Künstler (Maler, Musiker, Schauspieler, Schriftstel-ler), und das Publikum (Betrachter, Hörer, Leser). Im demokratischen Kulturverständnis kann es keine hierarchischen Abhängigkeiten geben von „Be-Mittelten“, „Ver-Mitteln-den“ und „Mittel-Losen“, nicht von „Gebern“ (Lehrenden) und „Nehmern“ (Belehrten), von „Habenden“ (Inhaltsträgern) und „Besitzlosen“ (Zielgruppen), oder von „Machtha-bern“ (Kulturträgern) und „Habenichtsen“ (Kulturnehmern).

3.2 Macht und Verpflichtung: Kulturelle Selbststeuerung

Die „Souveränität des Menschen im Umgang mit seinem eigenen Leben und für die Gestal-tung der Gesellschaftlichen Zukunft“ (BKK, a.a.O.) ist so zwar von der Soziokultur definiert und programmatisch festgeschrieben worden, es ist jedoch kein ausschließlich soziokulturel-les Element. Spätestens seit dem Ende der „affirmativen Kultur“ (Marcuse) hat dieses politi-sche Kulturverständnis allgemeine Akzeptanz erlangt und hat Anfang der siebziger Jahre das bis dahin weitgehend herrschende Konzept der Kulturpflege radikal in Frage gestellt. 1952 hatte der deutsche Städtetag noch als Leitsatz formuliert: „Die Pflege der Kultur ist für die Städte eine wichtige und dringliche Aufgabe sowohl um der kulturellen Werte willen, die es zu pflegen gilt, und der in dieser Pflege sich zeigenden geistigen Haltung als auch wegen der Bedeutung, die dieser Pflege für das Gemeinschaftsleben zukommt“ (in: Deutscher Städtetag 1971:104). Die Kultur existierte nach diesem damaligen Verständnis also als Wert an sich – Kultur ist gegeben als objektivierte Leistung, die es zu erhalten und zu pflegen gilt. Kritisiert als „affirmative Kultur“ wurde dieses Kulturverständnis abgelöst durch einen kulturanthropo-logisch und ethnokulturanthropo-logisch begründeten (erweiterten) Kulturbegriff. Heinrichs bezweifelt, ob es heute noch notwendig ist von einem „erweiterten“ Kulturbegriff zu sprechen: „Was in den siebziger Jahren als revolutionär empfunden wurde, nämlich die Einbeziehung der Alltagskul-tur in unseren KulAlltagskul-turbegriff, ist uns heute eine Selbstverständlichkeit. Für einen engen Kul-turbegriff haben wir den Begriff ‚Kunst‘, alles, was mehr ist, meint ‚Kultur‘“ (Heinrichs 1993:19). Die Kulturpolitische Gesellschaft spricht heute nicht umsonst im Plural von „Kul-turverständnissen“ (KuPoGe IV/1996:20) – es gibt keine verbindlichen Normen, auf die sich Aussagen zu einem einzigen, allgemein gültigen Kulturverständnis stützen lassen. Was wir heute unter Kultur verstehen, entsteht und ändert sich in ständiger öffentlicher, kulturpoliti-scher Diskussion und zeigt sich so als diskursiver Kulturpolitikbegriff. Er existiert nicht au-ßerhalb der kulturellen Praxis konkret interagierender Menschen.

Aber nicht nur unser Verständnis von Kultur hat sich gewandelt, auch unser Kunstverständnis ist ein anderes geworden: Das „Gute, Wahre und Schöne“, unter deren Flagge die Kunst noch in den ersten Nachkriegsjahren segelte, bekam bereits in den sechziger Jahren erste Brüche.

Die moderne Musik, die bildende Kunst und das Theater, der neue deutsche Film – sie alle entwickelten neue ästhetische Selbstverständnisse und innovative Präsentationsformen. Sie knüpften in eigenständiger Form an eine künstlerische Praxis (etwa des Dada) an, in der Res-pektlosigkeit, Widerstand, Protest und Experiment einen hohen Stellenwert hatten. Sie sorgten so für ein völlig neues Kunstverständnis – voller differenter und konträrer Sichtweisen und In-terpretationsmöglichkeiten.

Die scheinbar zeit- und fraglosen Werte, wie „das Gute, Wahre, Schöne“ sind seit jener Zeit ins Wanken geraten. Damit sind die alten Wertorientierungen zwar nicht verschwunden, sie existieren jedoch „nicht mehr in ihrer alten selbstverständlichen Gültigkeit“ (Negt 1996: 21).

Die Anomie wird zum Zustand der Normalität, es gibt keine gültigen Wahrheiten. Dennoch

gibt es eine ständige Suche nach ihnen. Aber es ist schwer geworden für den Einzelnen in seiner Orientierungssuche: Da es keine allgemein gültigen Wahrheiten gibt, kann es auch kei-ne Wahrheitskenkei-ner, Wahrheitsverwalter oder Wahrheitsverkünder geben. „Viele Dinge, die in einem noch existierenden selbstverständlichen Kulturzusammenhang Vorgaben machen, ohne dass der Einzelne jetzt individuell auf die Suche gehen müsste, etwas selber zu finden, sind brüchig geworden... Wahrheitsversprechung, Sicherheitsversprechen, ontologische Wahrheiten, Gewissheiten unter Opferung meiner eigenen Reflexion“ kann es nicht mehr geben (Negt a.a.O.).

Wenn wir, wie wir es heute tun und tun müssen, unter Kulturarbeit das engagierte Interesse für das jeweils neu zu Bestimmende und zu Begründende, das Widersprüchliche, das Fremde, das Konfliktträchtige, das Unerprobte und Experimentelle einrechnen, so hebt sich eine Kul-turarbeit auf, die sich im Sinne der einleitenden Beschreibung (vgl. 3.1) über didaktisch-methodisch realisierbare Ziele und damit zugleich über kulturelle Hegemonie- und Herr-schaftsansprüche definiert.

Kulturarbeit als historisch-gesellschaftliches Projekt befähigt und zwingt zur kulturel-len Selbstvergewisserung auf einem Feld vielfältiger Deutungsmöglichkeiten, der Pro-zess der Identitätsfindung beinhaltet so auch das Durchschauen und Lösen von Macht-abhängigkeiten und Machtstrukturen. „Wenn wir in unseren kulturellen Zusammen-hängen nicht daran gehen, auch die Machtpotentiale, die dahinterstehen, ... anzugreifen, dann werden wir auch nicht jenen Bereich besser beackern können, den wir als Kultur bezeichnen“ (Negt a.a.O.).

Damit muss der Begriff einer „Zielgruppe Senioren“ nicht nur aus Kulturmanagement-Gesichtspunkten (s.o.), sondern auch und vor allem aus kultureller Begründung kriti-siert werden. In der Kulturarbeit kann es nur aktiv Beteiligte, Akteure geben, die alle-samt Verantwortung tragen für eine individuelle und gesellschaftliche kulturelle Orien-tierung.

Was Detlef Knopf bezogen auf die Erwachsenenbildung postuliert, gilt in noch höherem Ma-ße für die Kulturarbeit: Sie kann nur dann Relevanz für die Lebensgestaltung des Einzelnen beanspruchen, wenn radikal gebrochen wird mit der Vorstellung, sie könne in der Begleitung lebenslanger Lernprozesse zielsicher die Richtung angeben. Allenfalls kann sie „angesichts zieloffener Entwicklungsprozesse ... kurzzeitig Perspektiven vorgeben ... , denn jene Ziele werden im Prozess durch die Lernenden gefunden und mitbestimmt“ (Knopf 1999: 12).

3.3 Kultur im Alter: Problemaufriss und These

„Young Oldies“ werden sie genannt oder auch nur „Oldies“, die „Empty-Nesters“, „Grufties“,

„Eldies“, „Woopies“ (well-off-older people), die „Uhus“ (Unter-Hundertjährige), die „Top- Fifties“, die „Go-Goes“, „Slow-Goes“, „No-Goes“, die „Kukidents“, die „Silverkids“ und

„Greyhounds“, die „Graue Front“, die „Grauhaarigen“, die „Verrenteten“, die „Bejahrten“

und „Enthaarten“.

Freundliche Necknamen für die Alten könnten hinter dieser Reihe von Altenbenennungen vermutet werden. Liegt doch eine spontane Assoziation zu den Termini im Jugendbereich nahe:

„Trasher“, „Waver“, „Raver“, „Rapper“, „Technos“, „Metals“, „Grunger“, „Slacker“, „Pea-cer“, „Yippies“, „Yuppies“, „Freaks“, „Indies“, „Faschos“ und „Hardcores“, „Prollheads“,

„Mainstreams“ und „Neutralos“ – um mit diesen nur wenige Bezeichnungen aus einer auch für professionelle Jugendforscher inzwischen unüberschaubaren Menge herauszugreifen.

Doch die Assoziation trügt, die Entsprechung ist eine rein lautliche, sie ist scheinbar und vor-dergründig, denn bei genauerer Betrachtung erkennt man den feinen und zugleich fundamen-talen Unterschied: Während sich die ironisierenden Bezeichnungen bei den alten Menschen nur auf das Alter selbst, den Zustand oder die Höhe des Lebensalters beziehen, kennzeichnen die für die Jugendlichen oder jungen Erwachsenen die verschiedenen Zugehörigkeiten zu un-terschiedlichen Szenen, Kulturen oder Subkulturen – zu politischen, sozialen, kulturellen Gruppierungen, wollen hochdifferenzierte Lebensstile ausdrücken, identitätsstiftende Kunst-, speziell Musikrichtungen, oder auch unterschiedliche abgrenzende Bildungsstände. Die Be-zeichnungen für Jugendliche sind also kulturelle Differenzierungen, kennzeichnen eine Viel-falt von Jugendkulturen, während die für die Alten allenfalls Lebensalterdifferenzierungen darstellen.

Es könnte dies eine Bestätigung sein für die pessimistische Einstellung, wie sie in der Altersli-teratur immer wieder vertreten wird – dass nämlich eine eigene Alterskultur nicht entwickelt worden sei. Etwa bei Pauli: „Eine eigene Alterskultur, die Wert und Sinn jenseits der Leis-tungsgesellschaft stiften könnte, ist bislang nicht ausgeprägt“ (DIFF 1997: 10). Eine so vor-sichtig hoffnungsversprechende Einschränkung wie „bislang“ fehlt bei Mader, definitiv kon-statiert er, dass „es keinen etwa der Jugendkultur vergleichbaren kulturellen Kontext für alte Menschen gibt, der ihnen in ihrem Alter Orientierung und Struktur geben könnte... Es gab und gibt keine Klasse und keine Schicht alter Menschen. Es gibt keine kulturelle Aufgabe, die spezifisch den Alternden zugeschrieben werden könnte“ (Mader 1994: 96).

Sollten die beiden Autoren recht haben? Verzehren die Alten nur die Brosamen vom Tische der (jüngeren) wohlmeinenden Kulturträger? Sind sie undankbar noch dazu, wollen nicht alles nehmen, verschmähen Gebotenes, „wollen immer nur die Leckerbissen“, wie die Leiterin der Senioren-VHS einer Kleinstadt im Vorfeld dieser Untersuchung beklagte? Oder handelt es sich bei den Aussagen zu einer nicht entwickelten eigenen Alterskultur nur um ein negatives Altersbild? Wäre das Bild vom Alter als einer „kulturfreien Zone“ den defizitären Alternsbil-dern zuzurechnen, ähnlich denen der Armut, Krankheit und Hilflosigkeit? Diesen Fragen nachzugehen ist die Aufgabe der vorliegenden Untersuchung. Sollte sich das Alter tatsächlich als defizitärer Zustand, als ein kulturloser Status erweisen, so wäre die gesellschaftlich not-wendige Konsequenz tatsächlich, entweder (sonder-, sozialpädagogisch) kompensatorisch oder im fürsorgenden, wohltätigen Sinne mit allerlei freundlichen Angeboten aus dem „kultu-rellen Kontext“ der Jüngeren wirksam zu werden, um ihnen eine „kulturelle Aufgabe“ zuzu-schreiben, die „ihnen in ihrem Alter Orientierung und Struktur geben könnte“ (s.o.), die so für die „Verschönerung des Lebensabends“ sorgen könnte. Das bedeutete, Alterskultur existierte nur im Zuwendungsrahmen einer kompensatorischen Pädagogik oder einer karitativen Sozial-arbeit.

Die andere Möglichkeit wäre die, dass Pauli und Mader nicht recht hätten mit ihrer Annahme und dass sich bereits unmerklich und still das Alternsbild gewandelt hätte vom defizitären (hier: Kultur-) Zustand zum positiven Bild einer – wenigstens potentiellen – Kulturträ-gerschaft, dass also bereits eine Kultur existiert, „die spezifisch den Alternden zuge-schrieben werden könnte“ (s.o.).

Diese letztere Möglichkeit wird als These vorgestellt und im weiteren überprüft:

Das Paradigma eines kultur-losen Zustandes im Alter hat sich für die kulturelle Öffent-lichkeit noch weitgehend unbemerkt und unberücksichtigt gewandelt zum Paradigma einer selbstbestimmten und selbstbewussten eigenen Alters-Kultur.

Eine solche Annahme hat sich als Handlungsvoraussetzung bereits ansatzweise bestätigt und bewährt im Bereich der Marktwirtschaft, im Besonderen im Bereich der Werbung. Hier exis-tieren Differenzierungen des Alters nach Lebensstilgruppierungen. Dieser Umdenkungspro-zess könnte, wenn in diesen Bereichen bereits als profitabel genutzt, weitergedacht und unter-sucht werden im Bereich der Kultur. Notwendig ist ein differenziertes Alternsbild, in dem die Alten nicht als erdrückende und zu erduldende Restmenge, als Überbleibsel einer einst er-werbstätigen Gesellschaftsgruppe angesehen werden, sondern als eigenständige, eigensinnige Gruppe, deren Produktivität und Spezifität von der Gesellschaft als fruchtbar erkannt und an-erkannt werden muss, weil sie so und nur so zu deren Zukunftsbewältigung beitragen kann.

Die Vorstellung eines alternativen Altersbildes mit einer eigenen Alterskultur beinhaltet an-ders als das wenig störende, defizitäre Altersbild ein gesellschaftsgestaltendes, gesellschafts-veränderndes Moment. Dies muss nicht, wie in der jugendlichen Gegenkultur, Dimensionen von Revolte oder alternativen Existenzformen annehmen, da Alterskultur sich nicht gegen an-dere Existenzformen richtet. Die Gegenkultur des Alters bestünde wie jede anan-dere Kultur mit

Die Vorstellung eines alternativen Altersbildes mit einer eigenen Alterskultur beinhaltet an-ders als das wenig störende, defizitäre Altersbild ein gesellschaftsgestaltendes, gesellschafts-veränderndes Moment. Dies muss nicht, wie in der jugendlichen Gegenkultur, Dimensionen von Revolte oder alternativen Existenzformen annehmen, da Alterskultur sich nicht gegen an-dere Existenzformen richtet. Die Gegenkultur des Alters bestünde wie jede anan-dere Kultur mit

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