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5 Die Konstitution des Alters: Der lange Weg der alten Weisen über die soziale

8.4 Ergebnisse und Auswertung

8.4.2 Qualitative Analyse

8.4.2.3 Potentiale und Ressourcen

8.4.2.3.5 Fähigkeit zur Neubewertung von Zeit und Zeitverwendung

„Wenn du Glück hast, heißt Älterwerden, du wirst all die Sachen los, die nicht wichtig sind, du machst die Arbeit, die dich wirklich interessiert, und du verbringst deine Zeit mit den Freunden, die dir wirklich wichtig sind“ (Friedan 1997: 780).

Dieses Zitat des Fragebogens, das wie kein anderes auf ein Resultat der psychisch–

emotionalen, aber auch kognitiven Weiter- oder Neuentwicklung und auf eine Verhaltensän-derung im Alter abzielt, erreichte die höchste Zustimmungsrate sowohl in der Gruppe der älteren als auch in der der jüngeren Probanden: Elf klaren Bejahungen der Älteren stehen nur drei Verneinungen gegenüber und drei differenzierenden, zweifelnden Aussagen. Noch ein-deutiger scheint das Ergebnis bei den Jüngeren: zehn Zustimmungen gegenüber einer Ableh-nung und drei differenzierenden, zweifelnden Aussagen. Neben Bestätigungen, die aus den Erfahrungen mit den Eltern begründet werden (Pb 3j: „weniger Kompromisse“ als früher, Pb 11j: „interessante Freundschaften statt ‚Nummernsammeln‘“), schimmert in den Aussagen der Jüngeren zum Teil auch so etwas wie Neid durch: „Wenn das so ist, freu ich mich auf’s Äl-terwerden! ... halte (es jedoch) für Wunschdenken, wobei es natürlich immer ein Ziel sein sollte“ (Pb 10j), „Ich wünsche mir ... nicht erst ‚alt‘ werden zu müssen, um gemäß dieser

Aussage leben zu können!“ (Pb 4j), „Wenn das ‚Alter‘ bedeutet, will ich sofort alt sein!!!!“

(Pb 7j). Eigene Begegnungen mit „radikalisierter Zeiterfahrung“ (Rentsch 1992: 301) sind dafür oft ausschlaggebend, dass man die Möglichkeit von Prioritätensetzung im Alter als Zielzustand hoch schätzt: „Ich denke schon, dass man, je älter man wird, seine Zeit sinnvoller nutzen möchte und dass man auch oft das Gefühl hat, die Zeit rennt einem davon“, schreibt eine erst 25-Jährige, „... alles was mich nicht interessiert, ignoriere ich ... oder versuche es zumindest. Ich denke nicht, das ich das wirklich von mir behaupten kann, aber ich arbeite an mir, und ärgere mich auch, wenn ich Zeit mit etwas verschwendet habe, das mir nichts bringt, oder das mich nicht wirklich interessiert hat. So richtig ‚los‘ werde ich allerdings echt nicht alles. Es gibt auch immer noch Menschen, mit denen ich Zeit verbringe und mich, wie gesagt, danach über die verlorene Zeit ärgere“ (Pb 14j). Was zunächst wie rein ökonomische Ge-sichtspunkte klingt, sind bei näherem Hinsehen inhaltliche Wert-Begründungen: Selbst ge-wählte Schwerpunkte und Ziele verlangen eine ausschließliche Konzentration darauf, die „Sa-che“ lässt keine „Verzettelung“ zu. Diese Vermutung bestätigt sich in den Aussagen einer 27-Jährigen: „So, wie ich das beurteile, musst du schlau sein und jede Gelegenheit nutzen, die sich dir bietet, Sachen loszuwerden, die dir nicht wichtig sind, Arbeit machen zu können, die dich wirklich interessiert, und deine Zeit mit wirklich guten Freunden zu verbringen (du sparst damit auch eine Menge Zeit, wenn du nicht mit allen Idioten reden musst und kannst deine Arbeit tun)“ (Pb 5j). Der Aspekt des „Zeit sparen“ (Pb 14j „Zeit rennt ... davon“ oder

„verlorene Zeit“) wird inhaltlich als Kampf für persönliche Wertehierarchien gesehen, so auch das Eingeständnis von Pb 14j: „Ich denke nicht, dass ich das von mir behaupten kann, ...

arbeite an mir, ... ärgere mich, ... wenn ich Zeit mit etwas verschwendet habe, das mir nichts bringt, ... mich nicht wirklich interessiert“. Es geht also nicht um die Zeit, sondern um die

„Sache“, die Bedeutung, den Rang der Ziele. Es geht nicht um die Effektivität der Zielverfol-gung im betriebswirtschaftlichen Sinne, sondern es geht um eine persönliche, individuell be-friedigende Zielfindung, um die Frage, welchem Zweck und welcher Handlung zur Verwirk-lichung dieses Zweckes man seine (begrenzte Lebens-) Zeit widmet. Auch hierin findet man die Bestätigung bei Pb 5j, die ihre Aussage „du musst schlau sein“ vertieft als: „Schlau sein heißt: Du setzt deine Prioritäten ständig neu“ und später hinzufügt: „Ich versuche mich jetzt, soweit es geht, zu verwirklichen, und werde auch immer dafür kämpfen, dafür verzichte ich auch auf ein sorgloses Leben, das finanziell toll verläuft“. Weit weg von einem rein bzw. abs-trakt zeitökonomischen Denken also, sehr nahe dafür an der Idee einer individuellen Entwick-lung und Biografisierung – mit der WunschvorstelEntwick-lung, dies frei und unbehelligt von Unnöti-gem, LästiUnnöti-gem, weil „Zeit-Raubendem“ tun zu können:

„Sicherlich werden die sozialen Netzwerke kleiner, ... die Verkleinerung scheint ... aktiv mit-gesteuert zu werden ...“: Das Forschungsprogramm von Laura Carstensen (1992) über die sozio – emotionale Selektivitätstheorie zeigt sehr deutlich, dass der Abbau im Umfang des sozialen Netzwerkes nicht erst im Alter, sondern „bereits viel früher, meist mit der Familien-gründung einsetzt ... (es wird) der Kontext zu Personen gewählt, die emotional wichtig sind.

Das Erleben einer Begrenzung in der verbleibenden Zeit ist es dann auch, warum gerade alte Menschen sich auf wenige, emotional bedeutsame Kontakte zurückziehen und diese pflegen“

(M.M. Baltes 1996: 398).

„Das sind für mich zentrale Aspekte“, bestätigt Pb 4j, „wie ich mein persönliches Leben JETZT – oder zumindest NACH und NACH verwirklicht sehen möchte“. Und was bei Pb 5j

„Prioritäten setzen“ genannt wird, wird von Pb 10j als „Fokussierung auf die tatsächlichen Dinge“ beschrieben und auch hier wird die Hoffnung ausgesprochen, es mögen „Zeiten (kom-men), in denen es möglich ist, sich stärker auf das Wesentliche zu fokussieren“.

Die „Radikalisierung der Kostbarkeit von Zeit“ (Rentsch 1992: 100), wie sie offensichtlich hier bei den jungen Probanden empfunden wird und zum Ausdruck kommt, ist bei jüngeren Menschen nicht immer als vorhanden anzusehen: Es scheint die (nicht unbedingt selbst „ge-machte“) Erfahrung von Brüchen und Verlusten dazu zu gehören: Vier jüngere Probanden

sprechen ausdrücklich von Todesbegegnungen (Pb 10j, 9j, 5j, 4j), drei deuten sie an (14j, 8j, 12j). Das in diesem Item besonders zutage tretende hohe Problembewusstsein solcherart „eli-tärer“ junger Erwachsener spiegelt sich verstärkt in der Gruppe der Älteren:

Was bei den Jüngeren bereits mit Prioritätensetzung oder Fokussierungen beschrieben wird, deuten Ältere als „Selektion“, „Chronisierung“, „Entkrampfung“ und „Privileg“ – die Selbst-bestimmung über interessant definierte Zeit und Sozialkontakte: „Chronisieren und Selektie-ren, die Tendenz ist, wenn nicht mehr soviel Pflichtarbeit anfällt, und wenn nicht mehr soviele Menschen an einem hängen, tatsächlich drin. Und weil man einsamer wird, entwickelt man auch den notwendigen Egoismus, zu sagen: DAS will ich nicht mehr! Das setze ich jetzt durch – vor allem, wenn man niemandem damit schadet“ (Pb 5a).

Zwei wesentliche Aspekte des Eingangszitates zu behutsamem und würdigendem Umgang mit Zeit werden in dieser Aussage deutlich. Das ist einmal das Motiv des Nichtmehr-Wollens, des Anspruchsvoll-Geworden-Seins, Aus-Zwängen-Lösens, das in den Aussagen der Älteren vermehrt auftritt ( Pb 12a: „Mein Freundeskreis hat sich ... damit auch ziemlich entkrampft“, Pb 4a: Es gibt Dinge, die will ich nicht mehr“, Pb 10a: „Ich bin in diesem Bereich wähleri-scher geworden. Ich möchte meine Zeit nicht mehr mit oberflächlichem Gerede vergeuden“, Pb 14a: „Ein Privileg des Alters ist es, sich frei zu machen von Zwängen...“). Die Begriffe

„anspruchsvoll“, „wählerisch“ und „Privileg“ weisen auf die Entsprechung zum Selektions-Aspekt der Jüngeren hin: Nicht auf eine Auswahl gleichwertiger Angebote wird verwiesen, sondern im Vordergrund steht eher eine Abwahl des als nicht so wertvoll erachteten („ver-geuden“, „freimachen“, „entkrampft“). Es sind also Wertungen, die zur Einschränkung ge-führt haben, eine Hierarchisierung von Freunden und Arbeiten hat stattgefunden.

Das zweite Moment allerdings beweist, dass diese Hierarchisierung in aller Behutsamkeit vor-genommen wird, die Abwahl der weniger wichtigen Kontakte verläuft rücksichtsvoll: Trotz allem persönlichen, individuellen Eigensinn wird die Einschränkung getroffen, „wenn nicht mehr so viele Menschen an einem hängen“, „wenn man niemandem damit schadet“.

Dies trifft die einschränkende Sorge, die zwei ältere Probanden bewegt hatte, dieses Item als gesellschaftlich bedenklich einzuschätzen. Es dürfe nur gelten, „soweit Selbstverwirklichung in sozialem Kontext verfolgt wird“, mahnt Pb 7a, dann „ist sie natürlich für den Einzelnen ei-ne bereichernde Erfahrung“. Allerdings befürchtet er: „Die Selbstverwirklichung im heute zu-meist verstandenen Sinne ist ein Merkmal des Lifestyle und keine eigentliche Lebenshaltung für verantwortliche Menschen“. Auch Pb 3a erkennt im Fragebogen-Zitat die „Folge: Ent-wicklung zum Egoisten, Gesamtverantwortung schwindet Richtung Gleichgültigkeit“. Pb 5a hatte wohl gleichermaßen diese Gefahr im Sinne, als er die angestrebte Chronisierung und Se-lektion einschränkte mit den Worten: „wenn nicht mehr so viele Menschen an einem hängen ... vor allem, wenn man niemandem damit schadet“.“ Pb 4a, die die Zitat-Aussage des Frage-bogens mit den Worten unterschreibt: „Mit zunehmendem Alter habe ich Kompromisse nur ungern akzeptiert“, schränkt ebenfalls ein: „Schwerpunkte setzen, wo es ... niemandem weh-tut“.

Neben dieser vermuteten und befürchteten gesellschaftlichen Gefahr einer Vernachlässigung sozialer Belange kam eine weitere kritische Würdigung zum Ausdruck: Mit einer individuell befriedigenden Zeitwürdigung könnte die Gefahr der Vereinseitigung und Beschränkung ein-hergehen, dies wurde von einigen Probanden deutlich angesprochen. Die Formulierungen des Fragebogenzitates („Sachen, die nicht wichtig“, „Freunde, die wirklich wichtig“ sind), waren ihnen der Anlass zu einer kritischen Reflexion:

„Was ist wichtig?“ fragt Pb 19a, „Was ist unwichtig?“ fragt Pb 18a. Und ein 76-Jähriger stellt fest: „Wie viel ‚Unwichtiges‘ wird manchmal jetzt erst wichtig“ (Pb 8a). „Gerade im Alter werden viele Kleinigkeiten wichtig, um mit seinem Leben klarzukommen“, ergänzt Pb 18a und beschließt: „Oftmals sind es doch die Banalitäten, die das Zusammensein mit Freunden erst richtig schön machen“. Ein 56-Jähriger sieht in der Auswahl nach Wichtigkeitsbewertun-gen eine Restriktion seiner Erfahrungsbreite: „Es ist nicht mehr das breite Leben, ich denke,

es schränkt mein Denken und Erleben auch ein. Was mir wirklich wichtig ist, ergibt sich oft hinterher“ (Pb 17a). In weiteren Stellungnahmen bestätigt sich: Nicht in der Konzentration auf Gewähltes (Selektion) besteht die Tendenz, sondern es wird eine einschränkende Abwahl (Reduktion) darin befürchtet. „Nach dieser Version schläft man langsam ein, nachdem sich alles reduziert, auch die Freunde“ (Pb 19a) kritisiert ein 60-Jähriger die Zitat-Aussage und wird darin unterstützt von einer jungen Frau, die in einem ausschließlichen Leben der „wirkli-chen Interessen“ mit „interessanten Freunden“ eine Gefahr des „spießig und unflexibel wer-dens“ (Pb 6j) erkennt. Fast altersweise klingt dazu die Stellungnahme einer 27-Jährigen, die konklusiv die diskrepanten Gedanken der Teilnehmer zu vereinen vermag: „Nach H’s Unfall habe ich nur noch mit meinen guten Freunden Sachen unternommen. Aber nach einiger Zeit hat mir einfach der Input gefehlt. Wie überall ist es wichtig, hier auch das richtige Maß zu fin-den. Sonst wirst du irgendwie übersensibilisiert und reagierst extrem auf gewöhnliche Situa-tionen oder Eigenschaften in deinem Freundeskreis. Natürlich spreche ich hier von meinen Erfahrungen, aber ich hab gemerkt, dass es mir gut tut, mich auch hin und wieder meinen gu-ten Freunden zu entziehen und mich dem restlichen Volk zu stellen, allein um zu kommuni-zieren, Smalltalk, Schlagfertigkeit zu demonstrieren, mich ganz sicher auch zu präsentieren und Feedback zu bekommen. Ja, auf das richtige Maß kommt’s an“ (Pb 5j). Ganz deutlich in diesen Worten die Erkenntnis ungewollter Nebenerscheinungen bei einer Konzentration auf bereits im Vornherein als „interessant“ bewertete Kontakte und Tätigkeiten: Es fehlen wesent-liche Momente im Selbstfindungs- und Entwicklungsprozess (Input und Feedback durch Kommunikation und Präsentation).

Zusammenfassung

„Zwischendurch, so mit 50 hatte ich wirklich mehr das Gefühl, so handeln zu müssen, wie es in dem Zitat steht. Inzwischen lasse ich mich wieder mehr treiben und gewinne vielen, auch scheinbar unwichtigen Dingen für die ich mich zu entscheiden die Freiheit habe, mehr ab ...

Diese Beschränkung auf das, was einem wichtig erscheint, hat so etwas wie Nützlichkeits-, Zweckbezogenes, die Zeit mit den wichtigsten Freunden so etwas Zweckgeplantes, Einge-schränktes ... Ich glaube, ich habe eigentlich nichts und niemanden, von dem ich sagen möch-te: ‚So, das mache ich jetzt nicht mehr, damit beschäftige ich mich nicht mehr, mit dem treffe ich mich nicht mehr, das bringt nichts‘. Solche Entscheidungen sind eher von Sympathie, Nei-gung, Bequemlichkeit und Situation bestimmt als von Zweckmäßigkeit, Nützlichkeit, Wich-tigkeit“ (Pb 17a).

Es liegt in dieser Darstellung der Schlüssel zur Lösung der Spannungen zwischen den ver-schiedenen Beiträgen der Probanden: Die Auswahlvorstellung, der Selektionsgedanke in Bezug auf Freunde und Tätigkeiten, wie er im Fragebogen-Zitat zum Ausdruck kommt, hat als Hintergrund nicht einen Profit- oder Rentabilitätsaspekt – genau auf den zu ver-zichten ist das „Privileg des Alters“ – , sondern ausschlaggebendes Kriterium ist der Zu-wendungsgedanke, dem man sich, vielbeneidet von den Jüngeren, hingeben kann („für die zu entscheiden ich die Freiheit habe“).

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