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Gesellschaftspolitische Realitäten: Immer mehr und immer einsamer? Oder: Wo

5 Die Konstitution des Alters: Der lange Weg der alten Weisen über die soziale

6.1 Soziostrukturelle Veränderungen des Alters und die widersprüchliche

6.1.1 Gesellschaftspolitische Realitäten: Immer mehr und immer einsamer? Oder: Wo

„Am Altersaufbau der Bevölkerung lässt sich ablesen, wie sich das Verhältnis der jüngeren zur älteren Generation entwickelt“ (hier ist unter „Verhältnis“ nur das rein statische zu verste-hen). „Bereits heute ist die Bundesrepublik Deutschland – wie die meisten Industrieländer – durch eine verhältnismäßig schwach vertretene junge Generation gekennzeichnet. Die Le-benserwartung (im früheren Bundesgebiet und in den neuen Ländern) wächst, und schon da-durch verschiebt sich die Altersstruktur ständig zugunsten der älteren Menschen. Modellrech-nungen zur Bevölkerungsentwicklung zeigen, dass bereits in wenigen Jahren in Deutschland

mehr 65-Jährige oder ältere Menschen als 15-Jährige und jüngere leben werden.“ (Statisti-sches Bundesamt 2000).

Quelle: Statistisches Bundesamt 2000-15-0346, in: DJI Bulletin 54, Mai 2001Leipzig

Diese Entwicklung errechnet sich aus dem derzeitigen Altersprofil der Bevölkerung: Die ste-tige Steigerung des Anteils Älterer (das sind in diesem Zusammenhang die über 65-Jährigen) an der Gesamtbevölkerung wird also auf zwei Ursachen zurückgeführt: Zum einen führt eine Mortalitätsverlagerung zur Zunahme von alten Menschen, zum anderen die Fertilitätsredukti-on, d.h. eine ständige Abnahme der Geburtenzahlen. Wanderungsbewegungen als dritte Mög-lichkeit können aufgrund ihres unwesentlichen Einflusses unberücksichtigt bleiben (vgl. Din-kel 1992). Die Zunahme der Älteren in der Bevölkerung ist einmal also eine absolute (Ver-mehrung der Personenzahl durch höhere Lebensdauer), zum anderen eine relative, rein ver-hältnismäßige (Abnahme des Anteils der Jüngeren in der Bevölkerung), wobei festzustellen ist, dass „Fertilitätsvariationen ... für Veränderungen der Alterstruktur größere Bedeutung als Mortilitätsvariationen“ zukommen (Dinkel 1992: 68).

Ungeachtet der skizzierten Ursachen ist damit, so stellt Lehr fest, „die ausgeglichene Bevöl-kerungspyramide von 1910 aus der Form geraten“ (1996:44).

Mit dieser Entwicklung steht Deutschland nicht alleine da: In allen Industriegesellschaften ist der Anteil der Älteren an ihrer jeweiligen Gesamtbevölkerung stark angestiegen. Und selbst

„in den Entwicklungsländern stieg die Lebenserwartung bereits von etwa 35 bis 40 Jahren im Jahre 1950 auf 61 Jahre (1990), nachdem sich u.a. die Gesundheitsversorgung und die hygie-nischen Bedingungen verbessert haben“(Microsoft Encarta Enzyklopädie 2000, 1999). Welt-weit wird nach einer Prognoserechnung der WHO die Gesamtbevölkerung der Entwicklungs-länder bis zum Jahre 2020 um 95% ansteigen, die Zahl der älteren Menschen dagegen um 240%.

Ist die Tendenz zu einer „ergrauenden Welt“ also ein offensichtlich weltweites Phänomen, so zeigt sich in Europa, dass Deutschland mit seiner Bevölkerungsentwicklung zwar einer allge-meinen Entwicklung entspricht, dies dennoch in nur bescheidenem Maß. „Die höchsten Be-völkerungsanteile oberhalb von 60 oder 65 Jahren weisen im Moment die skandinavischen Länder und die Schweiz auf. Sowohl die alten als auch die neuen Bundesländer liegen ... nur im Mittelfeld“ (Dinkel 1992: 65)(vgl. dazu auch Abb. 6 aus Lehr 1996: 51). Bis zum Jahre 2040 gar rechnet man damit, dass „ca.37% der Bevölkerung Deutschlands 60 Jahre und älter sein wird“ , schreibt Lehr und appelliert: „Wir müssen die Herausforderung einer alternden Gesellschaft erkennen und annehmen“ (a.a.O. S.45).

Diese Herausforderung zeigt sich in den letzten Jahre deutlich in der insbesondere von den Medien immer wieder beschworenen Aufkündigung des „Generationenvertrages“. „Nach ei-ner Untersuchung des Allensbacher Institutes für Demoskopie vom Herbst 1996 sind fast 50%

der Meinung, daß der Generationenvertrag gefährdet sei. Allerdings war die Frageformulie-rung des Allensbacher Instituts stark krisenorientiert und stand zu sehr unter dem Einfluß der von den Medien überwiegend veröffentlichten, ganz undifferenziert artikulierten Erwartung des Generationenkonfliktes. Bei den 16-29-Jährigen sind es laut dem Allensbacher Institut fast 2/3 der Befragten, die den Generationenvertrag gefährdet sehen.... ". Ebenfalls in dieser Altersgruppe sind „es 40%, bei den 60jährigen und Älteren verständlicherweise nurmehr 10%, die der Auffassung sind, daß die Alten ‚auf Kosten der Jungen leben‘. Diffuse, ökono-misch und arbeitsmarktpolitisch verständliche Zukunftsängste der Jungen sind durch die brei-te Formulierung ‚Generationenkonflikt‘ auf die Schienen eines vorwegnehmenden Pessimis-mus gelenkt worden“ (Rosenmayr 1998: 24). Geschürt wird die Angst zudem durch eine un-zulässige Vermengung der „Alten“ (über 65-Jährigen) mit frühberenteten Endfünfzigern und einkommenslosen, ökonomisch abhängigen jungen Menschen, so dass der 3-Generationen-Vertrag zu einem 5-Generationen-3-Generationen-Vertrag hochgetrieben wird: „Die Generation der Erwerbs-tätigen (25-58-Jährige) hat für zwei Generationen der Noch-Nicht-ErwerbsErwerbs-tätigen zu sorgen und für zwei Generationen im Rentenalter“ (Lehr 1996: 60).

Dies wären in der Tat beängstigende Aussichten und so fragt Rosenmayr unter diesem Angst-Altersbild denn auch rhetorisch: „Wird der Generationen-Krieg unsere Zukunft bestimmen?“

um dann nüchtern analysierend festzustellen: „Sowohl das Pensionsalter, besonders die Früh-pensionspraxis können geändert, der Wohlfahrtsstaat kann (könnte) durch Eigen- und Außen-ressourcen gestützt und entscheidend ergänzt werden...Die demographische Bilanzierung der Altersgruppen allein führt hinsichtlich der Finanzierbarkeit der Älteren und Alten in die Irre.

Entscheidend sind die Werte, die durch die Aktivbevölkerung volkswirtschaftlich produziert werden und dann zur Umverteilung gelangen können, ebenso modifizieren Selbsthilfe und das Gesundheitsverhalten der Alternden die Gegenüberstellung“ (Rosenmayr 1998: 30).

Abgelehnt wird das negative Altersbild der „Abgabenabsauger“, wie es u.a. auch von Grone-mayer (1989) publiziert wurde, von Baltes, der dem ein positives Solidarbild entgegensetzt und dies mit psychologischen und soziologischen Befunden belegt: „Wenn Personen ver-schiedenen Alters zur Generationsdynamik befragt werden, so zeigen die meisten eine große Bereitschaft des Gebens in der Generationenfolge, und zwar nach oben wie nach unten...Die antizipierte und erlebte Solidarität zwischen den Generationen ist also beträchtlich... Diese Befunde geben auf sozialpsychologischer Ebene eher Anlaß zur Entwarnung, wenn sie auch nicht bedeuten, daß die weitere Ausgestaltung einer Kultur des Alters nicht doch einen zeit-weiligen Dissens zwischen den Generationen mit sich bringen wird (Mayer et al., 1992)“

(P.B. Baltes1996: 58).

Der zweite Aspekt, der in der Veröffentlichung des Statistischen Bundesamtes als demosko-pisch auffallend erwähnt wird, ist der Trend zum Ein-Personen-Haushalt: Er widerspiegle u.a.

die Einstellung zur Familie (wobei dieser qualitative Aspekt nur erwähnt, nicht aber ausge-führt wird). „Haushalte mit mehr als fünf Personen sind nur noch äußerst selten vorzufinden, während die Zahl der Ein-Personen-Haushalte ständig wächst.“ Dabei ist diese Zeiterschei-nung nun tatsächlich nicht zurückzuführen auf den neuen Trend des Single-Lebens der groß-städtischen „Yuppies“ (wenngleich diese zur gesellschaftlichen Anerkennung des Alleinle-bens beigetragen haben), sondern der Älteren: „Etwa 40% der über 65-Jährigen leben alleine.

Je älter die Personen sind, desto häufiger wohnen sie in Ein-Personen-Haushalten“ (Schacht-ner 1992:248). Bereits rund 2/3 der 75-Jährigen und Älteren leben alleinstehend (Statistisches Bundesamt 1991). Der Begriff „Singularisierung des Alters“ kennzeichnet diese Entwicklung, er soll ausdrücken, dass mit zunehmendem Lebensalter der Anteil Alleinstehender/

Alleinle-bender zunimmt: „Waren um die Jahrhundertwende nur 7,1% aller Haushalte Ein-Personen-Haushalte, 1950 bereits 19,4%, so waren es 1981 insgesamt 30,8% und 1995 schließlich 34,2%. In manchen Großstädten sind heute bereits 50% aller Haushalte Ein-Personen-Haushalte, die man vor allem bei den unter 30jährigen und über 60jährigen findet“

(Lehr1996: 59).

Eine geradezu dramatische Vision der Alterssituation entwickelt Schachtner aus diesen demo-graphischen Daten: „Doch das Alleinewohnen hat auch Schattenseiten. Vereinsamung droht, sobald körperliche Gebrechen das Verlassen der Wohnung erschweren. Die Tage werden lang, das Kochen und Putzen geht nicht mehr so schnell von der Hand und manchmal geht es überhaupt nicht mehr.“ (Schachtner 1992: 248). Rosenmayr (1998) warnt vor einer solchen weit verbreiteten und immer wieder multiplizierten negativen Koppelung des objektiv fest-stellbaren überwiegenden Alleinlebens mit einem subjektiv empfundenen Zustand der Ein-samkeit: Die hohe Quote von Alleinlebenden ist nicht zugleich als Disposition zur Einsamkeit zu interpretieren. Dies entspräche eben den Vorurteilen, die in 3.1 bereits als verantwortlich für die Verfertigung negativer Altersbilder festgestellt wurden.

Auch in der sehr ausführlichen Kölner Seniorenbefragung 1988 war nach einer Untersuchung der Haushaltsformen ein Ergebnis, dass 37% der Senioren allein leben. Die erste daraus fol-gende besorgte Frage war, „ob die alleinlebenden Senioren in die Gefahr der sozialen Isolati-on geraten“ (Stadt Köln 1989:43). Eine Folgeuntersuchung über mögliche und tatsächliche Sozialkontakte kommt jedoch zu dem Ergebnis: „Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der überwiegende Teil der Kölner Senioren durchaus nicht in Gefahr der sozialen Isolation gerät, so weit es die Quantität von sozialen Kontakten angeht“ (ebenda S. 47).

So zieht Nägele nicht zuletzt aus dieser Untersuchung den Schluss „Singularisierung im Alter ist nicht ohne weiteres auch mit Isolation und Vereinsamung gleichzusetzen“ (Naegele 1992:

385). Die Einschränkung „nicht ohne weiteres“ lässt die Vermutung zu, dass eine Möglichkeit der Vereinsamung durchaus vorhanden ist. Dies wird bestätigt durch M. Baltes, die über ein Forschungsprogramm von Laura Carstensen jedoch zugleich einschränkend feststellt, dass ein

„Abbau im Umfang des sozialen Netzwerkes nicht erst im Alter, sondern viel früher, meist mit der Familiengründung, einsetzt“ (M. Baltes 1996:398). Es sind also andere Faktoren au-ßerhalb des Alters für eine Vereinsamung verantwortlich. Diese werden bei Lehr (1996) ex-plizit benannt als eine Funktion der Erwartungshaltung und eine Funktion der Langeweile, außerdem auch im Zusammenhang mit psychischer Abhängigkeit. Auch Lehr stellt jede gene-ralisierende Aussage über die „Einsamkeit des Alters“ stark in Frage. Generell von einer Iso-lierung älterer Menschen zu sprechen, entspräche zwar einem weitverbreiteten Bild in unserer Gesellschaft, beruhe jedoch auf stereotypen Vorstellungen. Ebenso spricht M. Baltes in die-sem Zusammenhang von einem „gesellschaftlichen Stereotyp“ und differenziert: „Obwohl die Zahl der einsamen Menschen mit dem Alter leicht ansteigt, sind ... alte Menschen im großen und ganzen sozial kompetent und berichten, mit ihrem Sozialleben zufrieden zu sein“ (a.a.O.).

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass mit der unterschiedlich möglichen Konsti-tuierung von Alterswirklichkeiten zugleich eine Möglichkeit unterschiedlicher Lebens-entwürfe und Optionen gegeben ist, eine subjektive Erschließung von Alter möglich wird. Es soll im Folgenden untersucht werden, wie diese Möglichkeit verwirklicht wer-den kann. Festzuhalten ist zunächst, dass diese Möglichkeit überhaupt besteht unter wer-den oben erörterten Aspekten des gesellschaftspolitischen Bereiches. Der „Abschied vom Prinzipiellen“ (Glaser) gilt sowohl für den persönlichen und zwischenmenschlichen Be-reich als auch für gesamtgesellschaftliche Beziehungen.

„Eine abnehmende Betonung garantierter kontinuierlicher Beziehungen und eine Bevorzu-gung individuell bestimmter (statt nach sozialen Erwartungen vorgezeichneter) Solidarität bilden eine neue Grundlage... Solidarität kann jedenfalls keineswegs mehr fraglos

vorausge-setzt werden. Es bedarf vielmehr einer ständigen Erneuerung und Neuverhandlung, was die Bedürfniserfüllung für alle Beteiligten zu einer schwer zu lösenden Aufgabe werden lässt“

(Rosenmayr 1998:37)

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