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5 Die Konstitution des Alters: Der lange Weg der alten Weisen über die soziale

5.5 Die Konstituierung des Altersbildes als kultureller Prozess

„Der alte Großvater und der Enkel“ – neben historischen, erkenntnistheoretischen, psycholo-gischen Deutungen lassen sich aus dem Märchen der Brüder Grimm interessante soziokultu-relle Folgerungen ziehen.

Die Verhaltensänderung der Umwelt (Gesellschaft) gegenüber dem Alter spielt eine nur scheinbare Verhältnisänderung vor: Mit dem Handeln gegen die eigene Aversion hat sich die Aversion ja nicht geändert. Die Aussage im Märchen „sagten auch nichts“ impliziert, dass über etwas geschwiegen wird, was – sonst wäre die Apostrophierung des Schweigens nicht relevant – aber doch gedacht wird. Die grundsätzliche, eigentliche Einstellung zum Alter, zum herrschenden Altersbild, ist also geblieben, sogar verfestigt worden: Mit einem morali-sierenden Hintergrund (Mitleid, Einsicht, Verständnis) bleibt das dem Gesellschaftssystem entsprechende negative Altersbild erhalten, wird sogar stabilisiert. Aggression oder Mitleid, Aversion oder Verständnis: Diese anscheinend widersprüchlichen Empfindungen richten sich doch gemeinsam gegen ein unangezweifelt negatives Altersbild.

Was im Märchen jedoch darüber hinaus mitgeteilt wird, ist die Abhängigkeit des „Objektes“

von der Einstellung seiner Umgebung: Dem alten Mann ist das gesellschaftliche Altersbild zum Selbstbild geworden. Äußerlich passiv und inaktiv verharrt er in der Ohnmachtstellung des Geduldeten, arbeitet mit am negativen Konstrukt Alter. Obwohl er möglicherweise etwas mitzuteilen hat, tut er dies nicht („er sagte aber nichts“), sondern nimmt die Rolle des in sein Bild Gelangten an.

Die Gesellschaft konstituiert ein bestimmtes Altersbild und evoziert damit entsprechende Verhaltensweisen: Ein Phänomen, das – in der Pädagogik seit den 50-er Jahren bekannt und unter dem Phänomen der „self-fulfilling prophecy“ (Mertons 1948) wissenschaftlich unter-sucht und unterschiedlich konzeptualisiert z.B. in den „interpersonal expectations“ (Blanck 1993) – seit etwa vierzig Jahren in der Gerontologie wahrgenommen wird. Zahlreiche For-schungsergebnisse und empirische Studien ließen Thomae 1968 auf dem 26. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Tübingen feststellen: „Altern ist heute primär sozi-ales Schicksal und erst sekundär funktionelle oder organische Veränderung“ (Thomae 1969:

23).

Negative Haltungen und Erwartungen gegenüber dem Alter beeinflussen das Verhalten und damit die Beziehungen der sozialen Umgebung älterer Menschen. So ergab sich in einem von Margret Baltes geleiteten Forschungsprojekt an der freien Universität Berlin, dass „die alte Person fast immer als hilfsbedürftig, unselbstständig, defizitär wahrgenommen wird. Interak-tionspartner älterer Menschen unterstützen die Abhängigkeit älterer Menschen und ignorieren ihre Selbstständigkeit. Dies trifft auch dann zu, wenn es objektiv und augenscheinlich nicht der Fall ist, wenn der ältere Mensch also selbst zu Autonomie und Selbstständigkeit neigt.“

(Baltes 1996:33).

Es scheint aus diesen Zitaten eine Dominanz des gesellschaftlich konstruierten Altersbildes hervorzugehen. Nach Thomae ist es das „Schicksal“ der Betroffenen sich dem Bild zu fügen, nach Baltes „neigt“ der ältere Mensch zwar zu Autonomie und Selbstständigkeit, fügt sich aber dem Bild der Umgebung, das seine individuelle Lage ignoriert.

Auch in der Psychologie wird mit dem Begriff „subjektives Altern“ eine eher gesellschaftli-che Prägung des Altersbildes beschrieben: „Ob jemand von sich selbst sagt oder ob von je-mandem gesagt wird, er sei für sein Alter noch sehr aktiv, leistungsfähig, sozial engagiert, hängt selbstverständlich ... von kollektiven oder individuellen Erwartungen ... ab. Dabei spielt das sozio-kulturell geprägte, oft stereotype Bild des Alterns und des Alters eine zentrale Rol-le“ (Weinert 1992: 188). Subjektive Wahrnehmungen, Erwartungen und Bewertungen bezie-hen sich auf das vorgeprägte Bild oder sind davon abhängig. Weinert spricht sogar ausdrück-lich von „gesellschaftausdrück-lich vermittelten persönausdrück-lichen Überzeugungen“ (a.a.O.).

Ebenso fremdbestimmt zeichnet sich das Selbstbild des Alternden bei Ursula Lehr: „Selbst-bild und Realitätsorientierung des älteren Menschen werden von ... Stereotypisierungen affi-ziert und bestimmen dann sein reales Verhalten“ (Lehr 1996: 309). Zwar schwächt die Geron-tologin im Folgenden diese Einwirkung auf „Einfluss“ ab („beeinflussen ... das Verhalten“

a.a.O., ff), an oben zitierter Stelle jedoch spricht sie eindeutig von „Bestimmung“ des Verhal-tens durch das Fremdbild.

Nun ist jedoch, wie aus der Geschichte der verschiedenen Altersbilder hervorgeht, nicht allein die Einstellung der Umwelt für das entstehende Altersbild verantwortlich. Die Gruppe der Al-ten war nie nur als Objekt, sondern immer zugleich auch als Subjekt an der Konstruktion der unterschiedlichen Altersbilder beteiligt, entweder machtvoll, aktiv, mitgestaltend oder aber durch ohnmächtige, geduldige Unterwerfung oder Anpassung wie im Märchen:

Menschen „setzen ... sich ihre eigenen Lebensziele und verwenden ihre persönlichen Maßstä-be, um ihren Fortschritt beim Erreichen dieser Ziele zu beurteilen. Gleichzeitig sind aber all-gemeine Lebensziele und Niveaus ... auch durch gesellschaftliche Gelegenheitsstrukturen und das kulturelle Wertsystem geprägt“ (Smith u.a. 1999: 498).

Nur in dieser dialektischen Perspektive sind die unterschiedlichen Altersbilder in der Ge-schichte und in differenten Gesellschaftssystemen erklärbar. Nur in dieser dialektischen Per-spektive sind unterschiedliche Konstruktionen von Alternsbildern möglich und erkenntnisthe-oretisch begründbar. „Umwelt ist für den Menschen immer, von Anfang an und in jeder Hin-sicht, eine subjektiv wahrgenommene, das heißt auch: gedeutete, interpretierte, gedanklich verarbeitete, konstituierte Umwelt. Niemals stehen sich Individuum und Umwelt sozusagen an einem Nullpunkt der Beziehung gegenüber. Menschliches Bewusstsein konstituiert sich in der aktiven, selektiven und interpretativen Auseinandersetzung mit derjenigen Umwelt, deren Konstitution Bestandteil der Bewusstseinskonstitution ist“ (Heid 1982:105)

In welchem Ausmaß der Betroffene aktiv oder „passiv“ an der Konstruktion seiner Le-benswirklichkeit beteiligt ist, ist bedingt durch seine von sozialen Definitionsprozessen abhängige Macht, seinen Fähigkeiten, seinen Ressourcen. Je stärker diese vorhanden sind und je wirkungsvoller sie eingesetzt werden können, desto positiver wird das

Al-tersbild konstituiert werden. Je weniger anerkannte Potentiale vorhanden sind, desto negativer zeigt sich das Alterskonstrukt, das die Gesellschaft, deren Teil die Alten dar-stellen, aufgrund dieser Schwäche entwirft.

Cicero verbindet mit einer solchen Erkenntnis zugleich einen Appell an die Eigenverantwort-lichkeit und die Selbst-Behauptung der Alten: „Denn nur dann steht das Greisenalter in Ehren, wenn es sich selbst verteidigt, wenn es sein Recht behauptet, wenn es sich niemandem skla-visch unterwirft“ (Cicero 1951: 43).

Die Machtmittel dazu sind bei Cicero ganz eindeutig Urteilskraft und Überlegenheit (Eigen-schaften, die wir heute dem Begriff der Weisheit zuordnen), sowie Ansehen. Andere Alters-potentiale, wie wir sie aus den geschichtlichen Altersentwürfen kennen, sind finanzielles Ka-pital, sozialer und politischer Einfluss, Bildung, Information und Wissen.

Je weniger diese Mittel vorhanden sind oder eingesetzt werden, oder je geringer sie von der Umgebung nachgefragt werden, desto „sklavischer“ muss der Betreffende sich der Alterskon-stitution der Umwelt unterwerfen.

So wird die Pflege und der Einsatz der persönlichen Potentiale im Alter, die Erschlie-ßung, Entwicklung und Stabilisierung der eigenen Ressourcen zugleich Mittel in einem Prozess der Identitätsfindung in einem gesellschaftsbestimmten Alterskonzept. Und in einem solchen Prozess ist bereits ein kultureller Akt zu sehen – Kultur verstanden im anthropologischen Sinne, wie sie lexikalisch beschrieben wird als die „Gesamtheit der typischen Lebensformen einer Bevölkerung, einschließlich der sie tragenden Geistesver-fassung, insbesondere der Wert-Einstellungen“ (Brockhaus: 1995).

Lebensformen, Geistesverfassung, Werteinstellungen sind nach diesem Kulturverständnis nicht als etwas Gegebenes, Statisches zu verstehen, sie entwickeln sich vielmehr ständig in einem diskursiven Prozess. Im Unterschied zum Begriff Natur bezeichnet Kultur nicht etwas

„Gegebenes“, sondern etwas von Menschen zu Gestaltendes, den Gestaltungsprozess selbst, oder, als Resultat, die gestaltete Wirklichkeit, also Wirklichkeitskonstrukte.

Entsprechend können wir so feststellen, dass Altersbilder nicht „natürliche“, „gegebene“ sind, sondern in dynamisch kulturellen Prozessen entstandene Konstruktionen, die – unstatisch und labil – ein ständiges Austarieren durch die Gesellschaft herausfordern und so auf ständige Entwicklung und Veränderung angelegt sind. Die jeweils „herrschenden“ Altersbilder sind nur Ordnungs-Systeme und als solche abhängig von den (gesellschaftlichen) Ordnungsbe-dürfnissen und Ordnungserfordernissen. Die in die Ordnungssuche einfließenden Fragen und Einstellungen korrigieren, stabilisieren oder verunsichern, sie sind Teil ständiger identitätsstif-tender Auseinandersetzung. In der Kritik, in der urteilenden Begegnung mit den scheinbar gegebenen Normen, Maßstäben und Werten sucht und erkennt der Einzelne sich, seine Über-zeugungen und seine Einstellungen, also seinen Standpunkt in der Gesellschaft.

Im Komplex kultureller Identitätsfindung des Einzelnen spielt neben anderem die Kunst i.w.S. (insbes. Bildende Kunst, Literatur, Musik, Architektur) als Teilbereich der Kultur eine zentrale Rolle. Hier wird der vorderste Rangplatz der Kunst als Teilbereich der Kultur deut-lich: Oft nahezu gleichgesetzt mit dem Begriff der Kultur, womit der herausragende Stellen-wert neben beispielsweise der Philosophie, Gesellschaftspolitik, Religion oder Pädagogik verdeutlicht sei, vermittelt sie durch das sinnlich erfahrbare Werk „die ästhetische Erkenntnis des Wirklichen“ (Brockhaus 1995). In der Entschlüsselung ihrer – durch die Offenheit gewalt-frei – vermittelten Zeichen und Zeichenkomplexe erfolgt die Wirklichkeitsdeutung und Wirklichkeits-be-deutung des Produzenten wie des aktiven Rezipienten als Subjekte kulturel-ler Praxis. In der introspektiven und extrospektiven Auseinandersetzung entstehen Bedeutun-gen jenseits des eiBedeutun-genen Horizontes und jenseits des historischen Diktats.

Auseinanderset-zung, Reflexion, Infragestellung der Objekte (des sog. Objektiven) bedeuten Teilhabe an der Konstruktion derart gefasster Lebenswirklichkeiten, sind kulturelle Arbeit, Leistung im ei-gentlichen Sinn. Dazu bedarf es der Fähigkeiten und Potentiale des Einzelnen, unabhän-gig von einem wie auch immer definierten Alter. Diese Fähigkeiten sind ungleich dem historischen Alters-Machtmittel des Finanzkapitals der Barockzeit, aber ähnlich dem Machtmittel der Weisheit in der Antike und im alten Israel.

Diese Fähigkeiten dürfen wir heute nach einer Definition des Deutschen Kulturrates unter den Begriff der kulturellen Bildung fassen. Sie hat die Aufgabe, ein bewusstes Verhältnis des Menschen zu sich, zu seiner Gesellschaft, zu seiner Geschichte zu entwi-ckeln. Ziel des kulturellen Bildungsprozesses ist die Entwicklung von Subjektivität, d.h.

Ermutigung und Ermöglichung des eingreifenden Handelns des Einzelnen.

6 Die widersprüchliche Konstituierung von Alter in der Moderne

Noch in den Fünfziger- und Sechziger Jahren gab es eine Reihe von Untersuchungen zum Bild des älteren Menschen in unserer Gesellschaft, deren wichtigste Ergebnisse Lehr zusam-menfasst als „grundsätzlich negativ gezeichnet, und zwar weit negativer, als es sich für die Gesamtheit der älteren Menschen vertreten lässt.... Stereotypien, unzulässige Verallgemeine-rungen herrschen vor“ (Lehr 1996:305). Wie zu Zeiten der Entstehung des Grimm‘schen Märchens „Der alte Großvater und der Enkel“ sind in diesen ersten zwei Nachkriegsjahrzehn-ten in den Äußerungen der BefragNachkriegsjahrzehn-ten die älteren Menschen als isoliert, vereinsamt, abhängig und hilfsbedürftig charakterisiert. „Darüber hinaus wird ein Abbau geistiger Fähigkeiten als geradezu selbstverständlich angenommen“ (Lehr1996: 304).

Mit Beginn der Achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts jedoch entstand Bewegung im allgemei-nen Bild vom Alter. In den Vereinigten Staaten wiesen Gerontologen (u.a. Lutsky) in einer Untersuchung nun eher neutrale, zum Teil sogar positive Einstellungen und Haltungen gegen-über dem Alter nach. Auch in Deutschland war nach verschiedenen Umfragen eine Änderung im Meinungsbildes vom Alter festzustellen: Die noch zwanzig Jahre zuvor überwiegend ne-gativen Altersstereotypien hatten sich zu Gunsten positiver verschoben: In zwei Untersuchun-gen des Allensbach-Institutes 1975 und 1989 äußerten 69 bzw. 65% der Befragten einen über-wiegend positiven Eindruck von älteren Menschen, einen ausdrücklich ungünstigen Eindruck nur 9 bzw. 10%. Dezidiertere Fragen nach bestimmten vermeintlichen Eigenschaften älterer Menschen mussten in einer Meinungsumfrage der Hamburg-Mannheimer-Stiftung für Infor-mationsmedizin (Arnold et al. 1989) beantwortet werden. Dabei ergab sich folgendes Bild:

Die Frage, ob Ältere „dummes Zeug reden“ wurde von weniger als einem Drittel der Bundes-bürger bejaht, auch schätzten nur 44% der Befragten die Älteren als langsam und träge ein.

Des Weiteren beurteilte man alte Menschen mehrheitlich als kontaktfreudig, verständnisvoll und sportlich aktiv – Einstellungen, die zwanzig Jahre zuvor noch unvorstellbar gewesen wä-ren.

Spätestens mit diesen Ergebnissen war das Ende eines einheitlichen, stereotypen Altersbildes angesagt. „Die Leute erkennen durchaus, dass es verschiedene Arten des Alters gibt und des-wegen unterschiedliche Einstellungen zu Älteren angebracht seien. Insofern können u.U. sehr unterschiedliche Züge nebeneinander bestehen“ (Lehr 1996: 307).

Nun ist es eher unwahrscheinlich, dass „die Leute“ in den achtziger Jahren informierter oder einsichtiger waren als in den fünfziger- und sechziger Jahren und - verfolgt man die Verferti-gung des Altersbildes durch die Geschichte - erkenntnisfähiger waren als die Menschen in den letzten hundert Jahren. Eher ist anzunehmen, dass der Einfluss auf ein sich ausdifferenzieren-des Altersbild in dieser Zeit durch die betroffene Gruppe der Alten selbst (Selbstbild) und, wie ausgeführt, in unmittelbarem Austausch mit nahen oder ferneren Bezugspersonen

(Fremdbild) entstand und - wesentlich unterstützt durch Erkenntnisse psychologischer, biolo-gischer und medizinischer Lebenslaufforschung sowie deren Anwendung - bestätigt wurde.

Diese Modernisierung des Altersbildes entwickelte sich also auf breiter gesellschaftlicher Basis der allgemeinen gesellschaftlichen Modernisierung, und zugleich hatte diese Rück-wirkung auf das Alter selbst. Das Alter wurde „einem Veränderungsdruck ausgesetzt, der auf sozialstrukturellem Wandel basiert und in der letzten Dekade in zahlreichen Studien belegt wurde“ (Kade 1994: 9). Die Änderung und Ausdifferenzierung des ge-samtgesellschaftlichen Ethos erfolgte also mit und aufgrund von sozialstrukturellen Veränderungen, die sämtliche Subsysteme der Gesellschaft berührten und so unter an-derem auch das Alter betrafen.

6.1 Soziostrukturelle Veränderungen des Alters und die widersprüchliche

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