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Zusammenfassung: Kulturrelevante Alterskompetenzen und Generativität.129

9 Bestimmung der kulturellen Relevanz von Alterspotentialen

9.7 Zusammenfassung: Kulturrelevante Alterskompetenzen und Generativität.129

„Man kann nur dann Lebenserfahrung gewinnen, wenn man aus dem Zusammenhang des ‚un-mittelbaren Lebens‘ heraustritt und über Erlebtes reflektiert“ (Staudinger/ Dittmann-Kohli 1992: 410). Dieses „Heraustreten“ kennzeichnet die oben beschriebenen kulturrelevanten Möglichkeiten als Produkt des Alternsprozesses: Ob es sich um das Verlassen des linearen Zeitstromes („Ausloten“) handelt, um ein Überschreiten der nur analytischen Strukturen des Denkens („Synoptik“), um die kritische Distanz zu scheinbar objektiven Werten („Relativie-rung“), oder um den zur Beratung und Entscheidungsfindung notwendigen Überblick, die Supervision - allesamt erfordern diese Fähigkeiten die psychisch-emotionale Kraft und geis-tige Souveränität des Abstandnehmens, des Sich-Entfernens, des Loslassens.

Diese Akte der Überschreitung werden bei Rosenmayr als Momente des Reifungsprozesses im Alter beschrieben und abgeleitet aus der Erkenntnis der immer näheren Abschiedssituation des Todes: „Das abschiedliche Dasein des Alters erleichtert die Offenheit für ‚Überschreitun-gen‘. Diese können ... Reifungsprozesse im Alter bedeuten. Eine solche Matureszenz beinhal-tet die Erweiterung des eigenen Handlungsspielraumes als Realisierung der ‚späten Freiheit‘“

(Rosenmayr 1996: 108). Die Gefahr, aus dieser Alternsfähigkeit zu Überschreitungen könnte gelegentlich auch eine Selbst-Überschreitung in Form einer Selbst-Überschätzung resultieren, liegt nahe und ist nicht unrealistisch: Sich selbst gelegentlich die Eigenschaften des „Weisen“

zuschreibend und zubilligend, gerät der ältere Mensch durchaus in die Versuchung, eine nar-zißtisch orientierte Wegweiserfunktion einzunehmen. Eine darüber verbitterte Empörung von jungen Leuten spiegelt sich stellvertretend in einer der jüngsten Veröffentlichungen, die in der Tendenz die „an der Macht klebenden alten Männer“ (Podszun) angreift. So mahnt Rosen-mayr auch als wesentliches Moment der „Altersmatureszenz“ an: „Sie erfordert aber auch Selbsttransformation zur Erhöhung von Wahrheitsfähigkeit und damit auch die Entblockie-rung von Wahrnehmung, von Denk- und Handlungsmöglichkeiten, innere Revision“ (Rosen-mayr 1996: 109).

Auf der anderen Seite ist immer mehr auch eine gegenteilige Gefahr zu beobachten: Mit der Distanzierung, dem Sich-Entfernen aus dem „Strom des Lebens“ erfolgt ein Rückzug aus den alten gesellschaftlichen Rollen, ohne die Bereitschaft, hierfür neue, dem möglichen Weis-heitszuwachs entsprechende Rollen zu übernehmen (vgl. dazu ausführlich: Abschnitt 11.3).

Der Zustand zeigt sich als Stagnation, zeigt sich in selbst-gefälligen, fast kokettierenden Un-fähigkeitserklärungen, einer „Form des repressiven Widerstandes, ... sich mit Konflikten ...

auseinanderzusetzen: ‚Da ich viel zu blöd im Kopf bin, bin ich von einer Auseinandersetzung mit den anliegenden Fragen entbunden!‘“ (Heuft 1992: 219). Resultierte als Folge der Distan-zierung zum „Strom des Lebens“ einmal das Gefühl der Überlegenheit, der Omnipotenz, so wird dies im zweiten Fall zum Gefühl des Nicht-mehr-dazu-Gehörens, der Ohnmacht und der Gleichgültigkeit. Auch für diesen zweiten Fall gilt Rosenmayrs Forderung nach „Selbsttrans-formation“ und „Entblockierung von Wahrnehmung“, soll den Alternskompetenzen eine ge-sellschaftskulturelle, kulturpolitische Relevanz zugeschrieben werden.

Was Rosenmayr mit „Selbsttransformation“ und „Entblockierung“ bezeichnet, stellt auch bei Staudinger/Baltes das bestimmende Merkmal einer funktionstragenden Alterskompetenz dar.

In der Transzendierung persönlicher Interessen, in solidarischer Mit-Teilung der mit dem Al-ter erworbenen Fähigkeiten zeigt sich die tatsächlich erreichte Weisheit einer reifen, integrier-ten Persönlichkeit: „Generativität, das heißt die Inintegrier-tention, eigene Erfahrungen und Lebensfer-tigkeiten an die nachfolgende Generation weiterzugeben, entwickelt sich in der Überwindung von Selbstabsorption und Stagnation“ (Staudinger/ Baltes 1996: 65). Zu dieser Überwindung gehört ebenso wie zur Rosenmayr’schen Selbsttransformation und Entblockierung die

Offen-heit für und die Neugier auf Neues sowie deren Verarbeitung als Voraussetzung einer Integra-tion, einer Einschätzung der eigenen Erfahrungswelten: „Solange ein alternder Mensch sich die Offenheit und Kritikfähigkeit bewahrt, neue Werte und Umgangsformen aufzunehmen, könnten diese dann vor dem Erfahrungshintergrund des alten Menschen im Idealfall zu um-fassenderen und weitreichenderen Einsichten führen als bei dem ... jungen Menschen selbst, dem dieser Schatz an Lebenserfahrung fehlt“ (Staudinger 1996: 359).

Die gesellschaftlich-kulturellen Komponenten der Generativität als selbst-verpflichtender solidarischer Akt werden in der Literatur unter zwei nicht immer deutlich voneinander zu trennenden, aber doch unterschiedlich gewichteten Aspekten gesehen.

So wird die Verpflichtung zur Generativität einmal auf der Grundlage gesamtgesellschaftli-cher ökonomisgesamtgesellschaftli-cher Rationalität der inner- und außerfamiliären Austauschbeziehungen (Tews) gesehen, zum anderen aus einer persönlich-individuellen Verantwortung (i.S. einer Selbstver-pflichtung) zu moralisch-ethischem Handeln abgeleitet.

Nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt des „Generationenvertrages“ erweisen sich beide Ge-sichtspunkte von aktueller Bedeutung: „Generell wird unterstellt, die alternde Gesellschaft werde unproduktiver, weil ein kleiner werdender Teil ‚Produktiver‘ für eine zunehmende Zahl

‚Unproduktiver‘ mit zu sorgen habe, ausgedrückt üblicherweise in Alterslast-Quotienten“

(Tews 1996:192). Produktivität wird hierbei immer als Erwerbstätigkeit insbesondere Jünge-rer verstanden. Tews erweitert den Begriff auf „gesellschaftliche Produktivität“ und stellt die Forderung auf, diese durch eine besser entwickelte Selbstorganisation des Alters zu erhöhen:

„Eine entwickelte Selbstorganisation des Alters könnte durchaus einen produktiven Beitrag zur Lösung gesamtgesellschaftlicher Probleme leisten... Gemessen an ihren prinzipiellen Möglichkeiten ist die gesellschaftliche Produktivität des Alters unterentwickelt. Unter der Annahme, daß zukünftige Ältere noch kompetentere Ältere als die heutigen sein werden, ist deren Kompetenz dann nicht auch gesellschaftlich besser zu nutzen?“ (a.a.O. S.193). Tews sieht allerdings Möglichkeiten dazu in erster Linie in einer intra-generativen Stabilisierung der Autonomie Älterer, die in der Folge sich in ökonomischen und zeitlichen Entlastungs-funktionen für die jüngere, erwerbstätige Generation auswirkt (Ehrenamt, Seniorengenossen-schaften, Seniorenbüros etc.). Er bleibt damit aber im Bereich der – trotz zunehmenden Alters – noch vorhandenen, noch erhaltenen Kapazitäten und berücksichtigt nicht die sich neu ent-wickelnden Alterskompetenzen. Damit schließt er sich gesellschafts- und kulturpolitisch Kru-se an, der ebenfalls als Alterkompetenz drei Relikte, aber keine Neuentwicklungen benennt:

Mit den Faktoren der „Aufrechterhaltung eines selbstständigen Lebens“, der „Aufrechterhal-tung eines selbstverantwortlichen Lebens“ und der „Aufrechterhal„Aufrechterhal-tung eines persönlich zu-friedenstellenden Lebens“ beschreibt er die Kompetenzleistung im Alter als „die Fähigkeiten und Fertigkeiten des Menschen zu Aufrechterhaltung (oder Wiedererlangung) eines möglichst selbständigen, selbstverantwortlichen und persönlich zufriedenstellenden Lebens in seiner Umwelt“ (Kruse 1996: 293). Diese als „sozioemotionale Kompetenz“ bezeichnete Leistung ist rein individualistisch definiert und hätte eine gesellschaftliche Funktion nur in der Weise, dass ein derart kompetenter alter Mensch der Gesellschaft nicht zur Last fiele. Der Aspekt des gesellschaftsverantwortlichen Lebens fehlt sowohl bei Tews als auch bei Kruse, es entspricht dies also eher der oben ausgeführten Stagnation denn ihrer Überwindung.

Anders ist es ausgeführt bei Staudinger, die in der Neuentwicklung von Alterskompetenzen, wie sie unter 9.1 – 9.6 aufgeführt wurden, eine Möglichkeit, ja ein Gebot zu gesellschaftli-chen Austauschprozessen sieht, unabhängig sogar von einem Verlust, einem Abbau jugendge-bundener Leistungsfähigkeiten: „Was auf den ersten Blick als unproduktiv erscheint, also z.B.

Pflegebedürftigkeit, birgt auf den zweiten Blick psychologische Produktivität. Ähnlich gibt es in der Soziobiologie Überlegungen, daß die altersabhängigen Veränderungen im intellektuel-len Fähigkeitsprofil nicht zufällig und dysfunktional, sondern adaptiv für das Gemeinwesen sein können... So entwirft Brent (1978) ein Szenario, in dem die Jungen einer Spezies die

Funktion haben, Neues zu entdecken und sich flexibel an eine sich verändernde, aber auch zu verändernde Umwelt anzupassen. Andererseits schreibt er den Älteren die Aufgabe zu, auf-grund ihrer reichen Kenntnis und Erfahrung mit dem Gewesenen und Bestehenden eine sta-bile Basis für diese Explorationen der Jungen bereitzustellen. In einer Kombination dieser bei-den Fähigkeiten, also in der Kooperation der Generationen, liegt dabei die Chance für eine Gesellschaft“ (Staudinger 1996: 357).

Dieser Aspekt einer intergenerativen Zusammenarbeit wird auch als vorrangig in der Experti-se „Ressourcen älterer und alter Menschen“ angeExperti-sehen und damit der Appell KruExperti-ses und Tews an die Alten erweitert in einen Appell an Alte und Junge: „Für die Verwirklichung der Potentiale des Alters ist von Bedeutung, ob jüngere Menschen bereit sind, die Hilfen und den Rat Älterer anzunehmen... Intergenerationelle Solidarität kann sich nur verwirklichen, wenn ein fruchtbarer Dialog zwischen Jung und Alt stattfindet“ (Schmitz-Scherzer et al. 1993: 56).

Das Institut für Entwicklungsplanung und Strukturforschung (IES) in Hannover sieht in die-sem „kooperativen“ Austauschprozess nicht nur eine Chance, sondern einen gesellschafts- und kulturpolitischen Anspruch zur Zukunftsbewältigung: „In Zukunft müssen auch die Älter-werdenden mehr als bisher die notwendigen Erneuerungen mittragen. Die Gesellschaft, die vom Wandel der Altersstruktur geprägt ist, gewinnt ihre Zukunft nur durch Junge und Älter-werdende gemeinsam. Eine neuartige Interpretation von Neuwissen und Erfahrungswissen ist zu leisten“ (IES 1996:5).

In allen hier angeführten Stellungnahmen wird eine Antwort auf die kulturpolitischen Relevanzfrage von Alterskompetenzen als generative Verpflichtung gegeben – zwar in der einen Richtung mehr als intra-generatives Entlastungspotential, in der anderen als produktives „Humankapital“ (IES) der engagierten, offensiven Verwirklichung einer Alterskompetenz, doch einheitlich als notwendiges Element einer gemeinsamen gesell-schaftlichen Zukunftsgestaltung. Die Art und Weise der Umsetzung jedoch wird deutlich unterschiedlich gesehen: Als individueller Rückzug des Nicht-Forderns, des Nicht-zur-Belas-tung-Werdens sehen es Tews und Knopf, als intergenerativer Austauschprozess wird es bei Staudinger und in den Gutachten Schmitz-Scherzers et al. und der IES gefordert. Doch sind diese beiden Richtungen zwar als unterschiedlich, nicht unbedingt jedoch als widersprüchlich anzusehen: Eher ist zu vermuten, dass die selbstverantwortliche, individuell erfolgreiche Al-tersbewältigung eine Voraussetzung zur Generativität darstellt, weil sie es besser ermöglicht,

„daran zu denken, was man an die nachfolgenden Generationen oder vielleicht sogar die Ge-sellschaft weiterzugeben hat“, sie bietet so „dem alten Menschen die Grundlage zur Entfal-tung seiner Generativität“ (Staudinger/ Dittmann-Kohli 1992: 428).

Die Distanz zu den oben angeführten Fehlhaltungen gegenüber einer Altersweisheit wird hie-rin deutlich: Weder überhebliche Omnipotenz- noch kleinmütige Ohnmachtsgefühle im Alter helfen der Gesellschaft bei einer Bewältigung von Zukunftsproblemen, sondern nur die Wahrnehmung der Verpflichtung, Alterskompetenzen generativ wirksam einzu-bringen. In einem solchen Akt sieht die alternde Wissenschaftlerin Friedan die Möglichkeit der Entwicklung einer eigenen Alterskultur. „Nur wenn wir an den Problemen arbeiten, vor denen unsere Gesellschaft steht, und dabei unsere im Lauf des Lebens erworbene Weisheit und Generativität einsetzen, hinterlassen wir unseren Enkeln ein Vermächtnis, das darin be-steht, daß wir bei der Gestaltung der Zukunft helfen und die Generativität des menschlichen Gemeinwesens entfalten und bewahren. Wir müssen unser eigenes Alter leben, generativ und als Teil der Gemeinschaft“ (1997: 860).

10 Alterspotentiale als Bedingung und Begründung zur Entwicklung

spezi-fischer Alterskulturen

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