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9 Bestimmung der kulturellen Relevanz von Alterspotentialen

9.1 Die Möglichkeit des Auslotens

Die Möglichkeit, Sachverhalte und Probleme „auszuloten“, ihnen auf den Grund zu gehen, ist ein Produkt der Fähigkeit zur differenzierenden und problematisierenden Reflexion (vgl. Ab-schnitt 8.4.3.2.1). Der Begriff des Auslotens entstammt ursprünglich der Nautik, in der es die früher manuelle, heute elektronische Tätigkeit bezeichnet, die Tiefe des jeweiligen Stand-punktes zu erkennen, den Grund festzustellen. Eine Bestimmung der „Tiefgründigkeit“ ist notwendig zur Verhinderung des „Auflaufens“, ein aufgelaufenes Schiff ist navigationsunfä-hig, dem Stillstand, der Funktionslosigkeit anheim gegeben.

Das Bild des Auslotens wird übertragen auf die kulturelle (vor allem literarische), psycholo-gische, theologische aber auch soziologische Vorstellung des individuellen und kollektiven

menschlichen Lebens als „Strom des Lebens“ entlang einer linearen Zeitachse: Es verweist auf die notwendige Fähigkeit, über der Linearität der zweidimensionalen Achse die dritte Di-mension (s.u.) der Tiefe absichernd zu ergründen, im aktivitäts- und handlungsbestimmten

„Strom des Lebens“ eine weitere Ebene zu erkennen und zu nutzen und den Dingen „auf den Grund“ zu gehen

Den „Strom des Lebens“ als eine gesellschaftlich-kollektive Bewegung beschreibt Glaser als

„biologischen und sozialen Prozess“, sieht ihn als ein oberflächliches, angenehm-bequemes Regulierungssystem: „Lebenszeit als Getriebensein: Neuzeitlich-faustisch bedeutet dies Lust!

Die Menschen werden bewegt von einem libidinösen Arbeits- und Zeitdruck, die auch die Sinnfragen beantworten (beziehungsweise diese gar nicht aufkommen lassen). Beschleuni-gung wird zum Selbstzweck. ‚Man verspeist im nächsten Augenblick den vorhergehenden...‘, meinte Goethe 1825“ (Glaser 2000: 643).

Das zeitlineare Getriebensein wird zum Selbstzweck, hält sich durch Selbstverspeisung scheinbar selbst am Leben. Erst mit dem Ausstieg, einem In-die-Tiefe-gehen, einer Grund-Su-che ist eine Sinn-Konstituierung, eine Begründung des Handelns möglich: „Realität an sich vermittelt noch keine Sinnhaftigkeit. Sie wird erst durch das Subjekt konstruiert“ (Teising 1998: 11). Die Sinn-Konstitution des Handelns erfolgt durch Interpretation, Reflexion und Deutung, nicht aber durch das Handeln selbst.

Die Möglichkeit, im „Strom“ anzuhalten, unter der Oberfläche „profunde“ Erkenntnisse zu gewinnen, diese Möglichkeit ist subjektiv und objektiv in den späteren Lebensjahren eher ge-geben denn in jungen: Objektiv, weil es im Allgemeinen erst im Alter begünstigt ist, sich aus dem Strom der (beruflichen, familiären) Aktivitätsrollen und –verpflichtungen zu lösen, sub-jektiv, weil mit der Erkenntnis des näheren und nahen Endes der persönlichen Zeitperspektive ein Bewusstsein geschaffen wird, das die Ablösefähigkeit, die Bereitschaft eines „abschiedli-chen Daseins“ (Rosenmayr 1998b: 64), zur Freiheit von einem gesellschaftlich-kollektiven Triebverhalten begünstigt (vgl. Thomae 1983, Schmitz-Scherzer et al. 1993).

In diesen besonderen – subjektiven wie objektiven – Möglichkeiten des Alters könnte eine er-gänzende Rolle der kulturellen Konstitutierung der Gesellschaft liegen. Die Fähigkeiten, die in jungen Jahren noch nicht oder noch nicht in dem Maße vorhanden oder stabil sein kön-nen, ermöglichen eine begründete Sinn-Konstitution des „Lebensstromes“:

„Indem der junge Mensch aber die Rollen seines nach außen gerichteten Lebens lebt, und ...

sich auf das Funktionieren in seiner Umwelt ausrichtet, umso mehr schließt er den anderen Teil seiner Existenz aus, jenen inneren Teil, der nicht auf Selbstbehauptung und bewußtes In-teragieren mit der Umwelt gerichtet ist. Eine der Aufgaben der zweiten Lebenshälfte ist also

‚der Weg nach innen‘. Er ergänzt das zuvor überwiegende Agieren mit der Außenwelt“ (Olb-rich/ Gunzelmann 1992: 56).

Zeichnet sich das Bild von Lebensentwürfen im „Fluss des Lebens“ entweder eindimensional, geradlinig, zielorientiert (vgl. Abschnitt 8.4.2.2: Interviewgruppe 1) oder bereits zweidimen-sional als moderne Wahlbiografie durch vielfältige Entwicklungs-, Entfaltungs- und Erweite-rungsoptionen (vgl. Schroots im Folgenden und Abschnitt 8.4.2.2: Interviewgruppe 2), so zeigt sich mit einem Ausstieg aus der reinen Lebensplanverfolgung in eine „vertiefende“, be-gründende, sinnkonstituierende Dimension die Lebenswirklichkeit nunmehr als dreidimensio-nales Objekt: Ein „Objekt Lebenswirklichkeit“ in zweifachem Sinne - einmal als ein über die Zweidimensionalität des Bildes hinausgehendes, nun in allen Dimensionen Erfahrbares, zum anderen aber auch im Sinne eines durch das gestaltende Subjekt Geschaffenen.

Auch bei Baltes eröffnet sich die dritte Dimension der Lebenswirklichkeit als Objekt erst mit dem weisen Blick von oben: Erst der Schritt aus der „Pragmatik des Lebens“ hinaus ermög-licht die Einsicht und Urteilsfähigkeit in die „sogenannten ‚fundamentalen Fragen der Prag-matik des Lebens‘“ (Baltes 1989: 49). Erst im Ausloten, in der Betrachtung, der Reflexion der conditio humana eröffnet sich die neue Dimension, nicht in der Pragmatik selbst.

Der „Fluss des Lebens“ im Volksmund bezeichnet wie die „Pragmatik des Lebens“ bei Bal-tes, den Aspekt des aktiven, handlungsorientierten Lebens. Der historische Begriff der Vita activa setzt diesen tätigen Lebensweg gegen den Begriff der Vita contemplativa als betrach-tende, begründende, fundamentalisierende Sinngebung.

In ihrer großen Auseinandersetzung mit der Abwertung der „Vita activa“ gegenüber der phi-losophisch-intellektuell höheren Anerkennung der „Vita contemplativa“ schreibt Hannah Ah-rendt: „Wenn daher meine Aneignung des Begriffes Vita activa in offenkundigem Wider-spruch zur Tradition steht, so nicht, weil ich die Gültigkeit der Erfahrungen, die zu der Unter-scheidung zwischen einer Vita activa und Vita contemplativa führten, bezweifle; woran ich zweifle, ist vielmehr lediglich die hierarchische Ordnung, die dieser Unterscheidung von An-fang an anhaftete“ (Ahrendt 1999:26). Tatsächlich kann es keine Hierarchie von Handeln oder Begründen geben, die Frage, welcher Bereich „wichtiger“ oder „unwichtiger“ sei, ist sinnlos:

Beide Bereiche können nur aufeinander rückbeziehend sinnvoll erscheinen.

Es ist die notwendige Gleichzeitigkeit von Aktivität und Kontemplation, die die Multidi-mensionalität der Lebensgestaltung bestimmt: Wäre das eine (die Vita activa) zu flach, zu „oberflächlich“ gegenüber dem anderen (der Vita contemplativa), so wäre die „Tief-gründigkeit“ zu verloren, zu abgetrieben von der Direktivität der menschlichen Zeitach-se. Komplexität und Mehrdimensionalität kann nur durch die Gleichzeitigkeit von dy-namischer Teleologie und reflektierender Tiefenerfahrung gewährleistet werden.

Dass beide Bereiche unterschiedlich bevorzugt an Lebensalter gebunden sein können, widerspricht nicht ihrer ergänzenden Funktion. Die gegenseitige interindividuelle gänzung ist beidseitig stabilisierendes Moment. Die innerpersönliche, intrapersonelle Er-gänzung durch die Entwicklung der kontemplativen, reflektierenden Fähigkeit des Auslotens, des begründenden Denkens, ist zugleich stabilisierendes Moment der alternden Persönlich-keit:

Als Notwendigkeit eines generellen Paradigmen-Wechsels wird die individuell wichtige Ver-lagerung in den Bereich der Vita contemplativa aus psychologischer Sicht bei Bau beschrie-ben: „Die Krise des alten Menschen besteht darin, dass er spürt, dass wesentliche Teile seiner individuellen Persönlichkeit in der Vergangenheit nicht gelebt wurden, und er sich jetzt vor die Notwendigkeit gestellt sieht, diese innere Persönlichkeit, die er auch ist, zu entwickeln. Es setzt aber einen Paradigmawechsel des Wertsystems des früheren Erwachsenenalters voraus.

Dies bedeutet einen schmerzhaften Bruch mit den bisherigen Werten ... (richtet) ... sich meist auch gegen die fortbestehenden Wertvorstellungen des Kollektivs“ (Bau 1995: 131). In diesen Worten kommt die Sorge zum Ausdruck, der Wechsel von der Seite des Dynamisch-Aktiven auf die Seite des Reflektierenden-Auslotenden könnte persönliche und auch gesellschaftliche Schwierigkeiten zur Folge haben. Es entspricht ziemlich genau dem „Skeptizismus“ des Pro-banden 6a im Interview (vgl. 8.4.2.3) gegenüber der schlechten „Konjunktur“ reflektierender und beurteilender Lebensbetrachtung „angesichts unserer gesellschaftlichen Entwicklung“:

Diese neue, andere Fähigkeit zur Erkenntnisgewinnung „bedeutet ja auch historische Erfah-rung, transzendiert damit den augenblicklichen Status und ist eine vorzügliche Voraussetzung dafür: in qualitativen Alternativen zu denken. Dies scheint in einem steigenden Umfang nicht gewollt zu werden, da es die Manipulierbarkeit reduziert“ (Pb 6a).

Nicht einer befürchteten Abwertung (vgl. Hannah Ahrendt) der Vita activa durch das intellek-tuell-wissenschaftlich orientierte Gesellschaftssegment eines Niveaumilieus redet dieser Pro-band das Wort. Vielmehr ahnt und befürchtet er umgekehrt die Ablehnung durch die beherr-schende Ideologie einer wirtschaftlich-politisch außenweltfixierten Leistungsgesellschaft, der sich der Ältere bisher zugehörig gefühlt hatte und zu der er jetzt Alternativen erkennt. Der

„schmerzhafte Bruch mit den bisherigen Werten“ (Bau) tritt „desto reiner, ungebrochener auf, je ausschließlicher man gesellschaftliches Akzeptiertsein und die große Gemeinsamkeit in der sichtbaren Gemeinschaft der Produktion von außenweltrelevanten Gütern (seien es Sachen, Sachverhalte oder Vorgänge) erfahren hat und je weniger man hinreichend bewusste

Erfah-rung gemacht hat mit der unsichtbaren Gemeinsamkeit der ständigen Entwicklung von Sicht-weisen, Bewertungen und Beziehungsweisen mit einem tieferliegenden existenziellen Akzep-tiertsein“ (Kinsler 1999:14). Doch: „Der alte Mensch muss ... aber einen Weg finden, den er nur aus seiner individuellen Einmaligkeit heraus zu gehen fähig ist. Die Realisierung der Er-kenntnis ... ist die eigentliche Aufgabe des älteren Menschen“ (Bau 1995:132).

Die teleologisch-pragmatischen Lebensentwürfe aus jungen, dynamischen Jahren weichen den nachdenklichen, den tief-schürfenden, den auf-den-Grund-gehenden Kontemplationen der späteren Jahre, die neue Möglichkeit des Auslotens eröffnet andere Perspektiven, findet neue Orientierungen abseits der Fließdynamik der Vita activa: „Nicht mehr Seins-Strukturen, son-dern Sinn-Strukturen sollten ... gesetzt werden“ (Bau 1995:150). Dieses eine, ganz besonders und weitgehend dem Alter vorbehaltene Potential bedeutet, nicht nur dem „Ereignis im physi-kalischen Raum-Zeitkontinuum zu begegnen, sondern ein aus der Subjektivität heraus gebore-nes Sinn-Erleben“ (a.a.O. S. 152).

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