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5 Die Konstitution des Alters: Der lange Weg der alten Weisen über die soziale

7.3 Sie sind eigen-sinnig

Die Anzahl und das Engagement derer, die dem Leben älterer Menschen einen Sinn geben wollen, sind eindrucksvoll. Wissenschaftliche Werke, populärwissenschaftliche Literatur, Ratgeber und Presseartikel, Fernsehsendungen, Fitness-Center, Kirchen, Bildungseinrichtun-gen, kulturelle Organisationen und Veranstalter – alle haben ununterbrochen Vorschläge zur Sinngebung des Lebens alter Menschen und, das ist fast noch erstaunlicher, alle wissen, worin dieser Sinn für den älteren Menschen besteht. Hinzu kommt außerdem die große Selbstver-ständlichkeit, mit der alle Institutionen, Gruppierungen und Einzelpersonen bereits wissen, dass das Leben der Alten keinen Sinn habe, de facto sinnlos sei und erst mit der Erfüllung von außen gegebener Sinnvorschläge einen solchen erhalte. Denn die Aufforderung „Geben Sie Ihrem Leben einen Sinn“ impliziert: „Es hat keinen“.

„Dem Alter einen Sinn geben“ betiteln Glaser/ Röbke (1992) als Herausgeber einen Sammel-band und verdeutlichen im Untertitel auch gleich, was sie darunter verstehen: „Wie Senioren kulturell aktiv sein können“.

„Kann Politik ein sinnerfülltes Altern in unserem Lande fördern?“ fragt Seiler und meint da-mit: Freiwilligenarbeit mit dem Ziel eines gesellschaftlichen Nutzens (Seiler 1998:14). Glaser erläutert an anderer Stelle definierend: „Sinnvoll ist es zum Beispiel, wenn individuelles En-gagement dem Gemeinwohl zugute kommt“ (Glaser 1992:24).

Michel Daureil (1995:103) stellt die französische Alten-Bewegung ‚La Flamboyance‘ vor unter dem Titel „Dem Leben einen Sinn geben“. Für ihn wie für seine Bewegung bedeutet dies sozialen Einsatz für Arme, für Kinder, für die dritte Welt.

„Wollen wir ihnen [den ‚Senioren‘] Anregungen geben, ihre vermehrte freie Zeit sinnvoll zu nutzen und menschlicher zu gestalten...“ schreibt Hilmar Hoffmann und plädiert dafür, ein differenziertes soziales und kulturelles Leistungsangebot für diese Gruppe zu erstellen (Hoff-mann 1981: 336, Klammereinschub durch M.K.).

Das sind nur wenige Beispiele aus einer Fülle von Sinngebungs–Empfehlungen in der Litera-tur, es würde Seiten füllen, sie alle aufzuzählen. Gemeinsam sind ihnen zwei Aspekte der Vermittlung von Lebenssinn, oft auch von Alterssinn: Sinnvoll ist Leben, bzw. Alter dann, wenn es voller Aktivitäten ist, wenn der Einzelne etwas zu tun hat. Dies kann eine (sinnvolle) Arbeit sein, aber auch ein (sinnvolles) Hobby. Die zweite Komponente: Zum Sinn einer Tä-tigkeit (im Alter) gehört auch die soziale oder politische Erwünschtheit der Aktivität in zwei-facher Hinsicht: (1.) Selbst-Tätige entfallen der (oft kostspieligen) Für-Sorge. (2.) Inhalt oder Ergebnis der Tätigkeit muss sozial nützlich, sozial „wertvoll“, sozial erwünscht sein. Sinnvoll ist eine Tätigkeit dann, wenn sie „dem Gemeinwohl zugute kommt“ (Glaser s.o.). Die Frage nach dem Subjekt der Bestimmung des Erwünschtheitskriteriums und die Frage, wessen Inte-ressen in der Kriterienbestimmung zur Geltung kommen, diese Fragen werden relativ selten gestellt und erörtert.

Sehr deutlich spiegelt sich diese Einstellung in den Richtlinien des Bundesaltenplanes (BMFSFJ 1999) unter den angegebenen Förderzielen (2.1[2]) wider: „Es soll älteren Men-schen ermöglicht werden, ihre im Lebenslauf erworbenen Fähigkeiten und Kompetenzen zu

nutzen, für die Gesellschaft einzusetzen und hiermit eine neue Lebensperspektive aufzubauen, die dem Leben im Alter Sinn gibt.“

Dies stellt eine höchst prägnante Kurzfassung aller fraglicher Thesen sowohl der Literatur als auch allgemeiner Einstellungen und Überzeugungen dar, die in vier Grundsätzen umschrieben und postuliert werden können:

1. Das Leben im Alter hat zunächst keinen Sinn. Es muss ihm gegeben werden.

2. Dieser Sinn wird den älteren Menschen von außen gegeben, er ist Objekt der Sinngebung.

Sinngeber ist eine für die Sinngebung zuständige externale Instanz, die nicht näher, son-dern nur als „es“ bezeichnete wird.

3. Sinn hat das Leben im Alter, wenn Fähigkeiten genutzt werden, die vor dem Alter erwor-ben wurden. Es hatte also das Leerwor-ben vor dem Alter Sinn durch den Erwerb und durch den Besitz von Fähigkeiten.

4. Die Nutzung von Kompetenzen, Fähigkeiten ist für die Gesellschaft einzusetzen. Dazu hören z.B. förderungswürdige Projekte [4.1] der Zuwendungsempfänger (vorrangig ge-meinnütziger Träger, die auf dem Gebiet der Altenhilfe und Altenarbeit tätig sind, aber auch der Interessenvertretungen der älteren Generation, die gemeinnützige Ziele verfolgen [3]).

Nun geht es hier nicht darum, Inhalte üblicher Sinnzuschreibungen (bzw. Sinnabsprechungen) für das Leben im Alter zu kritisieren oder durch alternative Vorschläge zu ersetzen und damit die „richtige“ Sinngebung zu suggerieren. Lebenssinn zu erkennen, zu deuten ist seit Jahrtau-senden Inhalt und Thema von Philosophie, Kunst und Religion. Bibliotheken wären zu die-sem Stichwort zu füllen. Es ist jedoch wichtig, darauf hinzuweisen, dass die skizzierten Sinn-bestimmungen und Sinngebungen von hochproblematischen, weithin sogar unzutreffenden Voraussetzungen ausgehen und eine bestimmte, doch nicht offene und unaufgeklärte gesell-schaftspolitische Option enthalten, nämlich die der (fortbestehenden) Fremdbestimmung und Disziplinierung.

Es liegt, so ist zu befürchten, eine Vermischung der Begriffe Sinn und Funktion vor:

Zunächst wird in der (pragmatischen) Sinndiskussion von Alter bereits von einer fragwürdi-gen, d.h. unzulässigen Voraussetzung ausgegangen: Das Leben vor dem Alter war durch Ar-beit sinnvoll. So ist es scheinlogisch, dass mit dem Verlust der ArAr-beit, oder aber auch mit dem Verlust der Arbeitsfähigkeit, das Leben sinnlos wurde. Gemeint ist offensichtlich, dass mit dem Verlust einer bestimmten Funktion das Leben (bezüglich dieser einen Funktion) „funkti-onslos“ wurde. Eine solche Feststellung wäre wahr und zugleich wertfrei, denn eine Funktion zu haben, ist nicht mehr und nicht weniger als eine Tatsache, die freilich positiv oder negativ bewertet werden kann und bewertet zu werden pflegt. Im Leben eine bestimmte Funktion zu haben, kann durchaus auch negativ bewertet werden. Festzuhalten ist: In der allgemeinen Dis-kussion werden Funktions- oder auch Rollenverluste (z.B. Kinder, Familie) gleichgesetzt mit Sinnverlust. ‚Sinn-voll‘ heißt aber nicht: nützlich oder nutzbar; ‚sinn-voll‘ heißt auch nicht:

funktionell.

Der Sinn des Lebens im Alter kann also nicht in der Erfüllung einer (gemeinnützigen, kultu-rellen, sozialen, pädagogischen oder wie auch immer gearteten) Arbeit, einer Funktion, auch nicht in der eines „sinnvollen Hobbys“ liegen, denn damit wäre ausgesagt, dass bei Wegfall eben dieser Tätigkeit das Leben bereits wieder seinen Sinn verloren hätte. Allenfalls wäre vielleicht die Tätigkeit selbst sinnvoll (entsprechend der Be-Wertung durch die Gesellschaft), nicht aber das Leben dessen, der diese Tätigkeit ausübt.

Offensichtlich ist allerdings, dass der von unserer Leistungsgesellschaft konstruierte Zusam-menhang von Aktivität, Produktivität und Arbeit mit dem Sinn des Lebens zu den im Alter wie in jungen Jahren verstärkt auftretenden Lebenskrisen führt. Nach Elisabeth Lukas sind Probleme mit der Sinnfindung gehäuft in den Altersgruppen der 20-30-Jährigen und der über 60-Jährigen zu finden (Lukas 1982: 245ff).

Solche Sinnkrisen werden häufig als intrapersonale, entwicklungspsychologisch oder gar bio-logisch verursachte Brüche im Lebenslauf eines Menschen gedeutet. Der Anteil externaler Bedingungsfaktoren wird dabei häufig vernachlässigt. Dabei spielen mindestens zwei Fakto-ren eine geradezu paradoxe Rolle, nämlich zum einen das gegenüber individuellen DiffeFakto-ren- Differen-zen der Selbst- und Weltdeutung sowie der Prioritätensetzung im Leistungsverhalten gleich-gültige, weil undifferenzierte gesellschaftliche Aktivitäts- und Leistungsethos. Dem steht auf der anderen Seite die als Norm interpretierbare Erwartung gegenüber, dass Alternde dem frag-los unterstellten und undifferenziert postulierten Leistungsethos immer weniger gerecht zu werden vermögen. Dass diese kontrastierende Zuschreibung für das Selbstkonzept Alternder nicht folgenlos bleibt, dürfte eine alles andere als leichtfertige Vermutung sein (vgl. dazu u.a.

Groeben 1981).

Verstärkt wird die Erschütterung des Selbstbildes durch die insbesondere in der gegenwärti-gen gesellschaftlichen und ökonomischen Praxis unverkennbare Neigung, diejenigegenwärti-gen Leis-tungskomponenten und –formen überzubewerten, die in der Leistungsbereitschaft Älterer aus unterschiedlichen Gründen abnehmen, und diejenigen Kompetenzprofile unterzubewerten, die in der Leistungsbereitschaft Älterer zunehmen. Dabei spielt eine Rolle, dass Ältere keines-wegs immer nicht können, was von ihnen erwartet wird. Mindestens eben so groß ist der Ein-fluss, den dasjenige auf die Konstitution des Altersbildes hat, was Ältere für wichtig versus unwichtig halten, kurz: was sie wollen.

In diesem Spannungsfeld widersprüchlicher Erwartungen entwickelt sich jene mehr oder min-der starke Verunsicherung des Selbstkonzeptes Alter, das einerseits als Sinnverlust und ande-rerseits als das Erfordernis interpretiert wird, dem Leben einen „neuen Sinn“ zu geben. Eine Schlüsselrolle dabei spielt die gesellschaftliche Bewertung der Erwerbsarbeit, im Besonderen des Erfolgs im Wettbewerb um angesehene und ertragreiche Berufstätigkeit.

Da die „echte“ (Erwerbs-)Arbeit im Alter keinen Ort mehr hat, muss auf „Ersatzhandlungen“

ausgewichen werden: Das Individuum soll den ehemaligen, den „eigentlichen“, den „wahren“

Sinn des Lebens substituieren beispielsweise durch ehrenamtliche oder ähnliche Tätigkeiten, also einen Sinn des Lebens finden, der umso mehr als Ersatz-Sinn empfunden und durch-schaut werden mag und werden wird, je angestrengter das Bemühen ist, ihn als „neuen“ Sinn für das Leben im Alter anzupreisen.

Im neuen, April 2001 veröffentlichten Altenbericht der Bundesregierung hat Kruse mit elf weiteren Mitarbeitern Vorschläge erarbeitet, was alte Menschen für die Gesellschaft noch leisten könnten. Auch die bereits 1993 von ihm und seiner Arbeitsgruppe erarbeitete Expertise

„Ressourcen älterer und alter Menschen“ hatte schon mit einer ganzen Reihe solcher Ansätze aufgewartet: Seniorenbüros, Wissensbörsen, ehrenamtlichen Tätigkeiten im Sport-, Politik-, Sozial- und Umweltbereich (BMFuS 1993). Doch es scheint, als ob die Alten mit derartiger

„Sinngebung“ ihres Lebens nicht mehr einverstanden sind.

„Mein ‚Sinn‘ ist nicht dein ‚Sinn‘“, schreibt Rosenmayr (1998: 256) – und dies könnte als Motto des Willens Alter zum Eigen-Sinn gelten. Man wehrt sich zunehmend, meist durch Verweigerung, nur gelegentlich im aktiven Widerstand gegen biografisierende Fremdbestim-mung:

„Der von vielen Seiten deklamierte Appell, doch etwas gesellschaftlich Nützliches, etwas Sinnvolles zu tun, wird von den meisten nicht als Orientierungshilfe aufgegriffen. Eher inter-pretieren sie dies als Versuch, sie erneut in fremdbestimmte Verpflichtungen einzubinden“

(Zemann 1995:108, Hervorhebung durch Autor).

Selten wird der Protest laut („Anfragen beispielsweise der Stadtverwaltung bzw. des Kultur-amtes in Halberstadt, die ehrenamtliche Mitarbeiter zum Transport von Möbeln, zum Hacken von Steinen im Rahmen der Denkmalpflege oder ehrenamtliche Kräfte zur Beaufsichtigung kultureller Einrichtungen während der Öffnungszeiten suchte, wurden als Zumutung empfun-den und zurückgewiesen“ [BMBF 1999:33]). Eher leise entzieht man sich und lässt die

Sinn-Anbieter ratlos zurück. Zemann konstatiert richtig: “Gerade da sie selbst artikulationsfähig sind, entstehen manchmal Zweifel, ob ihnen der Wunsch nach einer gesellschaftlichen Zu-weisung von Aufgaben, Verantwortlichkeiten und Verbindlichkeiten nicht von anderen in den Mund gelegt wird“ (Zemann 1992: 35).

Diese Zweifel sind berechtigt: Das gestiegene Bildungsniveau und die damit zusammen-hängenden Kompetenzen (vgl. Abschnitt 6.1.4.) und die dem Alter eigenen spezifischen Ressourcen (vgl. Abschnitt 8.4.2.3) ermöglichen es dem älteren Menschen durchaus, selbstständig und unbeeinflusst durch die gutmeinenden Sinnanbieter ihr Leben als ei-genes biografisches Projekt zu gestalten und ihren Eigen-Sinn darin zu bestimmen.

Wenn es denn der „Sinn-Gebung“ von außen bedarf, dann kann sie allein nur darin be-stehen, unter widersprüchlichen gesellschaftlichen Erwartungen und Zuschreibungen die notwendige, aber selbst-bewusste, subjektive Sinnbestimmungen im Alter zu ermög-lichen bzw. zu unterstützen. Dies bezeugt gleichermaßen den Respekt vor der Selbstbe-stimmung alter Menschen, und es konzediert die realen Grenzen der Möglichkeit, Men-schen fremd zu bestimmen.

Steege beschreibt diese „neuen Senioren“ in einem Szenario „Altenbildung für eine Elite?“:

„Von den Alten kann man sagen, dass sie regelrechte Pioniere geworden sind, jedoch nicht Pioniere in einer lernenden Gesellschaft, die eigentlich unser Ziel ist, sondern Pioniere in ei-ner Gesellschaft, in der der selbstbestimmte, trendfreudige, hedonistisch-spielerische Typ den Ton angibt“ (Steege 1992: 145).

Ob dies, wie Steege befürchtet, ein Widerspruch sein muss - d.h., wenn die Gesellschaft he-donistisch orientiert ist, sie nicht zugleich eine lernende sein kann - , oder ob diese beiden als entgegengesetzt definierten Pole durchaus vereinbar sind – d.h., dass Lernen sehr wohl hedo-nistisch begründet sein kann – , dies zu untersuchen wird in den Abschnitten 10. und 11. die Aufgabe sein.

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