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5 Die Konstitution des Alters: Der lange Weg der alten Weisen über die soziale

8.4 Ergebnisse und Auswertung

8.4.2 Qualitative Analyse

8.4.2.3 Potentiale und Ressourcen

8.4.2.3.6 Fähigkeit zu Gesellschaftskritik und –distanz

„Zu Lebenserfahrung gehört die Kenntnis von den in unserem Gemeinwesen herrschenden so-zialen Regeln sowie deren Grenzen, d.h. Kenntnis, wann diese Regeln überschritten werden können oder sogar müssen“ (Staudinger & Dittmann – Kohli 1992: 412).

Obwohl in diesem Zitat aus dem Interviewbogen durch die zweimalige Verwendung des Beg-riffes „Kenntnis“ ausschließlich auf das „Weisheitskriterium reiches Faktenwissen“ (Baltes/

Smith 1990) gezielt wird, ordneten alle Teilnehmer diese Fähigkeit dem Kriterium „Reiches Strategiewissen“ zu. Sie interpretierten die angesprochene „Kenntnis“ als ein „pragmatisches Denkschema“, das besteht „aus generalisierten kontext–sensitiven Regeln, die als

Zielkatego-rie (z.B. erwünschte Handlungen ausführen oder mögliche zukünftige Ereignisse vorhersagen) und als Mittel – Ziel – Relationen (z.B. Ursache und Wirkung oder Vorbedingung und zuläs-sige Handlung) definiert sind“ (Baltes/ Smith 1990: 111).

Auf die Formulierung „Kenntnis“ ging kein Teilnehmer ein oder brachte sie gar (wie es bei den Items zur Urteils- oder Reflektionsfähigkeit intensiv geschah) in Verbindung mit der „Er-kenntnis“ des Herrschens sozialer Regeln und deren Grenzen, sondern man verlegte sich aus-schließlich auf Aussagen zur Fähigkeit von Regelüberschreitungen:

Diese wird von nur einem der jüngeren Teilnehmer heftig bezweifelt (Pb 10j: „... sollte bei allen reiferen Menschen vorhanden sein, ... ist es aber leider nicht!“) und ebenso eindeutig von einem der Älteren (Pb 19a: „Aufmüpfig sind nur die Jungen, außer es geht den Alten um ihre persönlichen Belange“). In den Verdacht eines negativ beurteilten Altersstarrsinns gerät diese Fähigkeit bei Pb 2a: „Schön, wenn’s der Zuwachs an Zivilcourage ist, dumm, wenn’s nur der Altersstarrsinn ist“. Sturheit, Unflexibilität, Uneinsichtigkeit sind nach Ansicht dieser Probanden hinderlich oder aber ursächlich für Regelüberschreitungen.

Mit diesen Überzeugungen schließen die drei Probanden gedanklich an Eierdanz an (1997:

219), der konstatiert: „... ausgeprägte Selbstzwangmechanismen, tradiertes Rollenverhalten, materielle Sicherheitsbedürfnisse, politischer Konformismus ... sind Werte und Normen, die die heute Alten lebenslänglich geprägt haben, die ihre Identität konstituieren ...“.

Die „materiellen Sicherheitsbedürfnisse“ bei Eierdanz entsprechen annähernd und in etwa den

„persönlichen Belangen“ von Pb 19a, der „Altersstarrsinn“ bei Pb 2a den „Selbstzwangme-chanismen und dem „tradiertem Rollenverhalten“ bei Eierdanz. Die undifferenzierte Verall-gemeinerung „die Alten“ des Befragten 19a entspricht wörtlich der des Wissenschaftlers Ei-erdanz. Dieser zieht zwar – allerdings nur als Möglichkeit angedacht – eine Änderung bei den

„zukünftigen“ Alten, den ehemaligen 68ern, in Betracht (s.u.), zeichnet sich jedoch in seinem Beitrag durchgehend durch ähnlich globale und verallgemeinernde Äußerungen aus wie die drei erwähnten Befragten, die innerhalb der Gesamtmenge der Probanden allerdings und be-zeichnenderweise einen geringen Anteil solcher Meinungsträger darstellen.

Zur Fähigkeit und zum Willen der sozialen Grenzüberschreitungen äußert sich die Mehrheit überzeugt und (im Gegensatz zu Eierdanz‘ Vermutung, dies geschähe „wenn sie überhaupt Veranlassung dazu sehen, nur in einem komplizierten, mitunter widerspruchsvollen Prozess“

(a.a.O.)) in der Tendenz, dass sie es eindeutig, problemlos und gern tun (Pb 10a: „Es macht direkt Spaß, bislang vorhandene ... Grenzen gelassen überschreiten zu können“, Pb 16a:

„Love it, change it, or leave it“). Das „Muss“ (Zitat Fragebogen), die Notwendigkeit einer Grenzüberschreitung wird gesehen aus christlicher Verantwortung (Pb 7a: „Ich würde aller-dings ein an christlichen Maßstäben gemessenes Verhalten von mir erwarten“, Pb 8a: „Über den Umgang mit Grenzen entscheidet das höherwertige Gebot ‚Man soll Gott mehr lieben als den Menschen‘“), aus gesellschaftlicher Verantwortung (Pb 9a: „Wenn Grundüberzeugungen gefährdet sind, ... müssen notfalls auch soziale Grenzen strapaziert oder gar überschritten werden“, Pb 18a: „Wer setzt die Regeln? Eltern, Schule, Polizei, Staat und Politik. Unsere Vergangenheit zeigt auf, dass ohne das Eingreifen von Einzelnen Veränderungen nicht statt-gefunden hätten“), und aus persönlich-individueller Überzeugung (Pb 12a: „Die Bereitschaft, diese herrschenden Regeln zu überschreiten, habe ich relativ häufig erfahren, auch in einem eher konservativen Kreis, wohl, weil die selbstständigen Entscheidungen über die ‚von höhe-rer Stelle‘ vorgegebenen Regeln gestellt werden“).

Bezweifelt wird also nicht die Tatsache, die Berechtigung oder gar die Notwendigkeit von Grenzüberschreitungen im Alter, bezweifelt wird jedoch häufig, dass Kenntnis und Überzeu-gung der Notwendigkeit von Grenzüberschreitungen allein eine Sache des Alters sein soll (z.B. Pb 3j: „Blöde Gegenfrage: Erwartet man das von einer oder einem 24-Jährigen nicht ebenfalls?“). Es wird eher vermutet, dass diese Überzeugung zu einem bereits früh initiierten Lernprozess gehört (Pb 15a: „In meiner ganzen Subjektivität meine ich, schon früher gewusst (geahnt) zu haben, wann es Regelverletzungen geben muss“, Pb 5j: „Vielleicht gehört das

nicht zur Lebenserfahrung, sondern zu einem Lernprozess“). Daraus folgernd werden Ansprü-che an die eigene Lernbereitschaft abgeleitet (Pb 5j: „... ein Prozess, der so früh wie möglich beginnt, falls diejenige Person diesen Prozess zulässt, ‚fortwährendlernbereit‘ ist und ihn durch Eigeninitiative eventuell noch fördert. Ich hab mir mal eine Zeitlang zur Aufgabe ge-macht, mich mit Situationen zu konfrontieren, vor denen sich andere drücken“), aber es wer-den auch Forderungen nach einer hierzu förderlichen Erziehung gestellt: „Die Jugend soll ihre Meinung äußern dürfen wie die Erwachsenen. Dies gilt als altklug, vorlaut oder einfach unge-zogen. Aber genau dies muss man sein, um die ‚Regeln‘ zu durchbrechen. Ein Kind, das sinn-loserweise zur Strafe in die Ecke gestellt wurde, wird hoffentlich einmal den Schritt zur Seite wagen und seinem ‚Erzieher‘ fürchterlich auf die Füße treten“ (Pb 18a).

In diesen Worten einer 54-Jährigen verdeutlicht sich nicht ganz zufällig die Meinung einer

„68erin“, die sich bereits mit Stolz zur heutigen und nicht zur „künftigen Altengeneration (etwa die 68er)“ (Eierdanz 1997: 226) zählt: Der Jugend soll der „aktive“ Bereich des „Über-schreitens“ in Form des „Auf–die-Füße–Tretens“ obliegen, nicht den Alten. Deren Aufgabe darf es heute sein, Unterstützung und Bestätigung zu geben, Ermutigung und Ansporn. Eine solche Tendenz ist unter einem Großteil der älteren Befragten auszumachen – lässt die erhoff-te Zukunftsperspektive Eierdanz‘ zur bereits aktuellen Sachlage werden: „Bereits in etwa zehn Jahren wird die 68er-Generation zu den ‚Alten‘ gehören, sie wird wahrscheinlich ihr Alter in manchen Bereichen anders gestalten und erleben als die heute alten Menschen“

(1997: 218). Doch sehen diese „Alt-68er“ ihre Aufgaben und Fähigkeiten zur sozialen Grenz-überschreitung nicht mehr wie einst auf dem aktiven, kämpferischen, revolutionären, außer-parlamentarischen Felde, dies wird, quasi als Reprise der eigenen Vergangenheit, weitgehend der Jugend zugesprochen: „Als junger Mensch habe ich die sozialen Regeln erkannt ... aber doch gelegentlich überschritten. Als alter Mensch ist man da eher vorsichtig. Bei den 68-ern waren keine Alten“ (Pb 4a) - wobei hier die „aktiven Kämpfer“, nicht unbedingt die rein intel-lektuell Wirkenden gemeint sind - und: „Mit den Grenzen ist man oft genug in Konflikt ge-kommen, um abschätzen zu können, wann sich das noch lohnt. Aber das Überschreiten – war das nicht immer eher Sache der Jungen? ... ein glaubhafter Rebell wird man nur im Junker-Jörg- und Don-Carlos-Alter, und Jesus ist auch nur 32 geworden“. Und auch einer der Jünge-ren bestätigt: „Der Hang zum Rebellentum ist den Alten weitgehend abzusprechen“ (Pb 8j).

Die Fähigkeit und Überzeugung zur notwendigen Grenzüberschreitung jedoch wird grund-sätzlich, wie bereits erwähnt, nicht abgelehnt oder aberkannt. Eher ist es so, wie ein Student vermutet: Es wird „der Ältere diese Grenzen anders wahrnehmen als der Jüngere und somit vielleicht mit dem Jüngeren bei der Umsetzung nicht übereinkommen“ (Pb 9j). Damit trifft dieser junge Mann genau den Punkt, in dem der Wandel der Grenzüberschreitungen im Laufe des Alternsprozesses stattgefunden hat:

Es ist der Aktionsboden, der sich verändert hat, vom jugendadäquaten Terrain z.B. der außer-parlamentarischen, oppositionellen Aktionen hat eine „Prozession“ stattgefunden auf das Gebiet der institutionellen, konstitutiven, gesellschaftlichen Regelkritik. Es entspricht dies der

„Überlegenheit“ von „älteren Erwachsene(n)“, bei Aufgaben, „die soziale und praktische In-telligenz sowie die Integration von Affekten in kognitive Systeme erfordern“ (P.B.Baltes/

Smith 1990: 101).

„Es kommt mir heute“, schreibt ein ehemalig überzeugter sozialer und politischer Grenz- und Regelüberschreiter und heute aktiver Kommunalpolitiker, „Regelverletzung manchmal etwas albern (und in der Regel seeeehr wirkungslos) vor“ (Pb 15a).

„Albern“ erscheint ihm diese Tätigkeit nicht „an sich“, „albern“ erscheint sie ihm bezogen auf sich selbst, auf sein heutiges Alter: Es entspricht nicht mehr seinen, während des Alternspro-zesses hoffentlich erworbenen, neuen Fähigkeiten und Möglichkeiten, „albern“ wäre in die-sem Fall ein Synonym für regressiv. In dem von Pb 5j geforderten „Lernprozess“, der „fort-währendlernbereit“ zu sein voraussetzt (s.o.), sind Fähigkeiten entwickelt worden, die jetzt im

Alter neue, andere Möglichkeiten zur Grenzkritik ermöglichen. „Je älter man wird“, mutmaßt ein junger Proband, „desto genauer kennt man die Regulierungen, weiß, wie man sie einzuset-zen hat und wie man sie umgehen kann, bzw. muss“ (Pb 14j).

Zusammenfassung

„Das betrachte ich als sehr großen Vorteil im Alter: Es ist nicht nur die Kenntnis der Regeln, sondern auch die abnehmende Furcht, die Regeln oder Grenzen zu verletzen oder zu übertre-ten, das sichere Bewusstsein über die Beschaffenheit und die Entstehungsgeschichte der Re-geln und Grenzen, über ihren Bezug zu den Systemen“ (Pb 17a), fasst ein 56-Jähriger seine neuen Fähigkeiten zusammen.

In diesen Worten wird deutlich, wie sich „die prozeduralen und faktischen Kenntnisse über grundlegende Fragen der Lebensbewältigung und Lebensdeutung zu Expertenwissen verdich-tet haben“ (P.B. Baltes/ Smith 1990: 103). Es liegt in diesem neuen Expertenwissen eine besondere Altersadäquanz, die – fern der Sturm- und Drang–Aktionen der Jugendzeit – erlaubt, gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken ohne sich der „Albernheit“ ju-gendlichen Rebellentums bezichtigen zu müssen: „Das Gute ist, dass man dabei nicht mehr Sturm gegen ein Bollwerk laufen muss“, erkennt Pb 17a, „sondern es oft von innen heraus verändern kann. Insofern ist das Grenzen- und Regelüberschreiten mit viel weniger Risiko verbunden“. Dazu kommt, dass man mit zunehmendem Alter „so sprachversiert geworden ist“, heute „nicht mein Selbstvertrauen mehr auf dem Spiel steht“, wenn man „Hierarchiekeu-len .. durch entsprechend deutliche Stellungnahmen abzuwehren“ in der Lage ist (Pb 17a).

Dass aus dieser neuen Altersfähigkeit („Hierarchiekeulenabwehr“), diesen neuen Alters-mitteln („Sprachversiertheit“, „Furchtlosigkeit“, „sicheres Bewusstsein“ – s.o.) mögli-cherweise zugleich eine neue gesellschaftliche, soziale Verantwortlichkeit resultieren könne, dem wird im Folgenden (vgl. Abschnitt 8 und 9) nachzugehen sein. Pb 17a hat dies be-reits für sich erkannt: „Eigentlich, denke ich, halte ich noch zu viele Grenzen und Regeln dort ein, wo es nicht sinnvoll oder notwendig ist. Ich müsste noch offensiver und souveräner damit umgehen“.

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