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4 Mögliche Aspekte von Kultur im Alter – Eingrenzungen, Ausschlüsse

4.3 Eingrenzung des kulturellen Milieu- und Bildungsaspektes

Als die Verfasserin 1997 für die Entwicklung eines Kulturkonzeptes der Stadt Horb a.N. eine Untersuchung zur Bestandsaufnahme am Ort durchführte, wurde sie im Verlaufe der Inter-views immer wieder gefragt, was denn die Frage nach dem Bildungsstand für eine Rolle spie-le. Tatsächlich scheint der Zusammenhang zwischen dem Besuch eines klassischen Konzer-tes, einer modernen Lyriklesung und der Aufführung eines Laientheaters zunächst keinen Zu-sammenhang mit „Hauptschulabschluss“ oder „Abitur“ aufzuweisen – zumindest nicht für den Abiturienten, der alle drei Veranstaltungen besucht. Etwas anders stellt sich der Zusam-menhang bereits für den Hauptschulabsolventen dar, der statistisch häufig im Laientheater, aber statistisch marginal im klassischen Konzert und gar nicht in der modernen Lyriklesung angetroffen wurde.

Deutlich und entsprechend zeigte sich der Zusammenhang zwischen Bildungsstruktur und kulturellem Verhalten unter dem Gesichtspunkt der Aktivität (hier: Besuchshäufigkeit) und der favorisierten Lokalitäten (hier: Veranstaltungsorte): Personen mit höheren Bildungsab-schlüssen besuchen deutlich häufiger kulturelle Veranstaltungen als jene mit niedrigeren Ab-schlüssen, sie bevorzugen Veranstaltungsorte (auch unabhängig von der künstlerischen Quali-tät des dort Gebotenen), die den Orten der sog. Hochkultur zuzuordnen sind (Museen, Bi- bliotheken, Schauspielhäuser etc.), im Gegensatz zu den Personen mit niedrigeren Bildungs-abschlüssen, die eher Veranstaltungen an Orten bevorzugen, die nicht eindeutig oder nur ge-legentlich Orte kultureller Aktivitäten sind (Sporthallen, Wirtschaften, Zelte, Freilichtbühnen, Schulen).

Dies entspricht dem fast definitiv und schicksalhaft beschriebenen Ergebnis der Studie der ARD/ZDF – Medienkommission „Kultur und Medien, Angebote – Interessen – Verhalten“, die konstatiert: „Kulturelle Angebote in den Medien wie vor Ort werden überproportional von

Bevölkerungsgruppen wahrgenommen, für die starkes kulturelles Interesse, formal höhere Schulbildung und eine ausgeprägte kulturelle Sozialisationserfahrung bereits in der Kindheit kennzeichnend sind. Kulturelle Sozialisation führt also zu einer lebenslangen Privilegierung oder Unterprivilegierung hinsichtlich der Zugangsvoraussetzungen kultureller Teilnahme“

(Frank et al. 1991: 391). Der Zusammenhang zwischen Bildungsstruktur und Sozialisation wird statistisch nachgewiesen, auf ihm beruht die gesamte Studie.

Es wäre verwunderlich gewesen, hätte sich in den Voruntersuchungen zum Kulturkonzept der Stadt Horb a.N. ein anderes Ergebnis herausgestellt – der Zusammenhang zwischen Bildungs-struktur und kulturellem Verhalten ist bekannt und lässt sich, obwohl so bereits auch im Be-reich vorwissenschaftlicher Erkenntnis verbreitet, mit einer unendlichen Reihe von wissen-schaftlichen Untersuchungen unterschiedlichster Thematik und differenter Schwerpunktset-zungen belegen (im Folgenden sollen nur die für diese Untersuchung besonders relevanten Veröffentlichungen angeführt werden):

Das kulturelle Aktionspotential steigt quantitativ und qualitativ mit zunehmenden Bildungs-voraussetzungen und sinkt mit abnehmenden.

Personen mit höheren Bildungsabschlüssen

1. zeigen ein allgemein höheres Aktivitätsniveau im Freizeitbereich.

So fasst die Stadt Köln eine Ergebnis einer Seniorenbefragung zusammen: „Anspruchsvollere Freizeitbeschäftigungen, wie künstlerische oder handwerkliche Hobbys, musische oder Sam-melhobbys, sowie der Besuch kultureller Veranstaltungen korrelieren erwartungsgemäß stark mit der Höhe des ehemaligen Berufsstatus sowie mit dem Schulabschluss der Senioren. Je hö-her der ehemalige berufliche Status und der Bildungsabschluss ist, umso höhö-her ist auch das Aktivitätsniveau im Freizeitbereich“ (Stadt Köln 1989: 87).

2. zeigen ein ausgeprägteres Kulturkonsum-Verhalten.

„Noch deutlicher als bei der Differenzierung nach Alter“, beweist ein weiteres Ergebnis der gleichen Untersuchung, „verlaufen die Unterschiede bei Senioren mit unterschiedlicher Schulbildung. Lediglich acht Prozent der Befragten mit einfachen Bildungsabschlüssen gehen mindestens einmal pro Monat zu kulturellen Veranstaltungen, während dies mehr als ein Drittel (35%) der Befragten mit mittleren oder höheren Schulabschlüssen tun. 70% der Senio-ren mit Volksschulbildung, aber nur 83% der Befragten mit mittleSenio-ren oder höheSenio-ren Schulab-schlüssen nehmen das kulturelle Angebot nie wahr“ (Stadt Köln 1989:87).

Die Studie der ARD/ ZDF Medienkommission „Kultur und Medien“ bestätigt, etwas diffe-renzierter, diese Kölner Erfahrung. Die Gruppen der „Kulturfernen“ (11% der Befragten) und der „Unterhaltungsorientierten“ (45,1% der Befragten), die sich durch eine stark bzw. leicht unterdurchschnittliche Bildungsstruktur ausweisen („In der Bildungsstruktur dieser Gruppe sind Haupt- und Volksschulabschlüsse extrem überrepäsentiert“ (Frank et al. 1991:345)), zei-gen keine oder eine unterdurchschnittliche Teilnahme an institutionellen Kulturangeboten (93% der „Kulturfernen“ haben hier „keinerlei Berührungen“, die Gruppe der „Unterhaltungs-orientierten“ bleibt mit ihrem Interesse deutlich unter dem Durchschnittswert) (a.a.O. S. 345).

Das „Kernpublikum“ des Kulturbetriebes hingegen ist dasjenige, bei dem „sich eine über-durchschnittliche Nutzung der institutionellen Angebote und besonders intensives Interesse ... mit überdurchschnittlichen, günstigen Zugangsbedingungen“ verbindet, diese werden aus-drücklich mit „Bildung/ Sozialisation“ benannt (a.a.O. S.369).

3. zeigen ein höheres und kritischeres Mediennutzungsverhalten.

Eindeutig stellen die Verfasser der Bertelsmann Studie „Kommunikationsverhalten und Me-dien“ (Saxer et al. 1989) den Zusammenhang von Bildungsvoraussetzungen und kritischer

Mediennutzung her: „Während sich bei der Differenzierung nach soziodemographischen Va-riablen als diskriminierendes Element immer wieder die Bildung erkennen lässt – höher Ge-bildete nutzen eher die Vielfalt der Medien, während niedriger GeGe-bildete sich eher dem unter-haltenden Angebot der elektronischen Medien zuwenden – eröffnen die Unterscheidungen nach Sozialisation, Persönlichkeit, insbesondere aber auch jene nach Freizeitgestaltung und Interesse einen breiteren Erklärungszusammenhang“ (ebenda S. 233). Bei allem deutlichen Ringen um die „political correctness“ einer sensibel individualisierten Typenbildung kommt auch die Bertelsmann Studie nicht umhin, festzustellen, dass die Typen der „Sozialisation in kulturell-intellektuellem Klima“ eher den kritisch-emanzipativen Weg der auswählenden Nut-zung sowohl des Mediums Fernsehen als auch des Mediums Buch beschreiten und die Typen des „kulturell-kommunikativen Vakuums“ eher dem unkritischen „passiven Medienkonsum“

erliegen (Saxer et al. 1989: 232 – 240). Auch mit solcherart verklausulierten Typenbezeich-nungen lässt sich statistisch an der vor- und der wissenschaftlichen Erkenntnis nichts ändern:

Die ehemalige „Bildungselite“ ist die heutige „Medienelite“ – erkennbar am selbstverständli-chen Medienumgang und souveränen Mediengebrauch.

4. sind gesellschaftlich-kulturell informierter.

Bereits die unterschiedliche Ausstattung der Haushalte mit Informationsmedien geben be-deutsame Hinweise: Bücher, Bildschirm, Bildschirmtext und Computer sind bei Haushalts-vorständen mit höherem Bildungsabschluss in deutlich höherem Maße vorhanden als bei solchen mit Hauptschulabschluss, allein der Tageszeitungs- und Zeitschriftenbestand unter-scheidet sich nur unwesentlich (Saxer et al. 81:36) – wobei zur Qualität dieser Medien später festgestellt wird: „Überregionale Tageszeitungen werden – erwartungsgemäß – häufiger von höher gebildeten Lesern genutzt ... Der umgekehrte Zusammenhang bezüglich der formalen Bildung der Leser zeigt sich bei Boulevardzeitungen. Alternative Tageszeitungen erhalten wiederum die meisten Nennungen in der höchsten Bildungsschicht“ (ebenda S.63).

Eindeutige Zusammenhänge zeigen sich bei der Ausstattung der Haushalte mit dem elektroni-schen Medium Computer und bei der damit gegebenen Möglichkeit des Internet-Zuganges:

Waren es 1989 in den Ergebnissen der Bertelsmann Studie noch 13,6% der Befragten mit A-bitur gegenüber 3,4% der Befragten mit Hauptschulabschluss, so zeigt sich in der neuesten EMNID Studie vom August 2000, dass trotz ungehinderter, kostengünstiger Zugangsmöglich-keiten der letzten Jahre hinsichtlich des Informationsmediums Internet ein deutlicher Zusam-menhang zwischen Internetausstattung und -nutzung mit dem Bildungsstand der Befragten besteht: „Die Bundesrepublik ist auf dem Weg in eine Zwei-Klassen-Gesellschaft. Die einen mit Internet, die mehr wissen, mehr können, mehr erreichen – und die anderen, die dem Neu-en hilflos ausgeliefert sind ... Wer intNeu-ensiv surft, hat ... eine bessere Schulbildung, als Leute, die selten oder nie ins Internet gehen“ (Spiegelreporter 8/2000:20).

Die Zeitschrift Spiegel, die die Umfrage beim Meinungsforschungsinstitut EMNID in Auftrag gab, zieht den besorgten Schluss: „Deutsche ohne Internet – gehören sie bald zu den moder-nen Analphabeten, zu den Know-nots ...?“ (Spiegel 8/2000: 20). Die Internet-Nutzer sind nicht nur gebildeter, lesen mehr Bücher, sie sind auch selbstständiger, flexibler und verdienen besser. Den Internet-Zugang bezeichnet der „Spiegel“ als Symptom für die neue Zwei-Klas-sen-Gesellschaft: Die Gebildeten und damit zugleich Informierten sind die Gewinner, die „an-deren ...werden ganz allmählich zum Proletariat der vernetzten Wissensgesellschaft“ (a.a.O.

S. 24). Parallel, so lässt sich schlussfolgern, verläuft zur Bildungs-, Medien- und Informati-onskluft die „digitale Kluft“.

5. haben insgesamt ein positiveres Selbstbild und damit solidere Grundlagen für die Bildung von sozialen und kulturellen Netzwerken.

Zusammenhänge mit der Schulbildung weist die Interdisziplinäre Langzeitstudie des Erwach-senenalters (ILSE) des DFZA unter Leitung von Ursula Lehr sowohl im Bereich der

Intelli-genzleistung als auch und vor allem ganz deutlich im positiven Selbstbild nach: „Hinsichtlich der Komponenten des Wohlbefindens traten Bildungsunterschiede bei den Komponenten

‚selbsterlebte Kompetenz‘, ‚Antizipation‘ und ‚Offenheit‘ auf. Diese waren bei Personen mit höherer Bildungsqualifikation in stärkerem Maße ausgeprägt“ (Lehr, Schmitt 1997:49). Eine solche „positive Selbsteinschätzung“ ist eng verbunden mit der Lust und dem Willen zur Be-schäftigung mit Bildungsangeboten, die über eine individualistische Stufe hinausgehen und um kommunikative Elemente gesellschaftlicher Bildungsaktivität erweitert sind.

6. weisen bessere Möglichkeiten zur außerhäuslichen Lebensgestaltung auf.

Aufgrund der höheren Schulabschlüsse, so wird in der Expertise „ Ressourcen älterer und al-ter Menschen“ vermutet (BMFuS 1993), sind Menschen besser darauf vorbereitet, „sich auf neue Anforderungen im Alter einzustellen und ihren Alltag eigenständig bzw. im Kontakt mit anderen zu bewältigen“ (BMFuS 1993:61). Möglicherweise, so wird vermutet, sei Bildung ei-ne der größten Altersressourcen, denn: „weil es so viel freie Alterszeit gibt, sind zeitbindende, zeitstrukturierende Angebote des Sich-mit-Daseinsthemen-Auseinandersetzens produktiv, ist Bildung eine Ressource zur Lebens- und Problembewältigung und zur Antizipation, Vor-be-reitung, Anpassung und damit besseren Bewältigung von Ereignissen und veränderten Situa-tionen“ (BMFuS 1993: 62)

In seiner kultursoziologischen Untersuchung fasst Gerhard Schulze zusammen: „Stark ausge-prägt ist der positive Zusammenhang zwischen Bildung und Hochkulturschema, ebenso deut-lich der negative Zusammenhang zwischen Bildung und Trivialschema. Deutdeut-lich nimmt mit dem Bildungsgrad die allgemeine Bereitschaft zu, die eigenen vier Wände zu verlassen und am kulturellen „Erlebnismarkt“ teilzunehmen. Spiegel, Zeit, Stadtmagazin, überregionale Zei-tungen sind Medien der oberen Bildungsschichten; Bildzeitung, Abendzeitung, Anzeigenblät-ter, Goldenes Blatt oder Frau im Spiegel haben ihre Kunden dagegen in den unteren Bildungs-schichten ... Gleiche Medien werden von den BildungsBildungs-schichten unterschiedlich genutzt. So haben höher Gebildete mehr Interesse an Politik, Kultur, Wirtschaft und gesellschaftlichen Prozessen, weniger Gebildete sind offener für regionale und lokale Themen, Werbung, Son-derangebote und lebenspraktische Informationen.

Dadurch wird Bildung zum Zeichen von Alltagswissen und Formen der Wirklichkeitsverar-beitung, für Problemdefinitionen und Problemignoranzen“ (Schulze 1993: 191, 192). Damit zeigt sich die Bildungsstruktur nicht nur quantitativ als höhere oder geringere, nicht nur quali-tativ als bessere oder schlechtere Voraussetzung für kulturelle Aktivitäten des Menschen, son-dern Bildung enthält hier bereits gleiche definitorische Zuschreibungen wie die Kultur selbst:

Die Art, die Qualität und die Form von Wirklichkeitsverarbeitung ist bildungsabhängige Leis-tung, wie sie kultureller Akt selbst ist. Die diskursive Deutung von Wirklichkeit, der reflexive Umgang mit scheinbar Selbstverständlichem, die permanente Destabilisierung von Eindeuti-gem und Gegebenem, die Akzeptanz von Vielfältigkeit, Paradoxien und Widersprüchlichkei-ten in der Interpretation von Wirklichkeit ist Bildungszeichen und kultureller Akt zugleich.

Sie stehen in einem scharfen Widerspruch zu naivem Harmoniebedürfnis im Betrachten, Er-leben und Verarbeiten von Wirklichkeit und zur Eindeutigkeit und Stabilität eindimensionaler Populärkultur.

Beinahe zwangsläufig schließt so eine Kulturarbeit in dem hier definierten Sinn die Bevölke-rungsgruppe mit unterdurchschnittlich strukturierten Bildungsvoraussetzungen aus. Diese Gruppe wird bei Schulze bezeichnenderweise ausdrücklich als „Harmoniemilieu“ bezeichnet, neben einem niedrigen Schulabschluss (bei Schulze: unterhalb des Realschulabschlusses) zeichnet sich diese Gruppe tendenziell durch Scheu, ja Angst vor Unbekanntem, Ungewohn-tem, KomplizierUngewohn-tem, gar Avantgardistischem im „Zeichenkosmos“ aus, man sucht „nach der Provinz der Harmonie“ (Schulze 1993:294). Aufklärung und damit Verunsicherung,

Informa-tion und damit Orientierungs- und Entscheidungszwänge, stehen dem Bedürfnis nach Gesi-chertem, Beruhigendem und Eindeutigem entgegen und werden gemieden. Gerade diese Ein-stellung aber in gerade dieser als bildungsmäßig unterprivilegiert bezeichneten Gruppe scheint das entschiedene und engagierte Interesse von Kulturarbeitern zu erwecken. Denn freilich hat man gerade in der Kulturarbeit eben jene missliche Erfahrung gemacht: „... es werden eben jene Personen, denen sich die Altenbildung im Sinne der Interventionsgeronto-logie fördernd zuwenden möchte, nur schwer erreicht – dieser Personenkreis kommt von sich aus nicht zu Veranstaltungen der Altenbildung“ (Karl 1989:164). So stellt das Phänomen der

„Bildungsabhängigkeit der Altenbildung“ (vgl. Tews 1976) für die Kulturarbeit offensichtlich eine besondere Herausforderung dar – Altenbildung darf nicht „eine Sache für ‚Privilegierte‘

werden und bleiben“ (Karl 1989: 164). Unter dem Gesichtspunkt des „lebenslangen Lernens“

erarbeitet man didaktische und methodische Konzepte der Kulturarbeit. Diese stellen in der Literatur der Kulturarbeit und des Kulturmanagements die Grundlage der sog. „Seniorenkul-turarbeit“ dar: Entschulung, Dezentralisierung, Zielgruppenarbeit, Kreatives Tun, Bringstruk-tur und zugehende Altenarbeit sind ebenso Schlagwörter wie der Begriff des „lebenslangen Lernens“ selbst, der von Weinert entmythologisiert wird - die Vision des lebenslangen Ler-nens erkennt er als Illusion: „Den meisten Visionen wachsen schnell die Flügel von Illusio-nen, so dass Realitäten ignoriert, verkannt oder verklärt werden, gesellschaftlich oder pädago-gisch Wünschbares mit dem psycholopädago-gisch Machbaren verwechselt wird. Solche kognitiven Täuschungen - eine solide Basis für künftige Enttäuschungen - lassen sich auch in der gegen-wärtigen bildungspolitischen Aufbruchstimmung beobachten. Ein neuer Mensch als Produkt aus gutem Willen und falscher Vorstellung wird herbeigeredet – unter völliger Missachtung historischer Menschheitserfahrungen und verfügbarer psychologischer, neurobiologischer und philosophischer Erkenntnisse über die Natur des Menschen, über seine Entwicklungspotentia-le und Veränderungsmöglichkeiten, aber auch über seine Invarianten und Begrenzungen“

(Weinert 1999: 51). Diese Begrenzungen, diese Invarianten sind „Realitäten“, es sind die Ängste und Unsicherheiten und das nach Schulz daraus folgende Harmoniebedürfnis. Es feh-len eben die stabilisierenden Bildungsvoraussetzungen, die befähigen könnten zur souverä-nen, kritischen, selbstbewussten Auseinandersetzung mit der Umwelt und verhelfen könnten zu der Erkenntnis, dass eben diese Umwelt ein gesellschaftliches Produkt und Konstrukt so-wie individuell mitbestimmtes Faktum und somit prüf- und veränderbar ist. Diese Fähigkeit und Erkenntnis sind Resultat verfügbaren Wissens, der Information und in der Folge der Ur-teilsfähigkeit. Wenn es denn in der Kulturarbeit – und so wurde sie in den vorangegangenen Abschnitten definiert – „im Verlauf des Erwachsenenalters nicht nur um den Erwerb einfa-cher Kenntnisse, simpler Routinefertigkeiten und leicht erlernbarer Kompetenzen geht, son-dern um den weiteren Auf- und Ausbau anspruchsvoller Problemlösefähigkeiten, komplexer Wissenssysteme und eines reflexiv wie automatisiert nutzbaren Könnens .... so entscheiden vor allem die Qualität von Bildung und Ausbildung neben hohen intellektuellen Fähigkeiten über die Erträge des lebenslangen Lernens“ (Weinert 1999:54). In der Kulturarbeit, vornehm-lich im Bereich der kulturellen Bildung ist damit der Rückgriff auf einen bereits vorhandenen Kompetenzvorrat unumgänglich: Nur unter der Voraussetzung einer bereits vorhandenen gu-ten Bildungsstruktur ist nach Weinert lebenslanges Lernen erfolgreich möglich, es bliebe nur

„ein medienwirksames Schlagwort, wenn nicht durch Schule und Hochschule die individuel-len Kompetenzvoraussetzungen bei den Lernenden ... geschaffen werden“. Zwar sei lebens-langes Lernen notwendig, möglich und auch praktizierbar – es ist jedoch „keine einfach zu schluckende Wunderdroge, um Mängel der Schulbildung, um kognitive Defizite und um feh-lende Anstrengungsbereitschaft zu heilen“ (Weinert 1999: 55; vgl. dazu auch Heid 1988: 463 f).

Kulturarbeit in Form von karitativen, kompensatorischen Aktivierungs- und Beschäftigungs-programmen zur Steigerung der Kontaktfähigkeit, zur kreativen Selbstverwirklichung, zur

Überwindung von Einsamkeit und Depression, zum Aufbau des Selbstbewusstseins – das ist Kulturarbeit im Sinne eingreifenden, protektiven pädagogischen Lenkens. Kulturarbeit als lebenslanges Lernen, als kulturelle Aktivität im Sinne eines Prozesselementes der gesell-schaftlichen Mitbestimmung und Mitgestaltung, im Sinne einer offensiven, diskursiven gesellschaftlichen Praxis, eines konfliktträchtigen Potentials der Verunsicherung beruht dagegen ganz entscheidend auf der Qualität von Bildung.

Die Möglichkeit und auch die Notwendigkeit, kulturfernere ältere Menschen mit schwächerer Bildungsstruktur zur kulturellen Aktivität mit Konzepten etwa des „kreativen Tuns“ zu moti-vieren, ist honorable und respektable Aufgabe der Interventionsgerontologie, es entspricht dem traditionellen Verständnis von „Seniorenkulturarbeit“. Es ist ein hochinteressantes und bereits auch vielfach bearbeitetes Thema, jedoch nicht das dieser Untersuchung. Es wird im Folgenden auf die sozial verstandenen Angebote der „Altenkulturarbeit“ nicht einge-gangen, sondern es wird von den Möglichkeiten eines kulturellen Zugewinnes durch ein selbstbestimmtes Alter ausgegangen. Dafür sind höhere Bildungsstrukturen notwendige Bedingung.

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