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5 Die Konstitution des Alters: Der lange Weg der alten Weisen über die soziale

8.4 Ergebnisse und Auswertung

8.4.2 Qualitative Analyse

8.4.2.3 Potentiale und Ressourcen

8.4.2.3.3 Fähigkeit zur sinnbestimmenden integrierenden Zusammenschau

Diese vermutete kulturrelevante Altersfähigkeit orientiert sich an dem Kriterium des „Life-span Kontextualismus“ (Baltes) zur Bewertung von Urteilsfähigkeit im Bereich der funda-mentalen Pragmatik des Lebens. Sie zielt auf „die ontogenetische, historische und biografi-sche Einbettung von Lebensproblemen (...) und die zahlreichen Umstände und Bereiche (...), in die ein Leben eingebunden ist“ (Staudinger/ Baltes 1996: 61). Die Erkenntnis, „dass sich Kontexte verändern und ... in einem existenziellen Spannungs- und Konfliktverhältnis stehen können“, und das Verständnis für die Vernetzung von Lebenszusammenhängen könnte, so wurde vermutet, eine Leistung des Alters deshalb sein, weil eine retrospektive Betrachtungs-weise zwingend erforderlich ist. Dies war nicht uneingeschränkt die Meinung der jüngeren

Probanden (hier fand sich nur eine einzige positive Stellungnahme zu diesem Aspekt) und stieß auch bei den älteren Teilnehmern auf eine sehr gemischte Akzeptanz: Fünf positive Stel-lungnahmen standen sieben ablehnenden (davon drei sehr entschiedenen) und sieben höchst zweifelnden gegenüber.

Anlass zur Auseinandersetzung mit dem Gedanken der integrierenden, in der Folge auch revi-dierenden Zusammenschau war zunächst ein Zitat aus der Studie „Die Kölner Alter – Native“

des Institutes für qualitative Markt- und Medienanalyse Rheingold: „(Zentrale Erkenntnis un-serer Studie ist:) Ältere Menschen absolvieren (in einer ganz bestimmten Phase des Lebens noch einmal) eine ‚Späte Reifeprüfung‘“, d.h., dass sie „... praktisch das ganze Leben (alle Gewohnheiten und Abläufe des Alltags) noch einmal (zu) revidieren und neu (zu) sortieren“

(rheingold 1999: 5, in Klammern die gekürzten Satzteile).

Die Aussage dieses Items war inhaltlich schwer zu trennen von der des siebten Items „Le-benserfahrung beinhaltet auch die Fähigkeit, scheinbare Paradoxien und Widersprüche zu-sammenzuführen und eigene Irrtümer zu erkennen und einzugestehen“ (Staudinger& Ditt-mann–Kohli 1992: 412). Zum Teil verwiesen die Befragten selbst darauf („Schon bei drei darauf eingegangen“, „s.o.“), zum Teil differenzierten oder vertieften sie die jeweilige Aussa-ge. Bei den Stellungnahmen zu diesen beiden Items war eine so hohe Korrelation festzustel-len, dass sie hier gemeinsam in die Analyse einfließen – zumal sie auch inhaltlich sich beide auf die Erkenntnis von Kontextveränderungen und auf die Erkenntnis von Veränderungsmög-lichkeiten beziehen.

Auffallend war zunächst, dass es genau diese Möglichkeiten zur Kontextveränderung waren, die in Zweifel gezogen wurden, nicht jedoch oder weniger die Möglichkeit zur Erkenntnis, zu Interpretation und Revision als eine bestehende Tatsache: Die Kompetenz einer komplexen Vernunft (auch, aber nicht nur) im Alter wird weitgehend bejaht. Als „Klugheit“ bestätigt Pb 11j diese Fähigkeit, als „Reife“ Pb 13a. Durch „Zuwachs an Selbstbewusstsein“ erklärt Pb 7a die souveräne Realisierung der durchweg anerkannten, geschätzten Fähigkeit: „Widersprüche kriegt man relativ locker auf die Reihe. Irrtümer erkennen und vor allem einzugestehen, fällt leichter als früher“.

Allerdings wird die Kompetenz weniger auf den Alternsprozess oder die zunehmende Erfah-rung zurückgeführt, als vielmehr auf „Flexibilität“ (Pb 11a), „Großzügigkeit“ (Pb 4j), „per-sönliche Veranlagung“ (Pb 5a) oder zu einer „Typ- bzw. Mentalitätssache“ (Pb 6j) erklärt.

Entsprechend gestehen Ältere auch Jüngeren diese Fähigkeit zu (z.B. Pb 7a: „Sie kann aber auch in jungen Jahren erlernt werden. Sie ist also nicht an einen an das Lebensalter geknüpf-ten Erfahrungsprozess gebunden“), wie sie von Jüngeren auch für sich beansprucht wird (z.B.

Pb 13j: „Die Aussage beziehe ich nicht nur allein auf ältere Menschen. Ich finde, dass dies ein fortwährender Prozess ist und bereits im Jugendalter beginnt“).

Und genau in dieser Zeit scheint ein solcher Prozess vielen Befragten auch allein sinnvoll zu sein: in der Jugend, im jungen Erwachsenenalter, im mittleren Erwerbsalter – immer dann, wenn die Reflexionsfähigkeit eingesetzt werden kann für eine Optimierung der „Lebenspla-nung und Lebensgestaltung“ (Pb 13j). „Diese Aussage“, so schreibt ein jüngerer Befra-gungsteilnehmer, „trifft auf Menschen jeden Alters zu, die einen neuen Lebensabschnitt be-ginnen, bzw. gerade einen Lebensabschnitt beendet haben ... bei jungen Menschen ... ist das Revidieren und neu Sortieren ... Bestandteil der sich verändernden Lebenssituation“ (Pb 10j).

Und ein älterer Proband fragt provokativ: „Was ist alt? Revidieren und neu Sortieren ab wann? Das Leben prägt täglich, bestimmt unser Verhalten und außer guten Vorsätzen bleibt selten was übrig“ (Pb 19a). Hierin wird, was sich bereits in den Aussagen zu den beiden ers-ten Items abzeichnete, eine Konzentration auf eine zielorientierte Sinn–Suche deutlich: Was soll die Kompetenz zur komplexen Vernunft, wenn nicht eine Aktivität, ein bestimmtes ver-ändertes Verhalten daraus resultiert? „Nix da!“, beendet ein 49-Jähriger jeden möglichen (Selbst-)Zweifel, „der (revidierende) Blick zurück bringt für heute und morgen gar nichts“

(Pb 16a). „Nichts bringen“ – das bedeutet, keinerlei Nutzen für das „wirkliche“ Leben, das Handeln zu haben.

Die - unbestrittene – Kompetenz wird so (allein) als eine dem Handeln zugrunde liegende Fä-higkeit verstanden; die resultierende Fertigkeit, die Performanz wäre damit sinngebender Fak-tor der Alterskompetenz. Da die Performanz jedoch aus vielerlei (u.a. medizinischen, psycho-logischen) Gründen im Alter eingeschränkt sein kann, wäre die Kompetenz „an sich“ sinnlos:

„Notfalls wird eben alles zu einem Zufriedenheitsbrei zusammengerührt. Ich glaube nicht, dass die verschwindend geringe Chance zum Neubeginn die Tendenz zum klarsichtigen Rückblick, zur unbarmherzigen Bilanz fördert“ (Pb 2a), urteilt ein 53-Jähriger und entscheidet damit: Nur bei einer „realistischen“ Chance zur Umsetzung wäre eine Motivation zur Lebens-bilanzierung vorhanden – sonst bleibt nur die Zufriedenheit, die für den Probanden (verdeut-licht durch die Kombination mit „Brei“), einen negativ empfundenen, da handlungshemmen-den, mindestens aber handlungsirrelevanten Zustand darstellt.

„Diese Erfahrung habe ich bei älteren Menschen erleben dürfen“, bestätigt auch eine ältere Probandin zwar eine vorhandene Kompetenz zur Bilanzierung, erkennt jedoch darin eine Aus-weglosigkeit: „... empfinde es jedoch als traurig und sinnlos“ (Pb 18a). Und ein 76-Jähriger erklärt ebenfalls die Sinnlosigkeit aus der Folgenlosigkeit für das Handeln: „Auch sehe ich keinen Sinn darin, das bisherige Leben zu revidieren ... Versäumtes in der Jugend kann man im Alter schwerlich nachholen“ (Pb 4a). Auf die Zweckgebundenheit der Bilanzierung zielt auch die Frage einer 24-Jährigen: „Zum Beispiel was das Aufziehen von den eigenen Kindern angeht scheinen die Menschen im Alter Irrtümer schnell und ohne Probleme zuzugeben ...

warum eigentlich?“ (Pb 3j) – sie können ja doch nichts mehr ändern, wäre die gedankliche Ergänzung. Pb 1j findet: „Es wäre doch schade, alles zu revidieren“ und Pb 13j „warnt“ gar vor den offensichtlich als fatal empfundenen Folgen, wollten Alte ihre Bilanzierung sinnvoll nutzen: „In meinem Bekanntenkreis haben bereits einige dieser ‚Rückblicke‘ zu einschnei-denden Veränderungen geführt. Und besonders bei älteren Menschen ... endeten diese Neu-Gestaltungen des Lebens in Scheidungen und großem Krach“.

Zusammenfassung

Mit eingeschränkter Performanz und der dadurch stark eingeschränkten Möglichkeit, es „an-ders zu machen“ – so sind überwiegend die Aussagen zu diesem Item interpretierbar – er-scheint zunächst und zumindest die Bereitschaft zum revidierenden Rückblick beeinträchtigt, vielleicht sogar gelähmt zu werden. Und im Sinne dieser resignativ gefärbten Lähmung bleibt dann wohl auch der „Fähigkeit“ zur revisionsoffenen–interpretierenden Lebensrückschau zu geringe Entfaltungsmöglichkeit, denn das darauf bezogene Wollen ist eine notwendige Bedin-gung der Entfaltung des Könnens. Hier scheint es also nicht um einen Mangel an Lern- und Leistungspotential, sondern der Lern- und Leistungsbedingungen, nämlich einer resignativen Einschätzung der Umsetzungsmöglichkeiten zu gehen. Der revidierende und interpretierende Lebensrückblick scheint „traurig und sinnlos“ (Pb 18a), scheint „keinen Sinn“ mehr zu haben.

Bei hoher Zustimmung zum Vorhandensein einer Altersfähigkeit der komplexen Vernunft, wird diese jedoch mangels möglich erscheinender Umsetzbarkeit als irrelevant abgelehnt:

„Besinnung und Selbstprüfung finden im zunehmenden Alter häufiger statt als in jungen Jah-ren. Wenn diese dazu dienen, die eigene Lebenssituation neu auszurichten, können sie eine Art Reifeprüfung sein, sind es jedoch dann nicht, wenn man nicht konsequent ist“ (Pb 7a).

Wie bereits in den Aussagen des zweiten Items wird hier eine Tendenz zum amerikanisch-philosophischen Pragmatismus deutlich: Eine Fähigkeit ist dann relevant, wenn sie sich in der Handlung bewährt – nur in der Performanz beweist sich der Grad der Kompetenz. Auch die Nähe zur europäisch–philosophischen Forderung des Aktionismus wird deutlich, nämlich

„nicht in einer bloßen Betrachtung der Welt zu verharren, sondern von der Theorie zur Praxis zu schreiten“ (Weltbild 1992: 12). Insofern könnte die erhobene Abneigung gegen

Revisi-on sogar Indikator komplexer Altersvernunft bzw. –weisheit sein: Man erkennt, welcher Einsatz sich „noch lohnt“.

Doch diese Überzeugungen zeigen Brüche und Auflösungserscheinungen: „Die zunehmende philosophische Kritik einer auf instrumentelles Denken beschränkten Rationalität verleiht komplexen Vernunftformen mehr Ansehen“ (Rosenmayr 1996: 56). Das moderne, narrative Moment der Lebenslaufgestaltung gewinnt zunehmend an Überzeugungskraft. Statt in seinem Selbstbild sich dem Zwang der „Realisierung“ auszusetzen, scheint es glaubwürdiger gewor-den, sich erzählend der Wirklichkeit zu nähern. Nicht nur die reflexive Postmoderne ist philo-sophische Grundlage, auch die, bezeichnenderweise in Westeuropa immer mehr akzeptierte

„Fernöstliche Weisheit, die nicht so sehr unter dem Zwang der Konstituierung und Ich-Realisierung stand als weitgehend die westliche Philosophie des Abendlandes, hat dies viel-fach zum Ausdruck bringen können“ (Rosenmayr 1996: 59).

So werden auch von einer jungen Befragten die Begriffe „revidieren“ und „sortieren“ nicht als handlungsorientiert verstanden, sondern als „aussortieren“ und „zurechtlegen“: „... bestimmte Situationen zurechtlegen, was heißt: ihr damaliges Handeln ihrer derzeitigen Situation anzu-passen“ und „dass sie auf neue Fragen und Situationen entsprechend ihren Erfahrungen be-stimmte Antworten ... aussortieren“ (Pb 5j). „Aussortieren“ entspricht somit einer „Bewer-tung“, und „Zurechtlegen“ entspricht einem „Ordnen“ – sie legt also den Schwerpunkt in ihrer Aussage auf den konstruktiven Akt der Interpretation und Besinnung. In dieser Tätigkeit er-kennt auch ein jüngerer Teilnehmer bereits den Sinn: „... aus der Ferne betrachtet bewerten und einordnen zu können“ (Pb 8j). Er wird darin unterstützt von einem anderen jüngeren Teilnehmer, der ein Primat des Handelns ablehnt zugunsten der Selbstreflexionen: „Wer sich selbst und das eigene Handeln über alles stellt, ist nicht mehr bereit, sich noch einmal von außen zu betrachten und sich selbst und sein Tun zu beurteilen“ (Pb 14j).

So werden durchaus Ansätze zu einer Orientierung und Erkenntnis sichtbar, dass ein Sinn der Altersfähigkeit zur komplexen Vernunft in sich selbst oder aber auf einer an-deren Ebene liegen könnte als in einer (fortgesetzt) effektiven „Lebensgestaltung und Lebensplanung“ (Pb13j).

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