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5 Die Konstitution des Alters: Der lange Weg der alten Weisen über die soziale

8.4 Ergebnisse und Auswertung

8.4.2 Qualitative Analyse

8.4.2.3 Potentiale und Ressourcen

8.4.2.3.2 Fähigkeit zu mehrdimensionalem, zieloffenem Reflektieren

Anlass zu einer Auseinandersetzung mit der These einer Altersfähigkeit zu mehrdimensiona-lem, zieloffenem Reflektieren war das Zitat „Ältere Menschen, gelegentlich bezeichnet als

‚Experten in Bezug auf Fragen des Lebens‘, zeichnen sich durch komplexe Urteile aus, in die zahlreiche Aspekte der Lebenssituation eingehen“ (Schmitz-Scherzer et al. 1993: 52).

Zunächst ist festzustellen, dass das Wort „Experte“ Irritation und Widerspruch ausgelöst hat.

Expertentum scheint mit exzeptioneller Kompetenz gleichgesetzt zu werden. Es spricht nicht nur für die realistische Selbsteinschätzung, sondern auch für die sorgfältige bzw. gewissenhaf-te Bearbeitung der Impulse, wenn die Probanden zögern oder gar ablehnen, sich selbst als Experten zu begreifen und zu bezeichnen. Das mit dem Wort „Experte“ gekennzeichnete An-spruchs- und Kompetenzniveau geht nach Auffassung der Probanden über das hinaus, was sie sich selbst zuschreiben, zutrauen, zumuten. Dafür einige Belege: Pb 7a: „Aber die Aussage, dass sie deshalb automatisch als diesbezügliche Experten angesehen werden, halte ich für pro-blematisch“, Pb 14a: „... lässt sich das Wort Experte auch in Bezug auf das höhere Lebensal-ter nicht unbedingt anwenden“, Pb 6a: „Hier stellt sich aber die Frage nach der Gültigkeit ei-nes solchen Expertentums...“.

Wenn man berücksichtigt, wie behutsam auch Experten-Forscher mit der Verwendung des Begriffs „Experte“ umgehen, so zeugen die zitierten Reaktionen der Probanden nicht nur von gleichermaßen differenzierten Vorbehalt, sondern fordern hinsichtlich der Reaktionszuverläs-sigkeit und des Reflexionsniveaus der Reaktion durchaus auch Respekt. So kommen Baltes und Smith (1990: 109) zu dem folgenden Ergebnis: „In den meisten Bereichen ist ein enormer Zeit- und Motivationsaufwand erforderlich, um Experte auf einem Gebiet zu werden ... Nach Ericssons Schätzungen sind dazu mindestens zehn Jahre sowie ein hochdifferenziertes , indi-viduell zugeschnittenes Trainings- und Supervisionsprogramm nötig. In vielen Bereichen werden darüber hinaus Möglichkeiten, Wissen zu erwerben und (eventuell) Anerkennung als Experte zu finden, durch Gesellschaftsstrukturen begrenzt. Experten sind darum in der Tat als Ausnahmen anzusehen. Und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass es beim Experten-tum im Bereich der fundamentalen Pragmatik des Lebens anders aussieht“ (P.B. Baltes &

Smith 1990: 109).

Der Erhebungsbefund begründet den Zweifel, ob der eingeschobene Nebensatz des Zitates („gelegentlich bezeichnet als ‚Experten in Bezug auf Fragen des Lebens‘“) nicht doch besser aus dem Statement herausgelassen worden wäre. So sehr die referierten Reaktionen darauf als Indikatoren für die Qualität der Antworten interpretierbar sein mögen, so sehr kann man auf der anderen Seite aber auch zweifeln, ob sie inhaltlich irgendetwas zur Klärung oder Vertie-fung der eigentlichen Aussage beigetragen haben, oder man muss sogar befürchten, dass sie von wichtigeren Komponenten der inhaltlichen Stellungnahme abgelenkt haben.

Der Kontext der Probandenreaktion rechtfertigt jedoch andererseits die Vermutung, dass mit der unbeabsichtigten „Provokation“, Alte als Experten mehrdimensionalen Reflektierens zu interpretieren, ein gewisser „Leistungsdruck“ ausgeübt worden ist, besonders gewissenhaft Auskunft darüber zu geben, wie sie ihre eigene Kompetenz und die Kompetenz ihrer Alters-genossen „wirklich“ einschätzen, interpretieren, beispielhaft verdeutlichen.

Fünf der Befragten lehnten die Aussage des Zitates heftigst ab (z.B. Pb 19a: „... sind engstir-nig und festgefahren...“, Pb 12a: „Ich habe das Gefühl, dass Urteile von älteren Menschen nicht komplex, sondern eher vereinfacht und verhärtet ausfallen. Die wahrgenommene Reali-tät ist doch meistens von einer ganz persönlichen Sehweise des eigenen Lebens bestimmt, die durch Wunschdenken geprägt und bestätigt wird“, Pb 11j: „Nein!“, Pb 6j: „... da ich öfter festgestellt habe, dass ältere Leute durch die Brille ihres Zeitgeistes sehen“), bei drei Proban-den erregt es großen Widerspruch (z.B. Pb 1j: „Mit Lebenserfahrung hat das wenig zu tun.

Entweder man kann es oder nicht. Oder: Man will es oder nicht“, Pb 7a: „... kann Alter auch Starrsinn bedeuten, Ahnungslosigkeit gegenüber Neuem, Festhalten am Vertrauten“), drei-zehn Befragte beurteilen die Aussage als höchst fragwürdig. Einerseits wird grundsätzlich das Vorhandensein der Fähigkeit zu komplexen Urteilen vor allem von den Älteren bestätigt (z.B.

Pb 16a: „Ja, aber...“, Pb 7a: „Ja, insgesamt wahrscheinlich schon“), und teilweise von den Jüngeren unterstützt (z.B. Pb 4j: „Definitiv richtig nach meiner Erfahrung“), und wie im ers-ten Item, durch kumulative Bedingungen anscheinend logisch begründet (z.B. Pb 2a: „Ja klar, die Menge macht’s“, Pb 5a: „Komplexe Urteile, da mag was dran sein, weil Alte einfach

mehr Lebensstoff zur Verfügung und zum Vergleichen parat haben“, Pb 7a: „Ja, erfahrungs-bedingt“).

Immer wieder wird von Befragten auf eine negative Seite der komplexen Urteilsfähigkeit hin-gewiesen: Mehrdimensionalität und Zieloffenheit der Reflektion scheint vielen Probanden für die ‚Pragmatik des Lebens‘ geradezu hinderlich zu sein.

Bereits 1987 diagnostiziert Thomae in den Materialien zum Vierten Familienbericht „Kompe-tenz und soziale Beziehung im Alter“ einen Zwiespalt in der Differenzinterpretation geforder-ter und erbrachgeforder-ter Beurteilungskompetenz in Testreihen, die sich mit Algeforder-tersdefiziten beschäf-tigen: „Bei einer Analyse der fehlerhaften Antworten ... wurde erkennbar, daß die Älteren die vorgegebenen Aufgaben in einer von den Versuchsleitern nicht vorgesehenen komplexen Weise sahen. Die ‚Fehlinterpretation‘ der Aufgaben verwies auf einen viel größeren Realitäts-bezug als dies für die richtige Antwort erforderlich ist. Der RealitätsRealitäts-bezug führt dazu, daß äl-tere Personen ‚falsche‘ Erklärungen geben, weil sie das Problem komplizierter sehen und mehr Faktoren in Betracht ziehen, als für die Lösung der Probleme notwendig ist. So beeinflußt das komplexe, aus der Realität gewonnene Wissen die Lösung der einfachen, künstlichen Aufgabe“ (Thomae 1987: 27).

Eben genau diese Komplexität ist es jedoch, in der bei vielen Interview-Partnern häufig nicht der höhere, sondern – im Gegenteil – der geringere Realitätsbezug und (oder) die geringe praktische Verwendbarkeit gesehen wird – die zieloffene Reflexion wird zu einer befürchteten ziellosen Reflexion. So äußert Pb 2a deutlich: „Aber es ist auch schon vorgekommen, dass man vor lauter Bäumen (Aspekten) den Wald nicht mehr sieht“, und wird in dieser Ansicht gestützt von Pb 16a: „Die Komplexität des Urteilens führt bisweilen zur Positionslosigkeit, zu einer Art ‚repressiver Toleranz‘“. Offensichtlich, so ist aus den zweiflerischen Stellungnah-men abzulesen, sei eine weitere pragmatische Qualität erforderlich, wenn die Fähigkeit zu komplexem Urteilen einen auf das Handeln orientierten Sinn haben soll: „Die Fähigkeit auch in eine Verhaltens- und Denkänderung umzusetzen, ist allerdings noch ein weitergehender Schritt, der genügend geistige Flexibilität und Selbstbewusstsein voraussetzt“, vermutet Pb 4j.

Dieses „Selbstbewusstsein“, mit dem schließlich eine Entscheidung getroffen werden soll, scheint tatsächlich ein eigenes Problem darzustellen, besonders bei hoch reflektierenden Älte-ren, die versuchen, sämtliche verfügbaren Aspekte in Erwägung zu ziehen: „Ich denke schon auch, dass ich die Komplexität vieler Dinge eher sehe als früher“, überlegt ein 56-Jähriger und gerät ins Grübeln: „Man hat vieles schon einmal erlebt, durchlebt, durchdacht, war vor so ähnliche Situationen schon einmal gestellt oder hat sie bei anderen miterlebt. Aber was nützt das schon: Ich sehe die verschiedenen Aspekte, versuche sie zu ordnen, suche mich darin zu-rechtzufinden, entscheide und handle, und dann stellt sich hinterher heraus, dass es doch bes-ser oder anders hätte sein sollen. Außerdem vergesse ich auch vieles oder viele Aspekte eines Lebensproblems, muss also oft wieder von vorn anfangen, gehe dann vielleicht mit einer um-fassenderen Sichtweise neu daran, weil man auch eine andere, versiertere Umgehensweise mit Problemen erlernt hat. Insofern nützt mir mein ‚Expertentum‘, aber auch nur vielleicht“ (Pb 17a). Ganz offen ersichtlich wird in dieser Aussage, dass mit der Zunahme von Kriterien, von Aspekten der Beurteilung, keine Verdeutlichung oder Klärung einhergeht, sondern eine Zu-nahme, eine Erweiterung eine Ausdifferenzierung der Problematik . Es werden also nicht alte, ehemalige Maßstäbe, Aspekte durch neue, bessere, passendere ersetzt, sondern es kommen weitere zusätzlich zu den vorhandenen hinzu (dies bestätigt sich auch in den Aussagen zur Fähigkeit des schöpferischen Denkens: Der Begriff „Neuanfang“ wird durchgehend abgelehnt und durch „Weiterentwicklung“ ersetzt): Eine „versiertere Umgehensweise“ „nützt“ „nur viel-leicht“ bei der Abwägung, eher aber vergisst man „ viele Aspekte eines Lebensproblems“ (zu berücksichtigen) und „muss also oft von vorne anfangen“. Im verwirrenden Labyrinth von Aspekten mag ein differenzierendes Urteilsvermögen zwar möglich werden, es sogar zur Voraussetzung haben – eine Handlungsfähigkeit jedoch daraus abzuleiten, „halte ich für prob-lematisch“ (Pb 7a).

Ein 76-Jähriger hat aus dieser offensichtlich teilweise als blockierend empfundenen Orientie-rungsnot in der Aspektenvielfalt für sich, selbst–bewusst, die (vom jüngeren Pb 4j als not-wendig vermutete) Konsequenz gezogen: „Älter werdend, neige ich zu zunehmender Zurück-haltung im Urteilen. Wenn eine Beurteilung ansteht, neige ich zu vereinfachter und klärender Darstellung, nicht zur Komplexität. Eigene Erfahrungen sind zwar komplex, aber gerade des-halb klarstellender Ordnung bedürftig“ (Pb 8a).

Zusammenfassung

Bis auf acht Probanden, die eine deutlich ablehnende Haltung gegenüber einer vermuteten Al-tersfähigkeit zu mehrdimensionalem, zieloffenem Reflektieren zeigen, anerkennt die Mehr-zahl (76,5%) der Befragten diese Fähigkeit als vorhanden. Große Zweifel allerdings bestehen, ob eine Verifizierung im Sinne einer Umsetzbarkeit, einer „Machbarkeit“ möglich ist oder ob sie das Handeln nicht gerade erschwert, ja verhindert. Dies wird zum Teil als negativer Effekt angesehen. Damit wird der „Sinn“, der Wert einer solchen Fähigkeit stark in Zweifel gezogen, entwertet. Die Handlungsrelevanz als Bedeutungskriterium anzusetzen, entspricht vollkom-men der philosophischen Richtung des amerikanischen Pragmatismus, wie er als politische Tendenz auch bei uns stark verbreitet ist. Daraus ließe sich – in aller Behutsamkeit – eine Neubewertung des Stellenwertes dieser Fähigkeit folgern. Sie wird von den Betreffenden nicht, oder weniger in ihrer Eigenwertigkeit erlebt und gewürdigt, sondern primär in ihrer ins-trumentellen Funktion im Kontext der Lebenspragmatik beurteilt. Es ginge damit letztlich nicht nur um eine Verwirklichungsmöglichkeit, sondern um eine Instrumentalisierung der Al-ternsfähigkeit des problematisierenden Urteilens: Nur, wenn diese Fähigkeit eine Funktion übernehmen kann bzw. handlungsrelevant ist, wird sie als Fähigkeit definiert. Hierin genau ist ein kultur-, aber auch ein gesellschaftspolitisches Problem zu erkennen:

Nicht mögliche Handlungen sollen Gegenstand der Reflektion sein, sondern die Reflexion findet ihren Sinn in der Handlung. Dies trifft genau das Gegenteil der Zieloffenheit mehrdi-mensionaler Reflexion, die ja mögliche Handlungen problematisiert und hinterfragt .

Damit zeigt diese, von den Teilnehmern fast unbestritten als vorhanden akzeptierte Fähigkeit, eine kulturpolitische Brisanz, die von einem Probanden, Kunsthistoriker und Leiter einer Volkshochschule, punktgenau beschrieben wird: „Allerdings bin ich angesichts unserer ge-sellschaftlichen Entwicklung sehr skeptisch, was die Konjunktur von Lebenserfahrung angeht.

Sie bedeutet ja auch historische Erfahrung, transzendiert damit den augenblicklichen Status und ist eine vorzügliche Voraussetzung dafür: in qualitativen Alternativen zu denken. Dies scheint in einem steigenden Umfang nicht gewollt zu werden, da es die Manipulierbarkeit re-duziert“ (Pb 6a). Dies wäre das Problem und die Gefahr: Praktische Brauchbarkeit unter den jeweils vorgefundenen Anwendungsbedingungen ist dabei, zum dominanten Quali-tätskriterium menschlichen Wissens und Könnens sowie der Altersweisheit zu werden.

Eine Lösung könnte in der weiteren, sich entwickelnden Altersfähigkeit der integrierenden Zusammenschau gefunden werden.

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