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9 Bestimmung der kulturellen Relevanz von Alterspotentialen

9.5 Die Möglichkeit zum „precise cut“

Notwendig zur Beantwortung der „fundamentalen Fragen der Pragmatik des Lebens“ sind Kompetenzen im Bereich des strategischen Wissens, als Hilfe zur Herbeiführung einer eige-nen Entscheidung, als Befähigung zur Ausführung eines „precise cut“. Eben dieses notwendi-ge strategische Wissen stellt den ergänzenden, bisher noch fehlenden Bereich zu den philoso-phisch-reflektierenden Weisheits-(Alters-)Kompetenzen: „Strategisches Wissen stellt als sol-ches ein Repertoire von ‚prozeduralen‘ Denkabläufen (oder Heuristiken) dar, nach denen In-formationen aus der Datenbasis ausgewählt und so geordnet werden, daß sich Entscheidungen treffen und Handlungen planen lassen“ (Baltes/ Smith 1990:111).

Der „precise cut“, der genau gesetzte, im richtigen Moment und an der richtigen Stelle exakt ausgeführte Schnitt, ist ein Begriff aus dem Arbeitsfeld der visuellen Medientechnik: Nach vielen Betrachtungen, Erörterungen, Vergleichen, nach unzähligen Vorläufen und Rückläufen kilometerlanger Film- oder Videoschleifen muss der Cutter – im deutschen nicht umsonst der

„Schneidemeister“, letztlich und endgültig den Schnitt setzen. Die Entscheidung für eine von vielen Möglichkeiten muss getroffen werden, die riesige Restmenge wird ausgeschieden:

„Müll“. Vergegenwärtigt man sich die Menge der winzigen Einzelbilder, aus denen selbst die kürzeste Szene besteht, die sich auch als Standbildvergrößerungen nur in allergeringsten Spu-ren unterscheiden, wird deutlicht, welche Entscheidungskompetenzen gefordert sind, soll der Schnitt präzise, zeitlich und gedanklich genau „sitzen“.

Die Fähigkeit zum entscheidenden „precise cut“ wird in beinahe allen Lebensbereichen, vor allem jedoch in vielen verantwortungsvollen Berufen verlangt – beispielsweise eindrucksvoll und folgenträchtig in der Medizin und in der Rechtsprechung: Durch Abwägung,

Verknüp-fung und Verdichtung aller bekannten Fakten und Faktoren wird die sinnvollste Schnittstelle herausgefunden und der entscheidende Schnitt gezogen. Aus der Erkenntnis, der Bearbeitung und der Interpretation der Realität (vgl. Abschnitt 9.4) muss (meist sogar unter Zeitdruck) ei-ne Entscheidungsfindung resultieren.

Wenn in den vorangegangenen Abschnitten 9.1 – 9.4 von den reflektierenden und kognitiven Weisheitspotentialen als Basis „reifer“ Handlungsmöglichkeiten die Rede war (Fähigkeiten des differenzierenden Urteilens, der integrierenden Zusammenschau, des schöpferischen Den-kens, des wertrelativierenden Denkens), so beruhen die Möglichkeiten zum „precise cut“ eher auf einem pragmatisch bestimmten Bereich der Lebenserfahrung: „Lebenserfahrung besteht nicht nur aus Erkenntnissen über Zusammenhänge und Sachverhalte, sondern darüber hinaus auch aus bestimmten Denkweisen, Strategien und Heuristiken“ (Staudinger/ Dittmann - Kohli 1992: 412). Nach Kants „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ (1798) bestätigen die bei-den Autorinnen diese „zwei Facetten von Lebenserfahrung, nämlich einerseits die Inhalte und andererseits die Mittel oder Strategien zur Verwirklichung dieser Inhalte“ (a.a.O.) das eine als

„Welterkenntnis und Klugheit“, das andere als „pragmatisches Wissen“.

Handlungsorientiert stellt sich die strategische Fähigkeit der Entscheidung, der Ausführung des genauen, richtigen Schnittes jedoch nicht (zwingend) als Ziel und Zweck (wie etwa in der amerikanischen philosophischen Richtung des Pragmatismus) des erkenntnissuchenden Weis-heitsbereiches dar, auch lässt es sich nicht zwangsläufig als sein Produkt definieren. So erwä-gen Baltes/ Smith auch die Möglichkeit, dass eher umgekehrt das Denken über fundamentale Fragen der Lebensdeutung als Kern des Weisheitswissens die pragmatischen Weisheitsberei-che „voraussetzt, ja, sich sogar erst darauf aufbaut“. WahrsWeisheitsberei-cheinlich jedoch und einleuchtend ist, dass man mit diesen, in ihrer Zielbestimmung unterschiedlich gerichteten Kompetenzen zwei sich überlappende Teilmengen der Weisheit unterscheiden kann, der praktischen und der philosophischen, die sich beide ergänzen und gegenseitig konstituieren (vgl. Abschnitt 8.1.3, vgl. Baltes 1989, Staudinger/ Dittmann–Kohli 1992, Dittmann–Kohli/ Baltes 1993, Staudin-ger/ Baltes 1996).

Die Begründung einer Entwicklung von kognitiv orientierten Weisheits-(Alters-) Kompeten-zen des Reflektierens, des Auslotens, der Synoptik und des wertrelativierenden Denkens er-folgte in den vorangehenden Abschnitten.

Zur Begründung einer Entwicklung des handlungsgerichteten Weisheitsproduktes des „preci-se cut“, des „auf den Punkt bringens“ (Staudinger/ Dittmann-Kohli 1992: 412) „preci-sei noch ein-mal an das Beispiel des Kulturphilosophen McEvilley (vgl. 9.4) erinnert: Mit seinen aufgelis-teten „13 Möglichkeiten, eine Amsel anzuschauen“, innerhalb derer sich wiederum eine un-endliche Breite von Deutungen eröffnet, errechnen sich die n-fachen Möglichkeiten von 13, Phänomene der Wirklichkeit individuell und gesellschaftlich zu deuten. Hinzu kämen die vielfältigen subjektiven Bewertungs- und Beurteilungsmöglichkeiten durch den Mensch: Vom absoluten „Null-Wert“, Unwert, bis zum potenzierten „hohepriesterlichen Leitwert“ (vgl. Ab-schnitt 10) spannt sich über eine Breite von überhaupt nur möglichen „Wert-Arten“ eine In-tensität von „Wertskalen“ auf, die so ein enggewebtes Netz von Wertmöglichkeiten ergibt

„Die Menge macht’s“, spottet in der empirischen Befragung ein 50-Jähriger, „aber es ist auch schon vorgekommen, dass man vor lauter Bäumen (Aspekten) den Wald nicht mehr sieht“

(Pb 2a). Die Gefahr des „Verirrens“, der „Desorientierung“ wird hier deutlich angesprochen:

Die Bäume (Aspekte), die sich zwar in der (philosophischen) Einzelbetrachtung unterscheiden wie die Einzelbilder einer Filmszene, bieten dem Unerfahrenen bei einer notwendigen und gewünschten Richtungsfindung keine Anhaltspunkte, verhindern, dass man das Gesamte, den Komplex (Wald) noch erkennt.

Als kurze Zwischenbilanz sei zusammengefasst: Sind mit den Fähigkeiten des wertrelativie-renden, synoptischen und mehrfachdeutenden Denkens wichtige Grundlagen zur subjektiven Deutung und Wertung der sog. Lebenswirklichkeit gegeben, so stellen sie noch keine Voraus-setzung zur Fähigkeit der gleichfalls notwendigen Lebensplanung. Der tagtägliche Zwang zur

Biografisierung in der persönlichen Selbstbestimmung und Richtungsfindung fordert eine zu-sätzliche, auf das Handeln hin orientierte Fähigkeit. Mit der Möglichkeit zum „precise cut“ – nämlich aus der erkennenden differenzierenden, abwägenden Haltung heraus eine Entschei-dung zu treffen – zeigt sich die weitere erforderliche Kompetenz, „Strategien für eine Ent-scheidungsfindung“ zu entwickeln (Baltes/ Smith 1990: 95). Sie stellt die im pragmatischen Bereich notwendige Ergänzung zum philosophisch begründeten, kontemplativen Erkenntnis-bereich dar: Es sollte „die Fähigkeit des Erkennens von funktional äquivalenten Lösungswe-gen ergänzt werden“ (Rosenmayr 1997: 67). Erster Schritt auf dem Weg der Entscheidungs-findung ist der, das unübersichtliche Feld der Realitätsdeutungen zu klären mit dem Ziel einer Reduktion der Komplexität. Das kann geschehen durch Verknüpfen, Verdichten und Konzen-trieren, durch Filtern und Selektieren. Als „Sondieren“ fasst Rosenmayr diese „Klärungsakti-vitäten“ zusammen: „Zu Zwecken der Komplexitätsreduktion muß man sondieren können.

Sondieren bedeutet aber nicht nur Auffinden, sondern auch Ausscheiden von untauglichen Er-klärungen und Handlungsalternativen“ (a.a.O.).

Aufgrund ihrer höheren Lebens- und Biografisierungserfahrung (z.B. in Form eigener und fremder Misserfolgsreflektionen) sind die Fähigkeiten zur Komplexitätsreduktion im Alter vermutlich eher ausgebildet als in der Jugend. Die Aussagen des ältesten Teilnehmers (77 Jahre): „Wenn eine Beurteilung ansteht, neige ich zu vereinfachter und klärender Darstellung, nicht zur Komplexität. Eigene Erfahrungen sind zwar komplex, aber gerade deshalb klarstel-lender Ordnung bedürftig“ (Pb 8a) entsprechen der Feststellung Rosenmayrs „Eine solche Ka-pazität beruht auf Erfahrungswerten, die ältere Menschen unter bestimmten Bedingungen ge-wonnen haben mögen“ (a.a.O.), werden auch bestätigt bei Staudinger/ Dittmann – Kohli: So würde man ... von einer lebenserfahrenen Person erwarten, daß sie komplexe Lebensprobleme vereinfacht darstellen und auf den Punkt bringen kann; oder daß sie weiß, auf welche Aspekte man bei Lebensproblemen besonders zu achten hat und welche eher zu vernachlässigen sind“

(1992: 412).

Beide wissenschaftlichen Aussagen werden durch einen Konjunktiv relativiert, eingeschränkt („gewonnen haben mögen“, „würde man erwarten“). Zwar nicht ausgeführt, dennoch deutlich gemacht wird damit: Die Entwicklung einer Kompetenz zur Komplexitätsreduktion ist ebenso wie die Kompetenzen auf dem philosophisch-kontemplativen Gebiet eine konjunktive Fähig-keit, gebunden an Voraussetzungen wie z.B. Bildungsstruktur (vgl. Abschnitt 4.3). Hinzu kommt m. E. eine weitere Einschränkung, die in der gerontologischen Literatur jedoch nur bei Peck (1968) und hier leider nur in einem Satz und ohne weitere Begründung zu finden ist. Sie wird deshalb hier als These vorgestellt und durch die empirische Befragung (vgl. Abschnitt 8.4.2.2) begründet:

Die unterschiedlichen Kompetenzen im philosophisch-reflektierenden und im pragmatischen Bereich sind abhängig auch von den unterschiedlichen Persönlichkeitsstrukturen der Indivi-duen: Stärken im polyvalenten, komplexen Umgang mit der Wirklichkeitsdeutung und – reflektion entsprechen eher auch der Tendenz zu flexiblen, zieloffenen, aber auch gebroche-nen Biografisierungen (vgl. Abschnitt 8.4.2.2: Gruppe 2); Stärken im pragmatischen, zielgerichteten entscheidungsorientierten Bereich entsprechen eher der Tendenz zu klarer, eindeutig definierter Lebensplanung (vgl. 8.4.2.2: Gruppe 1). Bei gleicher Privilegierung von kulturellen, sozialen und bildungsmäßigen Voraussetzungen können sich dennoch unterschiedliche Stärken und Neigungen in den Bereichen pragmatischer oder kontemplativer Fähigkeiten entwickeln aufgrund individuell unterschiedlicher Strukturen:

„Diese Fähigkeit ist von der emotionalen Stabilität des betreffenden Menschen und seiner konfliktfreien oder konfliktgeladenen Motivationslage ... abhängig“ (Peck 1968: 335). Im Laufe des Alternsprozesses werden sich die vorhandenen unterschiedlichen Anlagen durch

„Selbsterfüllung“ vermutlich verstärken: Durch einen ungehemmteren, offensiveren Zugang auf Entscheidungssituationen und eine höhere Akzeptanz des Umgangs mit ihnen steigt und festigt sich die Fähigkeit zum „precise cut“ eher bei Personen der „Gruppe 1“ als bei Personen

der „Gruppe 2“, die aufgrund ihrer Stärken und Neigungen auf dem Gebiet der kontemplati-ven Fähigkeiten eher geneigt sind, den pragmatischen Entscheidungszwängen auszuweichen, und so hier geringeren Erfahrungszuwachs und geringere Bestätigung zu verzeichnen haben.

Notwendig sind Fähigkeiten auf beiden Gebieten – eine Vorrang- oder Minderrangstellung dürfte es nicht geben; ausgeprägt werden sie vermutlich eher der stärkeren Vorgaben entspre-chend. Die Bedeutung der Fähigkeit zum „precise cut“ wird sehr eindrucksvoll von einem äl-teren Probanden formuliert, der mit dieser Fähigkeit zu kämpfen hat – bei sich und bei ande-ren. Engagiert und heftig, doch voll Respekt schreibt er: „Ich hasse Leute, für die alles klar ist. Und ich liebe sie manchmal. Weil wir ohne Leute, die Position beziehen (auch wenn sie dabei manchmal im Unrecht sind) nicht weiter kommen“ (Pb 16a).

Wenn eine individuelle und wenn eine gesellschaftliche Gestaltung und Planung möglich sein soll, muss auf die reflektierende Fähigkeit ebenso zurückgegriffen werden wie auf die Fähigkeit zur Komplexitätsreduktion – es müssen „precise cuts“ gesetzt werden können. Ob diese „precise cuts“ gut oder schlecht, richtig oder falsch sind, ist zunächst nicht unbedingt die Frage, in beiden Fällen beweisen sie eine kultureller Relevanz allein dadurch, dass sie „entscheidend“ die Wirklichkeit beeinflussen, sie gestalten. Dass es da-bei vor allem die Älteren sind, die eine solche Kompetenz entwickelt haben könnten, erwartet ein junger Student: „Aufgrund der gemachten Lebenserfahrung wissen ältere Menschen si-cherlich wesentlich besser und gezielter zu selektieren, um die ... richtigen Entscheidungen zu treffen“ (Pb 13j).

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