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9 Bestimmung der kulturellen Relevanz von Alterspotentialen

10.3 Plurale und spezifische Alterskulturen: Versuch einer begrifflichen und

10.3.2 Plurale und spezifische Alterskulturen – eine empirische Abgrenzung

10.3.2.3 Zusammenfassung: Abgrenzende Kriterien pluraler und spezifischer

Aufgrund der tendenziell unterschiedlich sich darstellenden kulturellen Haltungen verdeutli-chen Proband 7a und Probandin 5a eine zwar nicht gegensätzliche oder gar widersprüchliche, doch eine andere, eine unterschiedliche kulturelle Entwicklung im Alter. Proband 7a wurde als ein mögliches Beispiel ausgewählt, über das sich die Entwicklung pluralen (vielfältiger) Kulturen im Alter aufgrund von gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen

veranschauli-chen lässt. Probandin 5a wurde als ein mögliches Beispiel ausgewählt, über das die Entwick-lung spezifischer Alterskulturen aufgrund von Weisheitspotentialen veranschaulicht werden könnte.

Unerlaubt, ja ein Widerspruch in sich wäre es, einen singulären „Fall“ als verallgemei-nerbares Beispiel für plurales Altern anzuführen, entsprechend widersinnig wäre die beispielhafte Anführung eines singulären „Falles“ für spezifische Alterskulturen. So-wohl die pluralen als auch die spezifischen Alterskulturen sind kennzeichnend dafür, dass es „keine Bevölkerungsgruppe (gibt), die soviel Heterogenität, also soviel Verschie-denheiten zeigt, wie das Alter“ (Rosenmayr 2000: 449). Es kann sich bei einer Deutung der beiden unterschiedlich strukturierten und begründeten kulturellen Einstellungen und Haltungen der Probanden 5a und 7a also nur um eine exemplarische und empirisch belegte und als solche pointierte Gegenüberstellung handeln, um die unterschiedlichen Qualitäten pluraler und spezifischer Alterskulturen zu verdeutlichen.

In Bezug auf kulturelle Interessen oder Äußerungen wäre es zudem nicht möglich, diese iso-liert jeweils der einen oder anderen Möglichkeit von Alterkulturen zuzuordnen, weil einzelne Zeichen für sich allein noch keine eindeutige oder ausschließliche Zuordnung zulassen. So ist z.B. die Reiselust weder ein Zeichen nur für plurale Alterskultur, noch für spezifische Alters-kultur, noch für Alterskultur überhaupt. Erst im Kontext mit weiteren oder darüber mitgeteil-ten Einstellungen ergeben sich Hinweise, nur in der Beziehung und schließlich als zusammen-gesetztes Bild mit allen weiteren geäußerten Zeichen ergibt sich ein tendenzielles Gesamtbild:

„Einstellungssyndrom“ nennt Kolland das Konglomerat individueller Signale von Haltungen.

Bei Probandin 5a und Proband 7a zeigen diese gebündelten „Einstellungssyndrome“ einmal als Einzelbeispiele ein jeweils abgerundetes, schlüssiges Bild, zum anderen lassen sich in der Gegenüberstellung die tendenziell unterschiedlichen Schwerpunkte erkennen. Dies wird im Folgenden ausgeführt und begründet. Sicherlich nicht letztlich eindeutig und mit großen Un-schärfenbereichen, vor allem nur in aller geforderten Behutsamkeit können und sollen so, in dieser Gegenüberstellung, die unterschiedlichen Qualitäten pluraler (vielfältiger) und spe-zifischer (besonderer) Alterskulturen verdeutlicht werden:

Beide Probanden entstammen dem gehobenen Bildungsbürgertum, beide weisen Hochschul-abschlüsse vor, arbeiten in akademischen Berufen, sind finanziell gutsituiert, familienerfah-ren, politisch liberal orientiert und können auf kohortenspezifisch ähnliche soziale Erfahrun-gen zurückblicken. Sie waren in der empirischen Auswertung beide der Gruppe 2 zugeordnet worden, da sie sich gleichermaßen durch eine hohe Differenzierungsfähigkeit und Reflexivität auswiesen. Auf diese Ähnlichkeiten soll noch einmal ausdrücklich hingewiesen werden, da beide Probanden somit vergleichbare sozio-strukturelle Voraussetzungen mitbringen, die zur Entwicklung von Alterskulturen vorausgesetzt worden waren (vgl. dazu Abschnitte 4.3 und 8.3.1). Bei diesen vergleichbar ähnlichen Voraussetzungen entwickelten sich dennoch grund-sätzlich unterscheidbare kulturellen Haltungen, Einstellungen und Äußerungen:

Dies wird zunächst deutlich an einem unterschiedlichen Kulturverständnis. Während sich Pro-band 7a als „Vertreter“ der pluralen Alterskultur bereits durch einen erweiterten Kulturbegriff auszeichnet – neben den Kunstbereichen Theater, Literatur, Musik zählt er durchaus auch das Reisen und den Kinobesuch zu den kulturellen Tätigkeiten – ist der Kulturbegriff von Proban-din 5a, der „Vertreterin“ der spezifischen Alterskulturen, über das Kunstkulturverständnis hi-naus weitest umfassend, ja allumfassend: Neben sozialen (Familien-) und biologischen (Kör-per-) Kultur zählt ganz allgemein dazu auch die Kommunikations- und Gesellschaftskultur.

Der grundsätzliche und letztlich bestimmende Unterschied zwischen den Darstellungen einer pluralen und einer spezifischen Alterskultur liegt aber in den unterschiedlich orientierten Zu-gängen und Annahmen kultureller Lebensstile. Beiden sind Momente selbstbestimmter

Indi-vidualisierung und Biografisierung über kulturelle Symbole nicht abzusprechen. Doch scheint die kulturelle Stilisierung bei Proband 7a als Vertreter der pluralen Alterskulturen eher objekt-motiviert zu sein, bei Probandin 5a als Vertreterin der spezifischen Alterskulturen eher sub-jektorientiert:

Die Beschreibung der sich einschränkenden Optionsmöglichkeiten bei Proband 7a entspricht dem von P.B. Baltes entwickelten psychologischen Modell erfolgreichen Alters („Die mit dem Alter einhergehenden Veränderungen werden dadurch aufgehalten und transformiert, dass Prozesse der Selektion und Kompensation weiterhin eine Optimierung in bestimmten Le-bensbereichen ermöglichen“ [1989: 58

]

) beispielhaft tendenziell: „Nur noch meinem Alter und meinen Vorlieben gemäß“ (Selektion), „Frauen: hier ist das Alter auf der einen Seite na-türlich völlig destruktiv, auf der anderen Seite spielt die Lebenserfahrung eine riesige Rolle, weil man gelernt hat, viel besser mit Menschen umzugehen“ (Kompensation), “Rawalpindi, Nanga Parbat reizt zur Wiederholung oder ähnlichem“ (Optimierung). Das heißt: Die Opti-onsmöglichkeiten werden im Alter geringer (z.B. durch abnehmende Anziehungskraft auf Frauen), man muss sich bescheiden, einschränken (nur noch dem Alter und Vorlieben gemä-ßes) und schließlich das noch Wählbare wiederholen und steigern (Reisen). Der kulturelle Selbstbestimmungsprozess ist also eher abhängig von den objektiven Wahlmöglichkeiten;

der individuelle kulturelle Stilisierungsakt ist damit eher objektmotiviert, von den wahrge-nommenen „Möglichkeiten“ bzw. Gelegenheiten bestimmt, die die (Um-) Welt „noch“ be-reithält. Durch die Tendenz zur Retrospektive – es wird mit bisher oder früher größeren Wahlmöglichkeiten verglichen (nur darüber kann selektiert, kompensiert und optimiert wer-den) – gerät die Biografisierung in die Gefahr der Stagnation. Es fehlen alternative und per-spektive Momente: „Das Alter ist Murks – was soll man daran beschönigen?“

Anders beschreibt Probandin 5a die eigenen kulturellen Stilisierungsprozesse: „Wider alles Gelernte, Überlieferte und Modische“ erlaubt sie sich ihr „subjektives Urteil“, spricht von ih-rer „ureigensten Binnenkultur“. Nicht auf Optionsmöglichkeiten aus Vorgegebenem beruht der Akt ihrer Selbstbestimmung, sondern die ständige Suche nach neuen Möglichkeiten, ande-ren Aktivitäten, Alternativen zu Vorgegebenem strukturiert ihre Biografisierung. „Absturz“

und „Langeweile“ wie Proband 7a kennt sie nicht: Selbst in vordergründig „Gleichem“ er-kennt sie Differenzierungen und interessante Abweichungen: „Repetitive Computergrafik“

sind „Bildlitaneien“, sind Ausgangspunkt zum „Experimentieren“. Objektive kulturelle Ange-bote sind nicht „Determinanten“ der Stilisierung, sondern sind Mittel, sie werden benutzt als Objekte des „Bastelns“, auch an der Biografie, sind sinnvoll nur dann, wenn man, wie sie sagt, „etwas mehr daraus zu machen versteht“. Sind sie nicht (mehr) geeignet, werden Alter-nativen gewählt oder entwickelt. Die Biografisierung verläuft weitgehend unabhängig von vorgegebenen, an objektive Angebote gebundene Optionsmöglichkeiten. Aufgrund hoch ent-wickelter Alterskompetenzen ist Probandin 5a in der Lage, unabhängig, subjektiv „die Band-breite der sogenannten Wirklichkeit“ zu bestimmen. Im Gegensatz zu Proband 5a weist ihre Biografisierung die Tendenz zur Prospektive auf: Nicht-mehr-Mögliches wird einfach ad acta gelegt, kreative eigene kulturelle Optionen geschaffen, und zwar solange die „Hirnschale noch Inhalt hat und funktioniert“.

Die objektorientiert motivationale Steuerung kultureller Aktivitäten bezeichnet Rosenmayr als

„soziologisch eingebunden“ und gewinnt ihr den positiven Aspekt der „Perseverationshilfe“

ab, „damit die Menschen bei einem einmal begonnenen Vorhaben bleiben“ (Rosenmayr 2000:

454). Die Gefahr im Alter jedoch besteht gerade im negativen Aspekt der Perseveration: im Beharren und Hängenbleiben, wenn ehedem plurale Optionsmöglichkeiten erschöpft erschei-nen. Der positive Perseverationsaspekt einer außenorientierten Motivation schlägt dann ins Gegenteil um, verhindert geradezu einen Wechsel kultureller Interessen(sgebiete), verhindert

eine „kreative Neuentwicklung“ (im Extrem gilt dies dann etwa für alte Menschen, die sich beispielsweise wie in Abschnitt 10.1.2 geschildert, auf einer Technoparty gebärden wie Ju-gendliche, was zwar in ihren Optionsmöglichkeiten liegt, aber ein deutliches Zeichen ist für eine Perseveration an altem, nicht weiter oder neu entwickeltem Optionsverhalten).

Eine subjektorientiert motivationale Steuerung kultureller Aktivitäten dagegen bezeichnet Ro-senmayr als „Motivation ohne soziale Anerkennung“ und hält sie für eher selten, sie „kann sich nur in Ausnahmefällen auf längere Zeit erhalten“. Diese Ausnahmefälle scheinen die selbstbestimmten Aktivitäten im Rahmen der spezifischen Alterskulturen aufgrund entwickel-ter Alentwickel-terskompetenzen darzustellen: „Und immer wieder zu merken, ach ja, ich kann ja was, war und ist auch schön motivierend“, schreibt Probandin 5a sehr deutlich im Interview. Dies entspricht einer These der Entwicklungspsychologie, die im Alter die „Möglichkeit zu persön-lichen Weiterentwicklung“ sieht, „weil sozial anerkannte ... Tätigkeiten ... irrelevanter werden ...; in dieser Situation ergibt sich die Chance, Tätigkeiten um ihrer selbst willen auszuführen, sich in Beschäftigungen zu engagieren, die als intrinsich belohnend erlebt werden“ (Falter-maier 1992:172). Bestätigend ergänzt die Probandin in einer späteren elektronischen Nach-schrift: „Kultur und Kulturengagement ... hat, je älter man wird, immer weniger Öffentlich-keitswert“. Diese sehr eindeutig subjektorientierte Steuerung bedeutet aber nicht zugleich auch objektunabhängig, also: von Außenreizen unabhängig, denn eine Unabhängigkeit von einer „soziologischen Einbindung“ gibt es auch in der altersspezifischen kulturellen Biografi-sierung nicht. Die Wechselwirkung individueller und gesellschaftlicher Faktoren bei der Ge-staltung von Alterskulturen wurde bereits dargestellt.

Über die unterschiedlich gewichtete „soziologische Einbindung“ der Motivationen bei der Entwicklung und Differenzierung kultureller Haltungen können jedoch die tendenziell unter-schiedlichen Bedingungen der Entwicklung pluraler und spezifischer Alterskulturen verdeut-licht werden:

Plurale Alterskulturen sind, wie plurale Kulturstile jeder Altersgruppe überhaupt, eher ein Ergebnis der gesellschaftlichen Modernisierung mit ihren vielfältigen Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten und -zwängen. Die pluralen Alterskulturen setzen notwen-dig die Bedingungen der Moderne, d.h. die Chancen und Zwänge der Individualisierung und Biografisierung voraus. Die pluralen Alterskulturen setzen unter dem Anspruch des Hochkulturschemas ein hohes Bildungsniveau und ökonomische Stabilität (vgl. Kolland), aber nicht unbedingt Weisheitsqualitäten als Alterskompetenzen voraus.

Die Entwicklung von spezifischen Alterskulturen hingegen setzen Weisheitsqualitäten als Alterskompetenzen voraus, es sind gerade die Weisheitsqualitäten, die zu spezifi-schen kulturellen Haltungen und Äußerungen führen. Spezifische Alterskulturen setzen ein hohes Bildungsniveau, nicht notwendig aber die Bedingungen der Moderne voraus – sie konnten unter günstigen Alternsbedingungen (soziale, finanzielle, geistige Machtpotentiale und deren Anerkennung durch die Gesellschaft) beispielsweise auch in der Barockzeit und der Antike entwickelt werden (vgl. Abschnitt 5.4).

10.4 Die Darstellung spezifischer Alterskulturen: Entwicklung des kulturellen

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