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Das Recht der Gesellschaft auf Teilhabe an spezifischen Alterskulturen

9 Bestimmung der kulturellen Relevanz von Alterspotentialen

11.1 Das Recht der Gesellschaft auf Teilhabe an spezifischen Alterskulturen

Kommunika-tionsprozess der Kulturen lautet ihre Aufgabe – auch bezogen auf unbequeme Zeitgenossen.

Was die Gesellschaft zusammenhält, das kann in modernen Gesellschaften nicht der Kanon von „fraglosem Besitz“ oder allgemein geteilten Werten sein, sondern die Bereitschaft, sich in Anerkennung des anderen auf den Diskurs einzulassen“ (Kramer 1995: 43).

Die Forderung der Einbringung spezifischer Alterskompetenzen in eine kulturelle Zu-kunftsplanung ist eine kulturpolitische Forderung, ist ein „Politikum ersten Ranges, ist integraler Bestandteil einer gesellschaftlichen Entwicklung, in der ‚die Individuen in die Ge-sellschaft zurückkehren‘, so wie Ulrich Beck... dies als ‚Subpolitik‘ beschreibt“ (Fuchs 1998:

203).

Spezifische Alterskulturen können und müssen ihren bislang noch unentdeckten, unerkannten, neuen Beitrag leisten, wenngleich die konkreten Dimensionen der immer noch nicht allzu be-kannten, wenig im öffentlichen Bewusstsein verankerten spezifischen Alterskompetenzen weitgehend rätselhaft erscheinen. Sie werden immer noch eher in diffusen Annahmen und Fragen, als in konkreten Forderungen und Erwartungen formuliert. So wird in der Expertise, die im Auftrag des Bundesministeriums für Familie und Soziales erstellt wurde, gefragt:

„Obwohl – oder weil – die eigene verbliebene Lebenszeit beschränkt ist, können vielleicht die Alten eher einen historischen Blick entwickeln und 20 Jahre weiterdenken, wie sich die Zu-kunft des Planeten durch menschliche Praxis gestalten wird – und wie sich diese Entwicklung beeinflussen läßt... Wo sind Seniorenverbände, oder alternde Mitglieder von Parteien und Gewerkschaften, die ein solches Diskursangebot unterbreiten?“ (Schmitz-Scherzer et al. 1993:

104).

Die amerikanische Soziologin Friedan vermutet („spürt“) noch ungeahnte, geheimnisvolle Of-fenbarungen im Alter und spekuliert: „Daß unsere Gesellschaft in dieser kritischen Phase un-bedingt von den Stärken des Alters Gebrauch machen sollte, liegt nicht so offenkundig auf der Hand. Die Puzzleteile sind noch nicht zu einem vollständigen Bild zusammengefügt, aber ich spüre deutlich, daß sie eines ergeben ... an den individuellen Abweichungen von den Erwar-tungen kann man erkennen, wie wichtig es ist, daß sich Menschen im dritten Lebensalter auf neue Art in die Gemeinschaft einbringen und gegenwärtig unlösbare Verkrustungen und Di-lemmata überwinden“ (Friedan 1997: 825).

Wie diese in der Literatur bislang nur dunkel als kulturell relevant vermuteten Kompetenzen als gesellschaftlicher Beitrag realisierbar sind, ob und welches Interesse in der Gesellschaft dafür vorhanden ist, das soll im Folgenden erarbeitet werden.

11.1 Das Recht der Gesellschaft auf Teilhabe an spezifischen Alterskulturen

Das Recht auf Teilhabe der Gesellschaft an spezifischen Alterskulturen ist eine relativ neue und ungewöhnliche Forderung: Fand man bisher doch kaum Hinweise in der Lite-ratur weder auf die Existenz einer altersspezifischen Kultur, geschweige denn auf ein Interesse der Gesellschaft an ihr. Im Gegenteil: Die gesellschaftspolitische und auch kul-turpolitische Forderung lautete gerade umgekehrt – nämlich als ein Plädoyer auf das Recht „des Alters“, an „der Kultur“ teilzuhaben.

Auf Antrag der Kulturpolitischen Gesellschaft (vgl. Schwencke 2000: 4) wurde dieses Recht im Jahre 2000 sogar in die Charta der Grundrechte der Europäischen Union aufgenommen (vorläufige Veröffentlichung unter Fundamental.rights@consilium.eu.int) und unter dem Titel

„Rechte älterer Menschen“ zu einem eigenen Artikel ausgebaut (Artikel 25): „Die Union an-erkennt und achtet das Recht älterer Menschen auf ein würdiges und unabhängiges Leben und auf Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben“. Auch in den Richtlinien des Bundesalten-planes der Bundesregierung Deutschland wird unter Abschnitt 2.3(2) als Ziel festgeschrieben,

es „soll den älteren Menschen die Teilhabe am kulturellen Leben der Gesellschaft ermöglicht werden“ (BMFSFJ 1992: 15). Sowohl die Europäische Union als auch die deutsche Regierung gehen davon aus, dass „die älteren Menschen“ ihr Recht auf Teilhabe/ Teilnahme an der Kul-tur nicht wahrnehmen können und ihnen dazu verholfen werden muss.

Naegele formuliert dies als „Aufforderung, ... Perspektiven ... zu entwickeln, z.B. im Rahmen einer ... Teilhabe am sozialen, kulturellen und politischen Leben“ (1992: 139). Soziale und politische Aufforderungen wie diese sind programmatische Erklärungen, die auf eine gewisse Unfähigkeit der Älteren hindeuten, ihr „Recht auf kulturelle Teilhabe“ selbst wahrzunehmen oder durchzusetzen. Das scheint den fürsorglichen Einsatz engagierter Gruppen im Namen der Älteren zu erfordern. Dies entspricht tatsächlich einer Tendenz, die über eine Recherche mittels elektronischer Suchmaschinen bestätigt wird: Aufgefordert, Hinweise zum Begriff der

„kulturellen Teilhabe“ zu suchen, lassen sich die über sechzig angebotenen Ergebnisse in fünf Gruppen einteilen: Das Recht auf kulturelle Teilhabe in Verbindung gebracht mit der schaftsgruppe der Frauen (ausdrücklich und u.a. im Programm der Kulturpolitischen Gesell-schaft und der CDU), der Seh-, Hör- und Geistigbehinderten (u.a. von der Lebenshilfe e.V., Arbeitskreis Antidiskriminierung), der Kinder und Jugendlichen (u.a. Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung e.V.), der Immigranten und ausländischen Mitbürger (u.a. Rheini-sches Journalistenbüro Köln) und für Alte (s.o.). Es sind dies fünf soziale Gruppen, die als randständig und/ oder benachteiligt gelten, und häufig (noch) so bezeichnet werden, Gruppen, für die man sich sozial, politisch und kulturell einsetzt, weil bei ihnen ein Selbstbestim-mungsvermögen nicht restlos angenommen wird.

Entgegen dieser Annahme, jedoch unter der gleichen Voraussetzung einer vermuteten (noch) nicht wahrgenommenen kulturellen Teilhabe, prognostiziert die Landesregierung Baden-Württemberg immerhin ein zunehmendes Anspruchsdenken der Älteren für die Zukunft:

„Diese ‚aktiven Senioren‘ werden mehr und mehr ... kulturelle Wirkungsmöglichkeiten bean-spruchen“ (Späth 1990: 6) und auch Hummel spricht hinsichtlich einer notwendigen neuen Seniorenpolitik von einem „Willen“ im Sinne einer Forderung der Älteren: „Die heutige Ge-neration von Ruheständlern will ... an der Gesellschaft ohne altersspezifische Ausgrenzung teilhaben“ (Hummel 1992: 69).

Unabhängig jedoch, ob das Recht der Alten auf eine kulturelle Teilhabe selbstbestimmt wahr-genommen oder fürsorglich erkämpft wird, so beruhen beide Ansätze gleichermaßen paradig-matisch auf einem diskussionswürdigen Kulturverständnis, das sich in den Begriffen der Teil-Habe, der Teil-Nahme oder auch in dem der „Kulturellen Partizipation“ (Hoffmann) wider-spiegelt und verrät: Mit dem „Recht auf Teil-Habe an Kultur“ wird vertreten das Recht auf ei-nen Anteil an etwas Vorhandenem, das ohne das eigene Zutun, als solches (bereits) in irgend-einer „habhaften“ Form existieren muss. Man kämpft also - selbst oder stellvertretend - für einen Anteil an einer Sache, die so als eine „natürlich“ vorhandene dargestellt wird, als etwas faktisch Gegebenes. Es müsste sich, da man einen Anteil „haben“, „nehmen“, „verlangen“

kann, um etwas Objekthaftes handeln, das, etwa im empirischen Sinne, über Sinneseindrücke wahrnehmbar und über sie beschreibbar wäre. Nur in einem solchen Verständnis wären die Aussagen über eine Teil-Habe an Kultur verständlich: Etwa einem Kuchen vergleichbar (ein ähnliches Bild findet sich bei Kolland u.a. 1981: 96, vgl. Abschnitt 10.2) wäre „Kultur an sich“ als „wirklich“ greifbar und vorhanden. Für bestimmte, daran besitzlose Gruppen der Ge-sellschaft würde dann verständlicherweise das Recht eingefordert, auch einen Teil davon „ab“

zu haben, an ihm zu partizipieren. Recht auf Teil-Habe an der Kultur (Recht auf kulturelle Partizipation) – das könnte, wenn denn unter „Kultur“ eine beschreibbare greifbare „Wirk-lichkeit“ verstanden würde, sich nur beziehen auf „Äußerungen“ der Kultur, auf visuell, taktil, akustisch Wahrnehmbares – auf den Kunstbereich also, den Präsentations- und den Veranstal-tungsbereich der Kultur. Es wäre dann Kultur im eingeschränkten Verständnis der Kunst (-produktion, -rezeption) zu verstehen, an dem verschiedene, offenbar in dieser Hinsicht nicht privilegierte Gruppen (für deren demokratische Rechte man sich einsetzt) noch nicht Teil

ha-ben, noch keinen Anteil haha-ben, noch nicht partizipieren (können). Dies kann, so einge-schränkt, gültig sein. Dann wäre es auch gesellschaftlich unbedingt richtig, dass man sich für eine höhere Partizipationsfähigkeit derer eingesetzt, denen aufgrund mangelnder oder einge-schränkter Voraussetzungen (z.B. Bildung, Finanzen, Sprache) die Partizipationsmöglichkei-ten fehlen. Am Kultur- oder Kunst-„Kuchen“ gehört ihnen (noch) nichts, sie sind nur danebenstehende (para-sitäre) Teilhabe-Forderer. Die Frage, die sich jedoch bei einem sol-chen (eingeschränkten, gegenständlisol-chen) Verständnis von Kultur aufdrängt, wäre in der Fol-ge, wem denn eigentlich der Kulturkuchen gehöre, wer der Besitzer sei, der einen Teil ab-zu-geben hätte? Zieht man die oben genannten gesellschaftlichen Gruppen ab (Frauen, Kinder und Jugendliche, Behinderte, Immigranten, Alte), die ihr Recht auf einen Anteil ja einklagen bzw. einklagen lassen, dann bliebe gerade einmal die vergleichsweise kleine Gruppe von männlichen deutschen Erwerbstätigen übrig. Diese (unsinnige) Frage braucht jedoch weder gestellt noch beantwortet zu werden, denn mit der „Klage“ auf das Recht benachteiligter Gruppen an kultureller Teil-Habe ist paradigmatisch ein Kulturverständnis verbunden, das es so nicht mehr geben kann:

Kultur kann nicht verengt werden auf seine Äußerungen, seine “Symbole“ (Göschel).

Kultur ist weiter und umfassender als ihr Element Kunst. Kultur kann nicht beschränkt werden auf ihre sinnlich wahrnehmbaren Indikatoren (s. dazu Abschnitt 3.3 und 10).

Kultur ist kein (habhafter) Kuchen.

Kultur ist nicht „an sich existenziell“, sondern existiert nur subjektiv bedingt. Kultur ist ein Prozessbegriff, entsteht in gesellschaftlichen und individuellen, also menschlichen Aktionen. Das sind nicht (allein) „Aktivitäten“ im produzierenden Sinne, wie dies etwa beim Künstler der Fall ist, sondern auch in kontemplativen, in strukturierenden, sinn-gebenden Denk-Akten. Kultur ist so zugleich Voraussetzung und Ergebnis gesellschaft-lichen und individuellen geistigen und körpergesellschaft-lichen Handelns.

Ein solches sehr weites und umfassendes Kulturverständnis wird gelegentlich (wieder) als

„inflationärer Gebrauch des Kulturbegriffes“ (Liessmann) und als „Resignationsbegriff“ (Ma-cho) bezeichnet, um auf dieser Kritikbasis (wieder) Sinn- und Funktionszuschreibungen von Kultur zu begründen. Doch wirken diese Bestrebungen in einer Moderne (vgl. dazu Abschnitt 10.2) wie letzte verzweifelte Restaurationsbestrebungen erhoffter Allgemeingültigkeit und Wertvermittlung der einst „wahren Kultur“. So sehr auch die Sehnsucht nach dem „Wahren“

und nach „Gültigem“ bleiben mag (vgl. Abschnitt 8) – so ist, wie auch Pb 9a bereits vermute-te, „der Kampf ist schon längst verloren“. In den neueren Forschungen der Kulturwissen-schaften wird bestätigt:

„Kultur wird von den Vertretern der Cultural Studies in detailreichen und erfahrungsgesättig-ten Untersuchungen als das Medium analysiert, in dem zum einem Macht und soziale Unge-rechtigkeit repräsentiert werden“ (was, auch aus dieser Sicht, den demokratischen Einsatz um kulturelle Teilhabe der Nicht-Privilegierten erklären und begründen mag, ihn, auch aus dieser Sicht, verständlich macht), „zum anderen sich die verschiedenen sozialen Gruppierungen aus-drücken und versuchen, ihre Unterschiede durch Abgrenzungsprozesse hervorzuheben und zu behaupten. Auf diese Weise wird Kultur als ein polyphoner, stets umstrittener und komplexer Prozeß der Konstruktion von soziokulturellen Bedeutungen und Identitäten sichtbar“ (Hörnig/

Winter 1999: 10). Äußerungen und Symbole von Kultur (Kunst) sind dabei eingeschlossen als integraler Bestandteil im „Kampf um Bedeutungen“: „Kultur ist für die Cultural Studies we-der eine Institution, ein Kunstwerk, ein Text, eine Fähigkeit owe-der eine soziale Praxis, vielmehr machen erst die komplexen, vielförmigen und facettenreichen Interaktionen zwischen diesen Instanzen in einem spezifischen Kontext Kultur aus“ (a.a.O. S. 9).

Dieses umfassende und auch offene Verständnis von Kultur in der neuen kultursoziologischen Forschung (Cultural Studies), das u.a. von Liessmann und Macho kritisiert wird (s.o.), erhält Unterstützung und Begründung aus der Kulturphilosophie: „Die häufig beobachtete und be-klagte Unschärfe des Kulturbegriffes ist diesem unveräußerlich“ bündelt Konersmann einen

ausführlichen Aufsatz und vergleicht Kultur mit Metaphern: „Metaphern erregen Deutungsak-tivitäten, anders funktionieren sie nicht ... In der Kulturwelt kommen facta bruta nicht vor“

(Konersmann 1998: 327, 354. Hervorhebung durch Autor). Dadurch enthält Kultur „alle Chancen der hermeneutischen Bewegungsfreiheit und Blickpunktvermehrung“ (a.a.O.).

Genau diese Blickpunktvermehrung ist es, die den wesentlichen Aspekt aller Kulturen, aller kulturellen Zugangswege zu gesellschaftlicher Gestaltungs- und Entwicklungsmög-lichkeit darstellt. In ihr liegt die Bedeutung, der Einfluss der jeweiligen Interpretations-kompetenzen von Individuen und Gruppen, die die Gesellschaft konstituieren. Allein hieraus ist letztlich ein „Rechtsanspruch“ auch vertretbar: Alle, die an der kulturellen Konstituierung der Gesellschaft in einer - wie auch immer gestalteten - Aktivität (vgl.

dazu Abschnitt 11.3) beteiligt sind, tragen in einem kommunikativen, einem diskursiven Prozess zur Blickpunktvermehrung bei – vornehmlich dann, wenn sie, wie die Alten, spezifische (besondere), weil vorwiegend ihnen vorbehaltene, kulturrelevante Kompe-tenzen aufweisen können. Es bestünde damit ein in der Potentialität begründeter

„Rechtsanspruch“, der in der Konstitution der Gesellschaft eine Bestätigung, eine Be-glaubigung erfährt: Wo Möglichkeiten zur Blickpunktvermehrung potentiell liegen, müssen diese sowohl angeboten wie abgefordert werden – sonst bliebe es bei einer nur reinen, nicht realisierten Möglichkeit. Ohne die Realisierung einer Blickpunktvermeh-rung aber befände sich die gesellschaftliche Konstitution in einem Zustand der Stagna-tion, wäre erstarrt in der Unbeweglichkeit der Konsolidierung.

Während die Notwendigkeit der alterskulturellen Mitgestaltung an einer zukunftsorientierten Gesellschaftskonstitution politisch auf breiter Basis betont wird, wird doch das „Recht“ und der „Rechtsanspruch“ der Gesellschaft darauf sehr unterschiedlich begründet:

„Ältere Menschen haben Erfahrungen und Fähigkeiten erworben, die ... für die Gesellschaft nutzbar“ gemacht werden können, erkennt das Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Dies wird nicht mehr, wie noch Jahre zuvor und oben beschrieben, als reines Entge-genkommen an die scheinbar benachteiligten Älteren (als deren Recht auf „gesellschaftliche Teilhabe“) angesehen, sondern auch als eine gesamtgesellschaftliche Notwendigkeit erkannt.

„Dies dient nicht nur den älteren Menschen ..., sondern vor allem der gesamten Gesellschaft.

Wir können es uns nicht leisten, auf die vielfältigen Erfahrungen der Älteren zu verzichten“

(BMFSFJ 197: V). In den Wirtschaftsunternehmen erkennt man inzwischen als Problem die Entscheidungen der letzten Jahre für „eine Personalpolitik der Ausgliederung älterer Arbeits-kräfte, durch die den Unternehmen Know-how und Erfahrungswissen unwiederbringlich ver-loren geht“ und propagiert in Veröffentlichungen wie dem „Zukunftsreport demografischer Wandel – Innovationsfähigkeit in einer alternden Gesellschaft“ Formen moderner personalpo-litischer Strategien für eine „breite Nutzung des in Unternehmen vorhandenen Arbeitsvermö-gens und die Ausschöpfung bislang verschlossener Leistungs- und Kapazitätsreserven“ der Älteren (Wagner 2000: 5).

Es werden die spezifischen Alterskompetenzen inzwischen unter verschiedenen politischen Aspekten nicht nur als ein interessanter, ja unverzichtbarer gesellschaftlicher Diskussionsbei-trag gesehen, als ein Potential, für das das gesellschaftliche Recht auf Teilhabe angemeldet wird. Sie haben ganz offenbar auch bereits profitliche Vorstellungen geweckt:

In wirtschaftspolitischer Hinsicht erkennt beispielsweise das Institut für Entwicklungsplanung und Strukturforschung „ein wachsendes Humankapital“, auf das „die Aufmerksamkeit der Gesellschaft“ gerichtet werden sollte (IES 1996: 28), und vermutet zugleich auch im bil-dungspolitischen Bereich „Potentiale für Bildung und Beratung (Wissenstransfer) sowie For-schung und Entwicklung in der älteren Generation", die man „aufsuchen und für die Allge-meinheit ... erhalten ... soll“ (a.a.O. S.5). Auch aus kommunalpolitischer Sicht könne man das

„soziale Kapital“ der Alterskultur für die Kommune nützen durch eine „bewusste Pflege von

Alterskompetenzen“ (Zemann 2000: 16). Und die Parteipolitik erkennt einen programmatisch interessanten Aspekt in der „Altersweisheit – ein politischer Aktivposten“ (Blüm 1991: 35).

Letztlich und übergreifend gesamtgesellschaftspolitisch können unter soziologischem Ge-sichtpunkt die Alterspotentiale durchaus als „Ressource kulturellen Kapitals aufgefaßt wer-den“ (Bengtson & Schütze 1992: 514).

Mit dem verwendeten Vokabular zeigen sich Indizien, dass Alterskompetenzen (bei Blüm deutlich: „Altersweisheit“) als Besitz, damit zugleich als Machtfaktor (vgl. Abschnitt 5.3) erkannt wurden: („humanes“, „soziales“, „kulturelles“) „Kapital“, „Aktivposten“, „Ressour-cen“ sind bezeichnende Begriffe für vorhandene, jedoch noch nicht aktivierte Güter, die poli-tisch aufgrund ihrer „Unverzichtbarkeit“ (Bundesministerium FSFJ) Verteilungsgedanken aufkommen lassen müssen, da sie verständlicherweise die begehrlichen Wünsche derer wach werden lassen müssen, die solche Potentiale nicht ihr eigen nennen. Dass ein gesellschaftlich notwendiges Kapital nicht von seinen Besitzern gehortet wird und damit brach liegen bleibt, gehört zum demokratischen Selbstverständnis. Es wird dieser „Rechtsanspruch“ der Gesell-schaft jedoch diskussionswürdig sehr verschieden begründet und formuliert.

Blüm als Vertreter der Senioren-CDU plädiert z.B. aus parteipolitischer Sicht für eine wer-bende Sicherung von Aktivitäts-Anteilen der älteren Generation, um von deren Erfahrung zu profitieren: „Deshalb müssen sich die Parteien ... der Mitwirkung der älteren Mitbürger versi-chern“ (Blüm a.a.O.). Ähnlich richtet sich die verpflichtende Forderung des Deutschen Städ-tetages aus kommunalpolitischer Sicht weniger an die ältere Generation selbst, sondern ergeht als Auftrag an die politisch Verantwortlichen, sie müssen „die Älteren als mögliche Ko-Produzenten bei der Lösung sozialer, sozio-kultureller und sozio-ökologischer Aufgaben der Kommune wirklich ernst nehmen“ (Zemann a.a.O.). Auch wirtschaftspolitisch ist ein zuneh-mendes waches Interesse an den vielfältigen Potentialen älterer und alter Arbeitnehmer zu verzeichnen, die „auf dem Arbeitsmarkt wieder entdeckt“ werden – daran besteht für Simone Falk von der Deutschen Direktmarketing Akademie Berlin kein Zweifel. Unter ihrer Leitung startete vor einem Jahr das Pilotprojekt Fachberater 50 plus, bei dem „... Fach- und Führungs-kräfte, die mindestens 50 Jahre alt sind, zu Marketing-Spezialisten ausgebildet werden. Eine Fortbildung, die sich die Erfahrung der Alten ... zu Nutze macht“ (Die Woche, 25. 8.2000:

13). Diese Sichtweisen deuten damit das „Teilhaberecht“ an einer spezifischen Alterskompe-tenz als eine „Holschuld“ der Gesellschaft: Es sind die Nicht-Alten, die sich um einen Anteil am „Kapital“ der Alten bemühen müssen.

Im Gegensatz dazu wird von der IES zwar sachlich, doch unüberhörbar deutlich ein Rechtsan-spruch der Gesellschaft an den Alterspotentialen als Verpflichtung für die Alten gesehen: „In Zukunft müssen auch die Älterwerdenden mehr als bisher die notwendigen Erneuerungen mit-tragen ... Eine neuartige Integration von Neuwissen und Erfahrungswissen ist zu leisten“, wo-für „‘Vermittlungsagenturen‘ zwischen Anbietern und Nachfragern relevanter Alterskompe-tenzen der aktiven Älteren in Forschung und Entwicklung, Bildung und Beratung“ eingerich-tet werden sollen (a.a.O. S.5). Es geht allerdings – entgegen dem Begriff der „Vermittlung“ – nicht um einen intergenerativen Austauschprozess, sondern allein um die „Weitervermittlung“

der relevanten Alterskompetenzen. Der Profit läge damit einseitig auf Seiten der Jüngeren.

Was bei der IES sehr imperativisch an die Adresse der Älteren gerichtet wird („müssen“, „ist zu leisten“), ist etwas vorsichtiger bei Bengtson und Schütze formuliert: „Wie wir schon an-gedeutet haben, ist die Herausbildung eines kollektiven Einstellungswandels im Hinblick dar-auf zu beobachten, was ältere Menschen zur Gesellschaft beitragen könnten und sollten“

(a.a.O.). Da die Älteren ihren Beitrag bisher anscheinend noch nicht geleistet haben, bzw. dies von ihnen bisher anscheinend auch noch nicht erwartet wurde, hat dies zur Folge, dass mit dem Wandel einer kollektiven Erwartungshaltung (trotz der vorsichtigen Konjunktive „könn-ten“ und „soll„könn-ten“) zugleich eine kollektive Forderung entstanden ist. Wird diese bei Bengt-son & Schütze erst noch als gesellschaftliche Erwartungshaltung auf Teilhabe an Alterspoten-tialen formuliert, so wandelt sie sich bei Rosenmayr zu einer heftigen Einklage

gesellschaftli-cher Rechte an Alterspotentialen: „Wer als älterer Mensch aus dem Beruf ausscheidet, darf sich nicht mehr so unbekümmert von sozialen Aufgaben verabschieden ... Die Älteren werden sich an der gesellschaftlichen Wertschöpfung ... beteiligen müssen. Für die Alten wird es da-bei notwendig, die Attitüde des unbekümmerten Seniors durch helfende und anteilnehmende Rollen ... zu ersetzen. Den bloß auf seine Anspruchsberechtigung pochenden Senior des spä-ten 20. Jahrhunderts wird der ‚Spät-Lebens-Mensch‘ des beginnenden 21. Jahrhunderts mit einem ganzen Bündel an Aufgaben und Chancen der gesellschaftlichen Mitwirkung ablösen (müssen) ... Berufliche Entpflichtung darf nicht gesellschaftliche Entpflichtung bedeuten...“

(Rosenmayr 1998: 27, 28). Ganz deutlich wird hier der Vorwurf ausgesprochen, dass die Äl-teren bisher „para-sitäre“ (s.o.) Teilhaber („von sozialen Aufgaben verabschiedet“) am „Ge-sellschafts-Kuchen“ waren, verantwortungslos („unbekümmert“, nicht helfend, nicht anteil-nehmend), und die offensichtlich reichlich vorhandenen Potentiale („ganzes Bündel an Auf-gaben und Chancen“) bisher nicht eingebracht, damit wertvolle Ressourcen zur „gesellschaft-lichen Wertschöpfung“ zurückgehalten haben. Unterstützt wird Rosenmayer in der gleichen Publikation durch die Gerontologin Lehr, die mehrfach sehr resolut von den Alten fordert, bisher zurückgehaltene Kompetenzen als Mittel gesellschaftlicher Zukunftsplanung einzu-bringen: „Es ergeht die Aufforderung an Ältere heutzutage, die Zukunft mitzugestalten, sich nicht aufs Altenteil zurückzuziehen, sondern engagiert an der Lösung gesellschaftlicher, wirt-schaftlicher, familiärer und politischer Fragen mitzuwirken ... auch die Senioren (sind) gefor-dert, ihre Kompetenzen einzubringen – sei es im beruflichen, sozialen, familiären oder kultu-rellen Bereich“ (Lehr 1998: 42, 43).

Mit den Aufgaben- und Verantwortungszuschreibungen, Vorwürfen und Aufforderungen stel-len sich die gesellschaftlichen „Teilhaberechte“ in einer anderen Sichtweise dar: Was bei Ze-mann und Blüm zunächst noch als eine „Holschuld“ der Gesellschaft vermutet wird, ist bei Rosenmayr, Lehr, aber auch bei der IES zu einer moralisch begründeten

Mit den Aufgaben- und Verantwortungszuschreibungen, Vorwürfen und Aufforderungen stel-len sich die gesellschaftlichen „Teilhaberechte“ in einer anderen Sichtweise dar: Was bei Ze-mann und Blüm zunächst noch als eine „Holschuld“ der Gesellschaft vermutet wird, ist bei Rosenmayr, Lehr, aber auch bei der IES zu einer moralisch begründeten

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