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5 Die Konstitution des Alters: Der lange Weg der alten Weisen über die soziale

8.4 Ergebnisse und Auswertung

8.4.1 Reaktionen und Resonanzen

Die E-Mail-Interview-Bögen bestanden neben einem einleitenden, persönlichen Hinweis auf die Empfehlung zur Nominierung und eine Erinnerung an den persönlichen oder telefonischen Erstkontakt in einem standardisierten Anschreiben, das Erklärungen und Begründungen zur Untersuchung und im Folgenden die zu kommentierenden Zitate enthielt. Im ersten Kontakt-gespräch wurden die wichtigsten soziodemografischen Daten - Alter, Beruf und eine freiwil-lige grobe finanzielle Situationsangabe – abgefragt und die Email-Adresse erbeten.

Der hundertprozentige Rücklauf der Interview-Bögen mag zunächst erstaunen – die zeitliche Beanspruchung war groß, die Bearbeitungszeit betrug selbst bei den „Kurzantwortern“ nach deren Aussagen über eine Stunde. Aber auch der inhaltliche Anspruch wurde allgemein als

„hoch“ bezeichnet, besonders von den jüngeren Personen aus der Kontrollgruppe: Die Zitate seien „schwer zu verstehen“, man hätte sie „langsam lesen“ müssen, es sei „relativ starke Re-flexion zur sinnvollen Beantwortung notwendig“ gewesen. Eine junge Frau gar bedankte sich:

„ganz herzlich, meine Gehirnzellen mal wieder angestrengt benutzt haben zu dürfen“. Auch die Älteren gaben - meist als entschuldigende Zwischennachricht mit der Bitte um Zeitauf-schub - einen hohen sprachlichen Anspruch als Grund einer längeren Bearbeitungszeit an.

Alle jedoch, die sich spontan oder nach einiger Zeit telefonisch oder elektronisch meldeten, bestätigten ihr Interesse und ihren Willen zur Mitarbeit. Keiner der Probanden lehnte eine Be-arbeitung ab, obwohl dies bei dem ersten mündlichen Kontaktgespräch durch die Verfasserin ausdrücklich angeboten wurde. Zwölf Personen der Untersuchungsgruppe gaben vorab kurz nach Erhalt unaufgefordert eine positive Rückmeldung, ebenso vier Personen der Kontroll-gruppe.

Das Interesse am Thema war sowohl in der Untersuchungsgruppe als auch, was überraschte, in der Kontrollgruppe außerordentlich hoch. Als „hochinteressant“ wurde die Untersuchung bezeichnet, und die persönliche Einstellung häufig beschrieben mit den Worten „hat mich schon immer/ oft/ ständig beschäftigt“ oder „fasziniert“. Es sind „Aspekte, über die ich mir tatsächlich schon oft Gedanken gemacht habe“, schreibt ein 29-Jähriger. Das engagierte Inte-resse am Sujet kam auch in vielen kontakt- und dialogsuchenden Mitteilungen zum Aus-druck: Zwei Personen baten eindringlich um ein mündliches Interview und bequemten sich erst nach konsequenter Ablehnung zur schriftlichen Form. „Gerne für Rückfragen zur Verfü-gung zu stehen“, erklärten gleich mehrere Befragte bei der Rücksendung, die Bitte um ein späteres ausführliches Gespräch wurde viermal ausgesprochen, der Vorschlag, sich „bald wei-ter auszutauschen“, kam von einem 28-Jährigen, die Bitte um eine Kopie der fertigen Unwei-ter- Unter-suchung insgesamt neunmal. Das Thema betreffende Literaturhinweise wurden von vier Per-sonen gegeben, ein Hinweis auf einen aktuellen Artikel in einer Wochenzeitung erfolgte durch einen jungen Befragten am Erscheinungstag per Mail.

Noch 1970 schrieb Simone de Beauvoir in ihrem damals gesellschaftspolitisch aufregenden, ja schockierenden Werk „Das Alter“: „Für die Gesellschaft ist das Alter eine Art Geheimnis, dessen man sich schämt und über das zu sprechen sich nicht schickt“ (S.5). In dieser Hinsicht hat sich in den letzten dreißig Jahren aus vielerlei Gründen (vgl. Abschnitt 5, 6 und 7) offen-sichtlich ein grundlegender Wandel vollzogen: Die Ergebnisse in der Untersuchungsgruppe der Älteren, vor allem aber die der Kontrollgruppe der Jüngeren beweisen deutlich: Das Alter, sowohl in seiner individuell-biografischen als auch in seiner soziologischen Qualität, übt ei-nen geradezu faszinierenden Anreiz zur Auseinandersetzung aus: „Optimistisch“ sieht eine 23-Jährige dem Zustand des Alters entgegen, betrachtet die Auseinandersetzung mit ihm als

„eine Lebensaufgabe“.

Tatsächlich scheinen existenzielle Lebensfragen und Fragen der eigenen Identität eng verknüpft mit der Reflexion über die Implikationen und Konsequenzen des Alterns und besonders des Umgangs mit dem Alter: Bei der Kontrollgruppe der Jüngeren wird aus-schließlich in „Ich-Form“ geschrieben, in der Untersuchungsgruppe sind es nur 2 von 19, die das distanzierte „man“ durchgehend als grammatikalisches, sachlich objektivierendes Subjekt benutzen, alle anderen schreiben in der ersten Person.

8.4.1.1 Zur Methodenkritik

Die schriftliche Interview-Methode über E-Mail wurde nach gelegentlich zunächst erstaunten Fragen einiger Teilnehmer nach der Repräsentativität (vgl. 8.3.2) einer solchen Umfrage sehr freundlich und zum Teil erleichtert angenommen: Manchem, dem die Items an die Grenze des Persönlichen zu gehen schienen, und der sich bei einer Direktbefragung dieser „Intimität“

vermutlich entzogen hätte („Ob ich das verraten hätte?“ – so ein 64-jähriger Teilnehmer), äußerte sich freimütig durch den Distanz-Puffer des elektronischen Mediums. Gelobt wurde darüber hinaus vor allem die Möglichkeit der Selbstbestimmung in Reihenfolge, Zeitpunkt und Intensität der Beantwortung (bezeichnende Zwischennachrichten: „Bin dran, warten Sie aber bitte bis zum nächsten Wochenende.“ „Ist noch nicht fertig, mache dem-nächst weiter.“ „Verspreche Ihnen, es kommt nach Weihnachten!“).

Die zunächst befürchteten Schwierigkeiten im Umgang mit dem Medium haben sich also er-übrigt: Als beinahe souverän und professionell kann die Beantwortung per E-Mail durch die Älteren bezeichnet werden. Viele verzichteten auf den sicheren Rückweg über die einfache Rückantwort, speicherten lieber den Zitatenkatalog ab und schickten ihn in Form gesetzt als Anlage zurück. Manche übernahmen Teile (Aspekte der Beurteilung) aus dem Anschreiben, kopierten sie in den Text hinein, um Stellung dazu zu nehmen. Einer speicherte die jeweils (durcheinander) beantworteten Zitate und sandte so einen völlig veränderten Katalog zurück.

Viele verschoben die Reihenfolge der Zitate nach ihren eigenen Schwerpunktsetzungen, oder sprangen innerhalb der Zitate ergänzend, rückbeziehend hin und her („Habe ich bei eins nach-getragen“, „Ergänze ich dann bei ‚Erfahrung‘.“). Nur zwei Personen (eine der Untersuchungs- eine der Kontrollgruppe) behandelten den Zitatenkatalog orthodox als üblichen Fragebogen und beantworteten ihn überwiegend schlicht mit ‚ja‘ oder ‚nein‘.

Der in der Literatur und den Medien in regelmäßigen Abständen immer wieder auftauchenden Befürchtung, dass die telemediale Kommunikation (wozu z.B. auch Telefon und Handy gehö-ren) nur ein schlechter Ersatz für die „richtige“ Kommunikation sei (wie etwa das E-Mail-In-terview auch Ersatz für das „richtige“ InE-Mail-In-terview wäre), kann – abgesehen von der Fraglichkeit einer gültigen Definition des Begriffes „richtig“ – entgegnet werden, dass es sich nicht um die Alternative „echte“ Kommunikation oder Kommunikationsersatz handelt, sondern es kön-nen E-Mail-Kontakte und -korrespondenzen vielmehr und viel weiter definiert werden als eine „parasoziale Interaktion, also ein Handeln, das ... soziale und kommunikative Qualitäten enthält“ (Bausinger 98: 35). Diese sozialen und kommunikativen Qualitäten sind deshalb als durchaus hoch zu bezeichnen, weil durch die Besonderheiten des elektronischen Briefes

(Ver-fügbarkeit über Zeit, Art und Ausmaß der Reaktion) der Eigenwilligkeit und der Selbstbe-stimmung des Kommunikationspartners besonderer Respekt gezollt wird.

Was die 13. Shell Jugendstudie unter der Überschrift „Gesellschaft der Zwischentöne“ für die Gruppe der Jugendlichen feststellt, gilt zunehmend auch für Ältere: Mediale Kommunikation bedeutet „keineswegs zugleich eine ‚soziale Verarmung‘. Im Gegenteil: Gerade Technik und neue Medien (Nutzung von Handy und Internet) sind zumeist Bestandteil eines besonders reichhaltigen und engagierten Soziallebens und Grundlage für aktive Freizeitgestaltung“ (Dt.

Shell 2000: 5).

8.4.1.2 Zum Untersuchungskollektiv

Sowohl die von einer regionalen Tageszeitung und von kulturvermittelnden Vereinen nomi-nierten 19 Personen der Untersuchungsgruppe als auch die von einer weiterführenden Schule, einer Jugendtheatergruppe und einem Jugendcafé nominierten 14 Personen der Kontrollgrup-pe zeichnen sich in der demografischen Beschreibung durch ähnliche Merkmale aus: Alle sind im öffentlichen Leben durch kulturelles, soziales oder politisches Engagement bekannt, gelten als aktiv, wohlsituiert und gebildet.

Tatsächlich können alle Personen einen Schulabschluss der Hochschulreife nachweisen. Ent-sprechend entstammen oder entstammten die Personen der Untersuchungsgruppe Berufsgrup-pen höherer oder höchster Qualifikation und hohen sozialen Ansehens, sind oder waren in führenden Positionen tätig oder selbständig, meistens für mehrere Mitarbeiter verantwortlich und mit verantwortungsvollen Aufgaben betraut. Jeweils ein Kunsthistoriker, Kulturdezer-nent, Personalrat, Mediziner, Sonderschullehrer, Chefredakteur, Unternehmensberater, Kul-turjournalist, Consulting-Manager, Künstler, Unternehmer, Diplom-Ingenieur, ein/e Studien-rat/rätin, eine Geschäftsführerin, eine Dozentin der Pädagogik, eine der freien Kunst, eine freie Schriftstellerin, eine Malerin.

In der jüngeren Kontrollgruppe befanden sich: sieben Studenten/innen ( Medien- und Sozial-wissenschaften, internationale Betriebswirtschaftslehre, Publizistik, Theologie, Pädagogik, Sport, Kunst), zwei Diplom-Ingenieure, ein Physiker, vier akademische Künstler (Maler, Fo-tograf, Grafiker).

Das Altersspektrum streute in der Untersuchungsgruppe von 42 bis 77 Jahren (M=60.8 Jahre), in der Kontrollgruppe von 21 bis 36 Jahren (M=22.5 Jahre). Durch den elektronischen Weg wurde ein regional breiteres Spektrum möglich: 21 der befragten Personen wohnen zur Zeit in Kleinstädten (Horb, Herrenberg, Rottenburg, Freudenstadt), 12 Personen studien- oder weiter-bildungsbedingt in Groß- und/oder Universitätsstädten (Mannheim, Stuttgart, Ulm, Tübingen, Köln, Hamburg).

Die (freiwilligen) Angaben zur finanziellen Situation bestätigen die Ergebnisse einschlägiger Untersuchungen der letzten Jahre: Finanzielle Sorgen sind weniger für Ältere denn für Jünge-re ein Thema. Die Gesamtheit der Befragten der Untersuchungsgruppe bezeichnete sich als wohlhabend, selbst die emeritierten, pensionierten, berenteten Älteren zeigten sich von der finanziellen Situation her besser gestellt als die Teilnehmer der jungen Kontrollgruppe, die sich aus Studenten, aber auch aus jungen Erwerbstätigen zusammensetzte.

Ist eine solche Untersuchungsgruppe zwar gegenwärtig noch als hoch elitär zu bezeichnen (zur Argumentation vgl. 8.3.1), so zeichnet sich mit ihr doch bereits soziologisch eine Ten-denz zukünftiger Entwicklung der gesellschaftlichen Gruppe der „Alten“ ab: „Jede jüngere Kohorte“, konstatiert und prognostiziert der Alters-Survey für die Zukunft, „weist beim Über-gang in den Ruhestand ein höheres Ausbildungsniveau, eine bessere Gesundheit, und ... eine bessere materielle Absicherung auf, verfügt also über mehr Ressourcen für eine eigenständige Lebensführung“ (Kohli/ Künemund 2000: 337). Vor allem, was die zunehmend höhere Bil-dungsstruktur der jetzigen und zukünftigern Alten angeht, scheint dies eine – im Gegensatz zur möglicherweise fraglichen finanziellen Prosperität - unumkehrbare Tatsache zu sein.

Nicht zuletzt (aber auch nicht allein) als Folge der Bildungsexpansion der fünfziger Jahre hat die kontinuierlich zunehmende Höherqualifizierung der Bevölkerung inzwischen „eine Ei-gendynamik entwickelt“, die sich als „Umschichtung von unten nach oben interpretieren lässt:

Untere Bildungsschichten schrumpfen, mittlere und höhere Bildungsschichten dehnen sich aus“ (Geißler 2000: 38).

Was sich also mit dem vorliegenden Untersuchungskollektiv vorerst noch als anschei-nend gesellschaftliche Elektion darstellt, wird sich mit höchster Wahrscheinlichkeit in den kommenden Jahren immer mehr zu einer soziologisch „normalen“, einer nicht mehr ungewöhnlichen Population entwickeln.

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