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9 Bestimmung der kulturellen Relevanz von Alterspotentialen

9.2 Die Möglichkeit zur Synoptik

Möglichkeiten der synoptischen Wirklichkeitsbetrachtung und -gestaltung ergeben sich aus der Weisheitskompetenz der sinnerkennenden und integrierenden Zusammenschau. Diese Kompetenz wird in der Forschung nicht bezweifelt, aber auch nicht genau definiert.

„Reife wird von uns verstanden als ‚Überblick‘ über ein bestimmtes Gebiet, und die Ergeb-nisse der Gerontologie machen deutlich, dass es gerade dieser Überblick ist, der zu den Stär-ken des Alters gehört“ (DIFF 1997:16), äußert der Entwicklungspsychologe und Alternsfor-scher Andreas Kruse in einem Interview der Funkkolleg-Werkstatt des DIFF an der Universi-tät Tübingen. Was bei dem Wissenschaftler zwar nicht sehr konkret, aber einsichtig und seriös klingt, hat bei der amerikanischen Psychologin und Sozialwissenschaftlerin Betty Friedan be-reits recht mystische Anklänge: „Ein Wachsen, Vertiefen, Verknüpfen – das Bewußtsein, daß es wichtig ist, unser Leben, so wie wir es gelebt haben, zu einem Gesamtbild zusammenzufü-gen ... Die Energie strömt jetzt in ... ein tieferes Verstehen des bisher Gelebten: Alle Teile werden zusammengetragen, um sie bewußt miteinander zu verknüpfen“ (Friedan 1997: 775).

Was steckt hinter diesen geheimnisvollen, vorsichtig einkreisend wie bei Kruse beschriebenen oder schwärmerisch allumfassend wie bei Friedan geschilderten, Phänomen synoptisch–

integrativer Fähigkeiten des Alters? Worin bestehen sie und wie werden sie wirksam?

Es zeigt sich sowohl in den vorsichtigen Annäherungen als auch in den betont irrationalen Zugängen zunächst einmal die Schwierigkeit aller wissenschaftlichen Disziplinen: die Skep-sis, in einem synthetisierenden, ganzheitlichen Denken gleichermaßen mögliche und legitime Zugangsmöglichkeiten zu Problembestimmungen und Problemlösung zu sehen, wie in einem analytischen Denken. Sind nämlich die analytischen Prozesse relativ gut logisch begründbar, nachprüfbar und eindeutig zu bestätigen oder zu falsifizieren, so hätte man dies mit sythetisie-renden Prozessen erheblich schwerer: Die Mühsal der Forschung interdisziplinär orientierter oder kooperierender Wissenschaften (wie z.B. der Gerontologie, aber auch der Kulturwissen-schaften) mögen dies bezeugen – Ergebnisse sind nicht rasch und kaum eindeutig „eva-luierbar“, dienen immer nur der Hypothesengenerierung und als Diskussionsgrundlage. Zu-dem wird die kumulative Wissensentwicklung, d.h. die Überprüfung, Transformation und Anreicherung des Wissens wichtig: Die Fähigkeit zu synthetisierendem Denken ist hochgra-dig wissensgebunden. Nur wo Wissen als verfügbare Ressource gesichert vorhanden ist, kann diese „transzendiert“ werden – in dem Sinne, dass eine Vernetzung und Synoptik zu anderen vorhandenen Wissensbereichen stattfindet, damit gemeinsame Probleme überhaupt erkannt und mit von allen Beteiligten verfügbaren Mitteln gemeinsam an einer Lösung gearbeitet wer-den kann. „Transzendierend“ wäre dann der Schritt über die verschiewer-denen bereits vorhande-nen, gesicherten, bearbeiteten Bereiche hinaus auf eine neue Stufe der Erkenntnismöglichkeit – Querverbindungen zu schaffen zwischen den unterschiedlichen „Transzendenz“-Schritten in

den Einzelwissensbereichen wäre die Aufgabe des Synthetisierungsprozesses. Erst über sie ist die Möglichkeit zur Gewinnung neuer Erkenntnisse aus dem Vorhandenen gegeben.

Kann weder die Fähigkeit des analysierenden noch die des synthetisierenden Denkens als

„höhere“ oder „niedrigere“ bewertet werden, so sind doch jeweils unterschiedliche Vorausset-zungen erforderlich: Das zergliedernde, zerlegende, logisch abwickelnde und beweisende, das sezierende Denken auf der Seite der analytischen Prozesse, das verknüpfende, verbindende (relativierende), beziehungserkennende, systematisierende Denken auf der Seite der syntheti-schen Prozesse. Die Fähigkeiten zum synthetisierenden Denken sind so zwar nicht als „höhe-re“ zu bewerten, wohl aber als umfassendere: Die zu überschreitenden Wissensressourcen müssen nicht nur vorhanden und verfügbar, sondern auch bereits verarbeitet (Arbeitsvoraus-setzung) sein. Die Synthese funktioniert also in einer anderen Qualität: Das Vorhandene wird nicht mehr nur bearbeitet, sondern es wird das (bereits bearbeitete) Vorhandene auch über-schritten. Es wird aus dem Vorhandenen heraus Neues entwickelt.

„Mein Leben hat dann auf diesem Erkenntnis–Hintergrund den Sinn“, hofft ein junger Teil-nehmer der empirischen Untersuchung, „aus einem Reservoir von Erlebtem und Erlerntem zu schöpfen, ... und ... deshalb immer wieder neu kreativ tätig zu sein“ (Pb 4j). Aus Vorhande-nem Neues zu gestalten bedeutet für diesen jungen Mann „Kreativität“, ist schöpferische Leis-tung. Dem entspricht der Begriff der „Neukomposition“ von Rosenmayr: Nicht auf einem komplexen Wissensreservoir unbeweglich zu verharren, als Besitzstand zu wahren, darf als Leistung des Alters gesehen werden, sondern es „preiszugeben“, hinter sich zu lassen, zu ü-berschreiten, zu ordnen und zu gestalten, neue Prinzipien und Strukturen zu schaffen (vgl. Ro-senmayr 1997: 72).

Dass dies nicht unbedingt „rein“ zu evaluieren ist, könnte die (wissenschaftliche) Schwierig-keit erklären, die gelegentlich mit dem synthetisierenden Denken auftauchen – es könnte die Skepsis analytisch argumentierender „reiner“ Wissenschaften gegenüber den gelegentlich schwärmerischen, manchmal fast abgehobenen Argumentationen der „interdisziplinär“ orien-tierten Wissenschaften erklären: „Zu lange hatte man, was den Verlauf der Dialektik der Auf-klärung bestimmte, geglaubt, daß das, was gut funktioniere, auch gut sei. Hybride Rationalität mißachtete den Mythos. Das hypothetische Bewußtsein der Wissenschaft, daß die ganze Welt in Wenn-Dann-Beziehungen aufzulösen sei, reduzierte die Erfahrung ganzheitlicher Sinnhaf-tigkeit und Sinnfälligkeit“ (Glaser 1990: 207).

So hat die Gerontologie, bei aller Seriosität, es schwerer, die eindeutig sich als Altersstärke erweisende Fähigkeit des synthetisierenden Denkens (vgl. Baltes, s.u.) wissenschaftlich „rein“

darzustellen. „Kosmische Geborgenheit als schöpferische Leistung des Alters“ ist denn auch eine doch sehr streitbare Überschreibung eines schließlich doch „analytischen“ Kapitels des Psychotherapeuten Heinz Bau in einem Beitrag zur Biografieforschung. Nach guter alter wis-senschaftskritischer Analyse aufbauend, leitet er die – ihm allerdings letztlich unerklärliche – Fähigkeit des Älteren zur (überlegenen) Fähigkeit des integrativen Denkens ab:

„Erkenntnis wird hier nicht mehr durch ein fortwährend analytisches Zergliedern einzelner Objekte gesucht, sondern durch das Aufsuchen eines Bleibenden im Wechsel der Erscheinun-gen. Das Problem des Paradigmawechsels in der Phase des Alters besteht darin, daß das sezie-rende, diskursive Denken als nicht mehr ausreichend erkannt werden muß, da es nie die wirk-liche Bestimmung eines konkreten Ganzen bringen kann“ (Bau 1995: 151). Soweit ist Bau wissenschaftlich zweifellos zu folgen, soweit wird er durch die Weisheitsforschung (s.u.) auch bestätigt. Doch die Unsicherheit in der Vermutung dessen, was aus der vorangegangenen analysierenden Begründung schließlich folgen könnte, welche Konsequenzen auf kognitiver Ebene zu ziehen wären, verliert sich bei Bau in einer fast andachtsvoll wiederbelebten Devo-tio moderna: „In der Phase des Alters reicht es nicht aus, bei den Vorstellungen, die dem Menschen unmittelbar gegeben sind, zu bleiben, sondern diese müssen überschritten werden zugunsten einer intuitiven Erfassung eines ganzheitlichen Zusammenhanges, einer aus dem Inneren sich entwickelnden Offenbarung, in deren Realisierung der ältere Mensch sein

eigent-liches Sein, sein Wesen erkennt und lebendig werden lässt“ (a.a.O.). Angesichts der Vermu-tung nicht mehr fassbarer, belegbarer, begründbarer Fähigkeiten werden Begriffe von gleich-sam divinatorischer Ehrfurcht und Demut gewählt, die das Misstrauen des „reinen“ Wissen-schaftlers wecken müssen: Was wäre denn gemeint mit einer „intuitiven Erfassung“, mit einer

„aus dem Innern sich entwickelnden Offenbarung“, was mit einem „eigentlichen Sein“? Der Versuch, den Informationsgehalt dieser Aussage zu identifizieren und allgemeinverständlich zu formulieren, könnte ergeben, dass angesichts verlegener Ratlosigkeit vor einer derart schwer fassbaren Fähigkeit die Flucht in die Übersinnlichkeit angetreten wurde.

Auch die Weisheitsforschung bietet keine eindeutigen Untersuchungsergebnisse zur Fähigkeit des synthetisierenden Denkens, doch zur Vermutung von Übersinnlichkeit wird entschlossen Abstand bewahrt. Zwar zeigen Baltes & Smith die notwendigen Voraussetzungen für eine Fä-higkeit zu übergreifendem Wissen und Denken auf, das mit dem Begriff des Expertentums umrissen wird. Diese Voraussetzungen sind jedoch noch eher wissenschaftlich deut– und be-schreibbar als die Fähigkeit selbst: Aus den Kriterien des reinen Faktenwissens und den pro-zeduralen Kenntnissen von Strategien zur Lebensgestaltung manifestiert sich auf einem Meta-Niveau eine neue Qualität, die schwer und nur näherungsweise zu beschreiben ist, handelt es sich doch um „die Manifestation eines nur global strukturierten, offenen Wissenssystems, weil es sich dabei um Wissen in Grenzbereichen und nicht so sehr um standardisiertes Lehr-buchwissen handelt“ (Baltes/ Smith 1990:109).

Das Ziel, soweit es sich bei Bau interpretieren und bei Baltes und Smith deutlicher ablesen lässt, wäre demnach eine Vernetzung der – als vorhanden vorauszusetzenden – einzelnen Be-reiche des Be-reichen Faktenwissens und der Strategiekenntnisse, um so über eine Wissensquan-tität zu einer neuen Qualität eines „Metawissens“ zu gelangen.

Die Ansprüche und Leistungen des übergreifenden, synthetisierenden Denkens werden in den verschiedenen Disziplinen unter unterschiedlichen Aspekten gesehen und gewichtet:

Die Integration der Persönlichkeit als Moment der ganzheitlichen Persönlichkeit dominiert in der psychoanalytischen Literatur wie bei C.G. Jung: „Aber auch die psychischen Funktionen ... sind zu integrieren ... ungelebte(n) Schatten anzunehmen... Nicht das Über-Bord-Werfen bisheriger Werte und Lebensformen macht eine Akzeptierung des Schattens aus, sondern de-ren Integration mit ihrem Gegenteil. ... Die zweite Aufgabe... ist die Integration von Animus und Anima...“ (zitiert nach Olbrich/ Gunzelmann 1992: 57).

Das Erkennen bzw. Stiften von Sinnzusammenhängen ist es, das unter psychologischen Ge-sichtspunkten im Vordergrund steht: „Die Vorstellungen des persönlichen Sinnsystems sind nicht eine beliebige Sammlung von Einzelheiten, sondern haben eine bestimmte Ordnung. Sie bilden eine Gestalt mit einer zeitlichen Gliederung und einem subjektiven ‚Lebensraum‘, in dem das körperliche und psychische Selbst im Zentrum der persönlichen Umwelt mit ihren verschiedenen Handlungs- und Lebensbereichen liegen“ (Staudinger & Dittmann-Kohli 1992:

417). Aus der Religionsphilosophie erfährt die psychologische Gewichtung der Sinn-Synopse Unterstützung durch den Theologen Romano Guardini, der nur in dieser Fähigkeit des Alters überhaupt eine „richtige“ Alternsweise zu erkennen vermag: „ Der in der richtigen Weise Altwerdende wird fähig, das Ganze des Lebens zu verstehen. Er hat keine eigentliche Zukunft mehr, so wendet sein Blick sich auf das Vergangene zurück. Er sieht die Zusammenhänge, erkennt, wie darin die verschiedenen Anlagen, Leistungen, Gewinne und Verzichte, Freuden und Nöte durcheinander bestimmt werden und so jenes wunderbare Gefüge entsteht, das wir

‚ein Menschenleben‘ nennen.... Ein Gesamtbewußtsein, in welchem das Alter den ihm einen Sinn und die Möglichkeit für die Verwirklichung dieses Sinnes nicht hat, ist falsch ge-baut“ (Guardini 1953).

Der zeitliche Überblick, die Zusammenschau als Synopse von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist Kennzeichen, Besonderheit des Alters und bevorzugter Forschungsschwerpunkt in der Gerontologie: „Die Beantwortung fundamentaler Fragen der Lebensbewältigung erfordert

...das Wissen um ... das Eingebettetsein der individuellen Lebensgeschichte in den Strom der Generationen und Zeitläufe ... und ... die erfolgreiche Integration der Zeitbezüge in Vergan-genheit, Gegenwart und Zukunft gehört dazu. Die Relativierung der Gegenwart ist also eben-falls ein wichtiges Kennzeichen dieses Wissenskörpers“ (Baltes 1994: 180).

Es ist vermutlich weniger der erste Aspekt, der kulturell von höchstem Interesse sein könnte, als vielmehr der zweite und dritte Aspekt: Nicht nur die wissenschaftlichen An-sätze interdisziplinärer Forschung könnten hierin Impulse, Motivationen, Begründun-gen und BestätigunBegründun-gen erhalten, sondern es könnten kulturelle Bereiche aus strenger

„Einzeldisziplinierung“ zu übergeordneten Arbeits- und Themenbereichen auf neue und erkenntnisträchtige Wege gelangen. Dies könnte seinen Platz haben sowohl im „Cross-Over“ der Künste oder aber im kulturpolitischen Bereich als Umsetzung und Verwirkli-chung integrativer Konzepte - über Weltanschauungen und Ideologien „reiner“ Fort-schrittsgläubigkeit oder puren Historizismus‘ hinweg. Dieser Aspekt erweist sich zuneh-mend auch wirtschaftpolitisch von höchster Brisanz: „Zu Ende geht eine Ära des einsei-tigen Denkens“, diagnostiziert Mutius die gegenwärtige Situation der Gesellschaft ange-sichts folgenträchtiger Globalisierungstendenzen, „Zu Ende geht ein einseitiges lineares Verständnis ... der Welt. Die Alternative ... heißt: Nicht mehr in Entweder-Oder-Kate-gorien verharren, sondern eine grenzüberschreitende Sicht entwickeln ... Nicht nur die eine Seite, sondern auch die andere – ihr möglicherweise widersprechende – wahrneh-men. Nicht nur einen oder zwei mögliche Wege gedanklich verfolgen, sondern eine Viel-zahl von Möglichkeiten“ (Mutius 2001:1).

Es könnte die unter guten Bedingungen entwickelte Fähigkeit älterer Menschen zu synopti-schem Denken eine Chance sein, die notwendigen übergreifenden Aspekte als notwendigen kulturellen Beitrag in den Diskurs einzubringen.

„Unsere Gesellschaft bedarf, je mehr sie entdeckt, daß rationale Einlinigkeit und Eindeutig-keit in den komplexen Fragen unserer hochentwickelten Welt für Problemlösungen nicht mehr ausreichen, integrativer Fähigkeiten. Man muß Divergierendes, ja Widersprüchliches miteinander verbinden und sogar versöhnen. Alte Menschen könnten unter bestimmten Vor-aussetzungen eine solche Verbindung und Versöhnung eher als junge zustande bringen...“

(Rosenmayr 1996:60/61).

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