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5 Die Konstitution des Alters: Der lange Weg der alten Weisen über die soziale

8.1 Theoretische Ansätze als Strategie der Konzeptbildung

8.1.3 Gerontologisch –psychologische Argumentation

Die Entwicklung von Alters- und Alterskompetenzen zu erkennen, nachzuweisen, zu be-schreiben und zu unterstützen, ist in erster Linie Verdienst der noch sehr jungen Gerontologie, die als interdisziplinäre Wissenschaft Forschungsergebnisse und –erkenntnisse aus Soziolo-gie, PsycholoSoziolo-gie, Medizin, Ökonomie und in jüngerer Zeit aus der Bildungsforschung vereint und bearbeitet. Wegweisend tätig im europäischen Raum ist auf diesem Gebiet die Arbeits-gruppe „Altern und gesellschaftliche Entwicklung“ der Akademie der Wissenschaften zu Ber-lin, dessen Sprecher, Paul B. Baltes angesichts aller neueren und neuesten Erkenntnisse über Entwicklungsmöglichkeiten von Kompetenzen im Alter konstatiert: „Das latente Potential des Alters und des Alterns ist zu einem wesentlichen Teil noch unbekannt“ (Baltes/Baltes 1992:

2). In dieser Tatsache wird eine besondere Herausforderung an die Wissenschaft gesehen, aber auch an die Gesellschaft, denn: Trotz überwältigend vieler neuer Erkenntnisse über Al-terskompetenzen, trotz wissenschaftlich fundierter Widerlegungen herrschender, vorwiegend defizitärer Altersbilder (vgl. Abschnitt 5, 6 und 7) leuchtet es angesichts der noch neuen Wis-senschaftsentwicklung ein, „dass es noch keine differenzierte, hochentwickelte ‚Kultur‘ des Alters geben kann, eine Alterskultur, die so angelegt wäre, dass sie das qualitativ Bestmögli-che aus dieser Lebensphase macht“ (a.a.O. S.3). Dies ist nicht allein die konsequente Folge-rung, sondern scheint – vorerst noch – einen Teufelskreis darzustellen, in der Form, dass auch

„das latente Potential des Alter(n)s gegenwärtig wegen einer fehlenden Alter(n)skultur unter-schätzt wird“ (a.a.O. S.19). Zwei der von Baltes/ Baltes angeführten drei Bereiche des mögli-chen Kompetenzzuwachses im Alter sollen an dieser Stelle vernachlässigt werden, da sie nur sehr eingeschränkt kulturrelevant erscheinen: die offensichtlich nachweisbaren latenten Re-serven der körperlichen Vitalität und der Hinweis auf mögliche sportliche Höchstleistungen

im Alter, beide sind vermutlich durch persönliche Leistungsmotivation aktivierbar. Der dritte Bereich allerdings ist gesellschaftlich und individuell von höchstem kulturellen Interesse: Aus den Forschungen zum Altern der Intelligenz ist deutlich geworden, dass neben einem (möglichen) Abbau, der vor allem in einer Verlangsamung des Denkens und Fehlerhaf-tigkeit des Gedächtnisses zutage tritt, Stabilität und Wachstum in bestimmten Intelli-genzbereichen nachzuweisen sind: „Es sind all diejenigen Bereiche, in denen Lebens- und Kulturwissen besonders ausgeprägt sind. Berufliches Spezialwissen und Weisheit (...) sind Beispiele, bei denen Stabilität oder sogar positive Effekte des Alter(n)s aufgezeigt werden konnten“ (a.a.O. S.20). Dieses „Zweifaktorenmodell“ der Intelligenz hat sich inzwischen als tragfähig erwiesen: Die eher biologisch bestimmte Fähigkeit der ‚fluiden Intelligenz‘ – bil-dungsabhängiger, schlussfolgernder, formal-logischer Denkleistungen bei hohen Reaktions-geschwindigkeiten – auf der einen Seite, und die kognitiven Kompetenzen zur Lösung stark wissens- und erfahrungsabhängiger Aufgaben der ‚kristallinen‘ Intelligenz auf der anderen Seite. Während die fluide Intelligenz offensichtlich dem Altersabbau ausgesetzt und ohne kompensatorisches Training meist auch betroffen ist, zeigt sich die kristalline Intelligenz-komponente eher altersstabil und auf- und ausbaufähig (vgl. Baltes/Baltes 1993, Kruse &

Lehr 1989, Lehr 1996, Rosenmayr 1997, Staudinger 1992, 1996, Weinert 1992). Sie deutet sogar in der „österreichischen“ Version der „kristallisierten“ Intelligenz (Rosenmayr) als Par-tizip-Perfekt-Bezeichnung auf die Notwendigkeit vergangener Zeit als eine Voraussetzung zur Evidenz hin. Die kristalline, kristallisierte Intelligenz ist ein „eher gesamthaft beurteilendes Vermögen. Es beinhaltet neben Darstellungs- und Ausdrucksqualitäten den ‚Blick fürs We-sentliche‘. Die kristallisierte Intelligenz koppelt an die Intuition an. Sie enthält andererseits Wissen kultureller Art, so etwa Wissen über Kunst, Philosophie etc., aber auch Wissen über den Einsatz solchen Wissens“ (Rosenmayr 1999: 62). Im Besonderen gehört dazu der Einsatz des passiven und aktiven Wortschatzes, des Sprachverständnisses und die Einsicht in allgemeine Lebenszusammenhänge. Diese Bereiche, die als inhaltsspezifisches Wissen zusammengefasst werden können, sind für den kulturellen Bereich von höherem Inte-resse als die rein logischen Kompetenzen. Sie werden im Alter evident und zeigen hier Entwicklungsmöglichkeiten. Als „Expertise“ oder „Expertenwissen“ gehören gelebte, verarbeitete Jahre zu ihrer Voraussetzung – obwohl diese nicht zwangsläufig zu ihrer Evi-denz führen müssen.

Weinert, der 1999 grundlegend einen allzu blauäugigen Optimismus hinsichtlich lebenslanger Lernfähigkeit kritisiert (vgl. Abschnitt 4.3), zweifelte bereits 1992 die Hoffnung geriatrischer Therapeuten an, mittels Eingreif- und Trainingsprogrammen einen heilsamen Einfluss auf den gesamten kognitiven Leistungsbereich auszuüben. Eben ein solcher, recht oberflächlicher, rein pragmatischer, funktionaler, „handhabbarer“ Kompetenzbegriff ist es, der immer wieder zu berechtigter skeptischer Distanz führen muss: „Wenn ... von einem Einfluss der Expertise auf kognitive Leistungen gesprochen wird, so sind damit natürlich nicht einfache Kenntnisse gemeint, sondern der Reichtum und die interne Organisation des relevanten Wissens („ge-wusst was“),der Automatisierungsgrad kognitiver Fertigkeiten („ge(„ge-wusst wie“) und die damit verbundene metakognitive Kompetenz zur erfolgreichen Steuerung des eigenen Verhaltens.

Nur, wenn solche Formen bereichsspezifischen Wissens im Jugend- und Erwachsenenalter aufgebaut wurden, kann erwartet werden, dass die davon abhängigen Leistungen auch im Al-ter relativ stabil bleiben“ (Weinert 1992: 194; Hervorhebungen durch M.K.). Die sich hier spiegelnde (durch Hervorhebung gekennzeichnete) Definition von Expertise/ Expertenwissen ist eindeutig altersspezifisch und stellt fraglos eine positive („Reichtum“), kulturell orientierte und auch bewertete Kompetenz dar („Organisation von relevantem Wissen“, Souveränität der Handhabung und des Einsatzes kognitiver Fertigkeiten), die bereits über Erfassbarkeit durch Intelligenzmessskalen hinausgehen („metakognitive Kompetenzen der Steuerung“). Zugleich verweist Weinert nochmals deutlich auf die Abhängigkeit der kognitiven Alterskompetenzen von den Voraussetzungen der bereits erworbenen und gepflegten Fähigkeiten. Damit soll an

dieser Stelle vorgreifend bereits auf ein Kriterium des Samples im empirischen Teil ver-wiesen werden: Kulturrelevante Alterskompetenzen werden nur bei entsprechenden Bildungs-, Informations- und Wissensvoraussetzungen entwickelt; auf dieser These wurde das Sample entwickelt und begründet (vgl. Abschnitt 8.3.1 und 4.3).

Ältere Menschen, die diese Voraussetzungen zum Experten in Bezug auf soziale, politische, kulturelle Lebensfragen erfüllen, haben sich „in ihrer Biografie intensiv mit zahlreichen Le-bensanforderungen auseinandergesetzt, im Prozess dieser Auseinandersetzung vielfältige Er-fahrungen gewonnen und effektive Handlungsstrategien entwickelt ... Die Experten in Bezug auf ‚Fragen des Lebens‘ zeichnen sich durch komplexe Urteile aus, in die zahlreiche Aspekte der Lebenssituation eingehen (‚kontextuelles Denken‘). Des weiteren sind sie in der Lage, trotz wahrgenommener Unsicherheiten des Lebens (...) eine positive Lebenseinstellung zu be-wahren“ (Schmitz-Scherzer et al. 1993:52).

Mit diesen „komplexen Urteilen“ wird vermutlich eines der wichtigsten Potentiale der Alterskompetenzen beschrieben – in ihnen liegt die Möglichkeit begründet, eine alterna-tive Zugangsweise zu Problemlösungen zu erhalten, als den zielorientierten, daher ein-dimensionalen, rigideren und strikteren Lösungsstrategien des „aktiven“ Lebensalters.

Dies hätte eine kulturell wesentliche Funktion: Sie gäbe dem Erkennen, der Interpreta-tion und den Lösungssuchen kultureller Probleme einen neuen, eigenen, kreativen Cha-rakter, der neue Perspektiven ermöglicht, alternativ und para-funktionell durch Einbe-ziehung vielfältiger, umfassenderer, ‚komplexer‘, multivalenter Urteilsmöglichkeiten.

Neben diesem Aspekt komplexer Urteilsfähigkeit und kontextuellen Denkens wirken die u.a.

von Schmitz-Scherzer angeführten weiteren Aspekte sich entwickelnder Alternspotentiale vergleichsweise unwichtig, zumindest subsumierbar: Es sind dies zum einen die Fähigkeit zur Auseinandersetzung mit im Alter vermehrt auftretenden Belastungen und deren Bewältigung, zu denen neue, fordernde Qualitäten in Form von Flexibilität und hohen psychischen Ressour-cen erforderlich sind; zum anderen ist es die Fähigkeit zur Annahme von Grenzen aus der Er-fahrung verkürzter Lebensperspektiven: „... in der Bereitschaft und Fähigkeit, sich in der Pla-nung auf die nahe Zukunft zu konzentrieren, ist u.E. eine weitere Entwicklungsmöglichkeit zu sehen. Denn diese Form der Umstrukturierung persönlicher Lebenszeit gründet auch auf dem Innewerden der Begrenztheit des eigenen Lebens“ (Schmitz-Scherzer 1993:54).

Es stellen m.E. die neuen Fähigkeiten sowohl zur „Bildung komplexer Urteile“ als auch zum

„kontextuellen Denken“ ein übergeordnetes Phänomen, eher ein Resultat und Prozessergebnis aus der „Erfahrung verkürzter Zukunftsperspektiven“ und „Auseinandersetzung mit Belastun-gen“ dar, als dass sie nebeneinander stehende, voneinander unabhängige Qualitäten darstellen könnten. Obwohl bei der Feststellung möglicher vorhandener kulturrelevanter Alterskompe-tenzen in psychologisch-gerontologischer Argumentation die Frage nach deren „Rangabstu-fungen“ oder Über- bzw. Unterordnungen recht belanglos erscheint – so sie sich denn einfach als neue Kompetenzen darstellen – scheint es doch einer reizvollen Frage wert, ob es eine Systematik der Qualitäten von Alterskompetenzen gäbe.

Eine Antwort und wissenschaftliche Begründung könnte das Weisheitskonzept von Paul B.

Baltes geben:

Ausgehend von den außerordentlich umfangreichen Untersuchungen und Forschungen zum Thema Weisheit sowohl in Alltagskonzepten und Alltagstheorien als auch wissenschaftlich - methodischen Erfassungen (P. B. Baltes 1989, 1994, Baltes/Smith 1990, Staudinger 1996, Staudinger/Baltes 1992, 1996, Sowarka 1989) definiert P.B. Baltes nach fünf Kategorien die Weisheit „als ein Expertensystem in der fundamentalen Pragmatik des Lebens“. Das Kon-strukt Weisheit als Expertenwissen stellt sich dar als ganzheitlicher „Wissenskörper von hoher Komplexität und Offenheit gegenüber inhaltlichen und situativen Variationen“ (Baltes 1994:

179) und spricht damit für ein integrierendes System von lebensgeschichtlich gewachsenen Fähigkeiten und Leistungen der Intelligenz und der Persönlichkeit. Ontogenetisch und

ontolo-gisch zugleich verdeutlichen die enthaltenen einzelnen Bereiche das ganzheitliche Zusam-menspiel zur Entstehung und zum Erscheinungsbild „Weisheit“. Während an anderer Stelle (1996) das Fakten- und Strategiewissen als Basiskriterien beschrieben werden (generelles und spezifische Wissen um Lebensprobleme und die menschliche Grundsituation, Breite und Tie-fe der Problembearbeitung, Strategien der Entscheidungsfindung, der Lebensdeutung und – planung), sind die Metakriterien Lifespan-Kontextualisierung (ontogenetische, historische, biografische Einbettung), Wert-Relativismus (Toleranz und gemäßigter Pluralismus) und das Erkennen und Umgehen mit den dem Leben inhärenten Ungewissheiten spezifisch für ein Expertentum in der fundamentalen Pragmatik des Lebens (vgl. Staudinger/ Baltes 1996: 61).

Fünf Kriterien definieren Weisheit als ein Expertensystem in der fundamentalen Pragmatik des Lebens

Quelle: P.B. Baltes (1994: 179): Die zwei Gesichter des Alterns der Intelligenz

Mit diesem Weisheitskonstrukt löst sich die Frage nach gleichen oder unterschiedlichen Wer-tigkeiten derjenigen Alterskompetenzen, wie sie bei Schmitz-Scherzer (s.o.) angeführt wer-den: Sind die „Bildung komplexer Urteile“ und „kontextuelles Denken“ in die Metakriterien für Expertentum in der fundamentalen Pragmatik des Lebens bei Baltes einzuordnen, so sind die Fähigkeiten zur Auseinandersetzung mit Belastungen sowie die Annahme von Grenzen in Baltes‘ Basiskriterien für Expertentum wiederzufinden. Sämtliche kulturrelevanten Alters-kompetenzen erscheinen damit als mitbestimmende Elemente bzw. als konstituierende Merkmale des Konstruktes Weisheit.

Sowohl die Basis- als auch die Metakriterien sind Ergebnis lebensgeschichtlicher Verarbei-tung von Wissens- und Erfahrungsansammlungen. P.B. Baltes nimmt deshalb an, dass es sich mit dem Phänomen der Weisheit um „den Prototyp einer Altersintelligenz“ handelt (Hervor-hebung durch Autor) und weist schließlich nach, „dass bestimmte Facetten von Weisheit messbar sind und dass Weisheit Bestandteil des latenten Potentials einer Altersintelligenz sein könnte“ (P.B. Baltes 1989: 49, 50). Zwar garantiere hohes Alter allein noch keine Weis-heit, doch ist die Weisheit zunächst dem Alter vorbehalten: „... Untersuchungen subjektiver oder impliziter Weisheitstheorien stützen die in der Literatur oft geäußerte Vermutung, Weis-heit sei ein mit hohem Alter verknüpftes positives Phänomen“.

Aus entwicklungspsychologischer Sicht, auf die die Gerontologie sich in weiten Teilen be-gründend bezieht, stellt sich eine Verknüpfung von Weisheitsentwicklung mit dem Prozess des Alterns als nahezu zwingend abhängig dar: „Aufgrund einer durchgeführten Persönlich-keitsanalyse von einigen tausend Geschäftsleuten“ bestätigt Peck (1968) seine Vermutung,

dass „sich in der zweiten Lebenshälfte ein echter Entwicklungsprozess vollzieht“ (S.531) und die Annahme, dass die meisten Menschen erst in der zweiten Lebenshälfte die notwendige Er-fahrung gewonnen haben, um voll und ganz das entfalten zu können, was wir Weisheit nen-nen“ (a.a.O.). Der Begriff der Weisheit wird bei ihm definiert als „Urteilskraft und soziale Weisheit“ und weiter beschrieben als „Fähigkeit, Wahrgenommenes mit Weitsicht zu inter-pretieren, komplexe Folgen vorherzusehen und weise Entscheidungen zu treffen“ (a.a.O.).

Diese Aspekte hält Peck für „entwicklungsbedingt im vollen Sinne des Wortes“ (S.532, Her-vorhebung durch Autor), begründet dies damit, dass sie „mehr an durchlebten Erfahrungen (erfordern), als sie in den Jahren der Jugend zur Verfügung stehen“. Ein solches Konzept der Kompetenzentwicklung von Urteilskraft und sozialer Weisheit ist Grundlage auch für ent-wicklungspsychologisch orientierte Stufentheorien, z.B. die der Entwicklungsaufgaben von Havighurst oder die des Phasenschemas von Bühler (vgl. auch 8.4.3).

Aber auch Modelle der Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit wie bei Piaget oder Kohl-berg beschreiben (wie bei der Entwicklung von Weisheitskompetenzen in Abhängigkeit von sozio-kulturellen Bedingungen) einen aufeinander aufbauenden Stufenprozess von Qualitäten des Urteilsvermögens, die mit zunehmendem Altern einen zunehmenden Anspruch und hie-rarchische Integration aufweisen: „Denken auf einer höheren Stufe schließt das Denken auf einer niederen Stufe ein“ (Kohlberg 1987: 28). Wie bei Piaget ist auch bei Kohlberg das Durchlaufen der Stufen zwangsläufig: „Individuen überspringen nie eine Stufe“ (a.a.O.). Die höchste Ebene moralischen Denk- und Urteilsvermögens (das nicht dem Handeln entsprechen muss) ist nach Kohlberg die „postkonventionelle, autonome oder prinzipiengeleitete Ebene“, die der gesellschaftskritischen Distanz als Element des Weisheitskonstruktes entspricht. Auf dieser Ebene sind die zwei höchsten Stufen, das Bewusstsein von „der Relativität persönlicher Werthaltungen und Meinungen“ und die „Orientierung an allgemeingültigen ethischen Prinzi-pien“ angesiedelt, über die das Recht definiert wird als „eine bewusste Entscheidung in Über-einstimmung mit selbstgewählten ethischen Prinzipien unter Berufung auf umfassende logi-sche Extension, Universalität und Konsistenz. Diese Prinzipien sind abstrakt und ethilogi-scher Natur“ (a.a.O. S.27). Wie die Weisheitsfaktoren der subjektiven Lebensdeutung und selbst-bestimmten Strategien der Entscheidungsfindung sind diese Qualitäten nur als Zielpunkte des Durchschreitens aller unteren Stufen zu verwirklichen, sind somit die höchste Stufe zu errei-chender Urteilsqualität. Sie benötigt den Faktor Zeit als Voraussetzung: Das zeit-bedürftige, zeit-aufwändige Durchlaufen der einzelnen Entwicklungsstufen ist so unmittelbar gekoppelt an einen Alternsprozess. Das Erreichen höchster kognitiver Entwicklungsstufen wird (abhän-gig von soziokulturellen Voraussetzungen) mit zunehmendem Alter wahrscheinlicher, ist in jungen Jahren eher unwahrscheinlich.

Zwar hat das kalendarisch höhere Alter an sich so wenig einen Erklärungswert für zu-nehmende philosophische Urteilskompetenz i.w.S. wie umgekehrt eine solche hohe Ur-teilskompetenz noch kein alleiniger Indikator für kalendarisch hohes Alter darstellt. Je-doch kann ein durchlaufener Entwicklungsprozess zu einem abstrakten (differenzierten und integrierten) Wertsystem (und damit zu einem umfassenden Urteilsvermögen) als ein Korrelat des Alternsprozesses gesehen werden: Die diese Entwicklung begünstigende subjektive historische Erfahrung ist als abhängig von höherem Alter zu bezeichnen.

8.2 Zusammenfassung

Im Konstrukt „Weisheit als Expertensystem“ (vgl. Baltes & Smith 1990, Baltes & Staudinger 1993, Staudinger & Baltes 1992) lassen sich offensichtlich sämtliche Beiträge der Wissen-schaften zu möglichen Potentialen des Alters fassen und zu einer Art „Konglomerat Alters-kompetenz“ von hoher Komplexität bündeln.

Die Voraussetzungen zur Weisheitsentwicklung sind bereits im vorwissenschaftlichen Raum als Allgemeinwissen fundiert in einer breiten Akzeptanz der Erkenntnis, dass Expertentum

sich nur aufgrund eines breiten und hohen Wissensstandes entwickeln kann – dies wird z.B.

deutlich in der Tradierung des Bibelwortes „Weisheit gibt das Leben dem, der sie hat“ (Predi-ger 7, 12). Durch die Bildungsforschung bestätigt (vgl. Abschnitt 4.3), dient diese Erkenntnis sowohl der pädagogischen als auch der gerontologischen und entwicklungspsychologischen Argumentation des Lifespan-Konzeptes: Es können sich im Alter keine Fähigkeiten entwi-ckeln, zu denen nicht grundlegende Strukturen und Qualitäten bereits vorhanden sind. Der Al-ternsprozess als (Weiter-) Entwicklungsprozess beginnt damit bereits in frühen Jahren – diese These gilt insbesondere für die Weisheitsentwicklung.

Ergänzend wird zudem auf ein Faktum hingewiesen, das sich im weiteren Verlauf der Unter-suchung von Bedeutung erweisen soll: „Eine wesentlich hemmende Bedingung wäre, wenn Erfahrungen immer direkt selbst gemacht werden müssten und nicht auch stellvertretend er-worben werden könnten“ (Baltes/ Smith 1990: 117). Lerntheoretisch ermöglichen und erleich-tern Erziehung, strukturiertes Lernen und eine gute Mentorenbetreuung den frühzeitigen Er-werb von weisheitsbezogenem Wissen, das nach Kohlberg zwar nicht lehr-, aber unter Anlei-tung (selbst-) entwickelbar ist. Dies weist hin auf die an späterer Stelle thematisierte gesell-schaftliche Aufgabe und Verantwortung der Älteren, ihren „Besitz“ zu teilen, ihre Kompe- tenz - wenn sie denn vorhanden ist - als Faktor frühzeitigen Weisheitserwerbs Wissenschaft und Gesellschaft zur Verfügung zu stellen.

Die Beiträge der Soziologie und die der Philosophie und Theologie zur Entwicklung von Al-terskompetenzen lassen sich als Korrelate oder Konsequenzen weisheitsbezogener Fähigkei-ten in der Systematik des Gesamtkonstruktes Weisheit wiederfinden:

Als sog. organisierende Prozesse werden bei Staudinger/Baltes der Lebensrückblick oder die Lebensdeutung, die Lebensplanung und die Lebensgestaltung und –bewältigung genannt. Es wird „davon ausgegangen, daß diese Prozesse einerseits vermittelt über Lernprozesse Erleb-nisse und Eindrücke ordnen, miteinander verbinden und bewerten, und daß sie andererseits mit Hilfe von Gedächtnisprozessen den Zugang zu dem weisheitsbezogenen Wissenssystem einer Person ermöglichen“ (Staudinger/Baltes 1996:66). Was hier als noch prozessual für die Weisheitsentwicklung verstanden wird, besitzt in der psychologischen Argumentation bereits den Status einer Kompetenz: Thematisierungs- und Beurteilungsfähigkeit, Diagnose- und Bi-lanzierungsfähigkeit und damit verbundene Widerstandskraft, Risikobereitschaft und Ab-schiedsfähigkeit resultierend aus der Endlichkeitseinsicht. Bleibt die Soziologie in ihrer Kom-petenz-Argumentation also noch im pragmatischen Bereich der Lebensorganisation, finden sich die Beiträge der Philosophie und Theologie bereits in den letzten Konsequenzen des Weisheitskonzeptes Staudinger/Baltes wieder: Das Erstellen eines Sinnzusammenhanges, eine Neuinterpretation, Neudeutung von Werten, eine Offenheit und Bereitschaft für neue, existen-zielle Fragen – das sind Alternsfähigkeiten, die sich im Weisheitskonzept aus den Basiskrite-rien von Fakten und Strategiewissen in grundlegenden Fragen des Lebens als Meta-KriteBasiskrite-rien ausweisen: Dazu gehört der Lifespan-Kontextualismus, als ein Wissen und Denken, das die vielfältigen, thematischen und lebenszeitlichen Bezüge einschließt, dazu gehört weiter der Wertrelativismus als Fähigkeit einer differenzierenden und relativierenden Haltung gegenüber individuellen und gesellschaftlichen Werten. Und es gehört dazu die Fähigkeit des Erkennens und der Bewältigung von Ungewissheit über die letzte Erklärbarkeit von Vergangenheit, G genwart und Zukunft.

e-Diese drei weisheitsbezogenen Meta-Kriterien nach Staudinger/Baltes zeigen eine hohe Ent-sprechung zu den Alterskompetenzen, die in der philosophisch-theologischen Argumentation deutlich werden. Sie weisen über eine zweckgerichtete Ebene hinaus und stellen eine letzte Sublimierung von operationalisierbaren Weisheitsqualitäten dar. Als „Weisheitsparadigma“

sind hierin Ansätze und Ergebnisse aller anderen, mit diesem Thema befassten, wissenschaft-lichen Disziplinen integriert: „Weisheit als höchstes Wissen und höchste Urteilsfähigkeit in der fundamentalen Pragmatik des Lebens“ (Staudinger/ Baltes 1996: 59).

Als Schlussfolgerungen ergeben sich hieraus folgende Forschungs-Desiderat-Bereiche:

- Die Qualitäten der einzelnen entwickelten Weisheitskompetenzen lassen nicht nur ein mögliches individuell zufriedenstellendes, erfolgreiches Altern vermuten, son-dern bieten einen interindividuell und gesellschaftlich bedeutsamen Diskursbeitrag.

Sie sind damit von hoher kultureller Relevanz.

- Kulturell relevante Weisheitskompetenzen werden bevorzugt im Alter entwickelt.

- Ältere und alte Menschen sind so Kompetenzträger zu wesentlichen, zukunftsfähigen Beiträgen an einem gesellschaftlichen Diskurs.

- Die kulturellen Kompetenzen älterer Menschen wurden gesellschaftlich bisher nicht wirksam.

- Die kulturellen Kompetenzen älterer Menschen können nur in der Wahrnehmung generativer Verantwortung (Kompetenzvermittlung) und im intergenerativen Dis-kurs (Kompetenzentwicklung) genutzt werden.

Diese spezifischen Kerngedanken werden im Folgenden untersucht.

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