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Alterskultur als gerontosoziologischer und kulturgerontologischer Begriff

9 Bestimmung der kulturellen Relevanz von Alterspotentialen

10.1 Zum Begriff der Alterskultur

10.1.2 Alterskultur als gerontosoziologischer und kulturgerontologischer Begriff

Wie die Kulturarbeit verwendet auch die Soziogerontologie den Begriff der Alterskultur als quasi „selbst-verständlich“, ohne vorhandene ausdrückliche Definition. Auch die Kulturge-rontologie als „die Wissenschaft, die sich mit der Geschichte des Alters und seinen kulturellen Codierungen befasst“ (Bachmaier 2001: 1) gibt eine Näherung an den Begriff nur über eine wenig informative Zweckvorstellung: eine immanente und wünschenswerte Möglichkeit wäre heute eine positive Belegung des Begriffes. In seiner „kulturellen Perspektive kommen beson-ders die Vorzüge und Chancen des Alters zum Vorschein“ (a.a.O.). Geschichtlich wird in der Kultursoziologie die Alterskultur unter extrem differierenden Sichtweisen (von der ehrfürchti-gen Hochachtung bis zur tiefsten Verachtung; vgl. dazu auch Abschnitt 5) dargestellt – ist al-so ein zeit- und gesellschaftsbezogener, ein kontextabhängiger Wertungsbegriff. Über die Re-konstruktion kultureller Codierungen (vor allem solcher der Literatur) versucht die Kulturge-rontologie unter den Aspekten der Selbst- und Fremdwahrnehmung des Alters und der diffe-renten Handlungsweisen im Alter die jeweiligen, zum Teil höchst unterschiedlichen und ge-gensätzlichen geschichtlichen Alterskultur-Vorstellungen aus dem gesellschaftlichen Zusam-menhang abzuleiten. Bachmaier gibt in seiner Homepage-Darstellung der Universität Kon-stanz in einem Statement „Kulturgerontologie: Das Alter im Vergleich“ den entscheidenden Hinweis zu einem Verständnis des Begriffes Alterskultur: „... die großen Altersfiguren wie Don Quichotte, Nathan der Weise, Faust, Peer Gynt, Stechlin oder die ‚unwürdige Greisin‘

von Brecht: Aus solchen Darstellungen gewinnen wir vertiefte Einsichten in das Alter und po-sitive Ansätze für eine neue Alterskultur“ (Bachmaier 2001: 2, Hervorhebung durch M.K.).

Aus dem letzten Teil der Aussage wird ersichtlich, dass die Vorstellung einer Alterskultur überholt, und so keine oder keine moderne (sondern nur historische) vorhanden, damit eine neue erforderlich sei. Es muss also – nach Aussage der Kulturgerontologie – eine moderne Alterskultur erst einmal konstituiert werden, und zwar unter der kulturellen Perspektive, dass

„die Vorzüge und Chancen des Alters zum Vorschein kommen“ (a.a.O.).

Das altenpolitisch ausgerichtete Schweizer Zentrum für Persönlichkeitsentwicklung und Ge-nerationsfragen „Tertianum“ schließt an diese Überlegung mit ihrem Programm ihre Philoso-phie geradezu nahtlos an: „Die Entwicklung einer neuen Alterskultur ist für unsere Gesell-schaft dringend erforderlich. Daran sollen alle kreativen Kräfte mitwirken“ (Tertianum 2000:

1).

Die Argumentation einer erst noch zu entwickelnden Alterskultur findet von der soziogeron-tologischen Seite volle Unterstützung – so spricht Baltes zwar etwas vorsichtiger, dennoch unmissverständlich von einer „fehlenden Reife einer Kultur des Alters“ (Baltes 1989: 59).

Dies wird drei Jahre später bestätigt bei Baltes & Baltes mit der Feststellung, „dass es noch keine differenzierte, hochentwickelte ‚Kultur‘ des Alters geben kann; eine Alterskultur, die so angelegt wäre, daß sie das qualitativ Bestmögliche aus dieser Lebensphase macht“ (Baltes/

Baltes 1992: 3). In diesem Optimierungsgedanke von Situation, Status und Funktion des Al-ters als Sinn und Zweck einer zu konstituierenden AlAl-terskultur findet sich der gemeinsame Ansatz mit der Kulturgerontologie. Ebenso werden in beiden Wissenschaften die Gründe zur mangelhaft entwickelten Alterskultur nicht in den Alten selbst gesehen, sondern hauptsächlich von Außen erwartet und vermisst: Eine der wesentlichen Fragen der Gerontologie ist, „in-wieweit die Gesellschaft eine angemessene Kultur des Alters anbietet“ (a.a.O. S.2). Damit bestätigt das Forscherpaar die ehemalige Überzeugung P.B. Baltes einer von außen entwickel-ten und gesteuerentwickel-ten Alterskultur: „Es bedarf eines langen Marsches im Sinn eines gesell-schaftlichen Kultivierungs- und Bildungsprozesses, bevor man von einer differenzierten Kul-tur des Alters ... sprechen kann“ (Baltes 1989: 59). Erst als Folge wird sich dann abzeichnen

können, was bei anderen Autoren (s.u.) als wesentliche Voraussetzung zur Entwicklung einer Alterskultur angesehen wird: Die „Entwicklungsreserven älterer Menschen“, die „Optimie-rung latenter Potentiale“ können nach Baltes und Baltes/Baltes nur dann wirksam werden, wenn die Kultur der Umgebung des Alters so weit entwickelt ist, eine solche beim Alter auch zu erkennen, anzunehmen und zu würdigen. Wenn Baltes in seinem Aufsatz wenige Seiten zuvor vermutet: „Eine Kultur des Alters kann also ... darauf beruhen, daß bestimmte Wissens-bereiche dem Alter vorbehalten sind – wie etwa die Weisheit“ (Baltes 1989: 54), so ist dies kein Widerspruch (etwa in der Hinsicht, dass aufgrund ihrer Potentiale die Alten nun auch ihre eigene Alterskultur entwickeln könnten), sondern eine Bestätigung: Die Voraussetzungen einer Alterskultur könnten – bei den Alten – wohl gegeben sein, ob sich allerdings eine Al-terskultur tatsächlich entwickelt, ist zum anderen ebenso sehr abhängig von der Wahrneh-mung (dieser Alterskompetenz) durch die Gesellschaft (vgl. dazu Abschnitt 5.4). Die festge-stellte „fehlende Alterskultur“ beruht also nicht auf einer Fehlhaltung der Alten (ihnen fehle eine eigene Kultur), sondern auf einer Fehlhaltung der Umgebung. Mit solch einem Verständ-nis von Alterskultur entsprechen Baltes, entsprechen Baltes/Baltes dem eingangs angeführten Verständnis der Kulturgerontologie und der Philosophie des Schweizer Altenzentrums „Terti-anum“: Es sei, nach Baltes, wesentlich die Umgebung, die eine Alterskultur entwickelt und zu entwickeln habe, damit die Alterspotentiale wirksam werden können.

Diese so als einheitlich zu bezeichnende Einstellung setzt sich deutlich ab gegenüber einer Position, wie sie etwa von Kolland, Rosenmayr und auch Borscheid eingenommen wird. Hier wird vertreten, dass es die Gruppe der Alten selbst ist, die in der Lage sein muss, ihre eigene Kultur, die Alterskultur, zu prägen und offensiv in die Gesellschaft hineinzutragen. „Alters-kultur ... zielt auf selbstbestimmtes Verhalten der älteren Generation und ihre verstärkte An-erkennung in der Gesellschaft“ beschreiben Kolland/ Rosenmayr im Seniorenbericht 1999 (Österreich) die Forderung an eine Altenkultur unter dem Titel: „Wo bleibt die Altenkultur?“.

Bei ihnen zeigt sich die Relation von Altenkultur zur Gesellschaft anders akzentuiert als bei Baltes und Bachmaier beschrieben: Die Alten selber konstituieren ihre Alterskultur und festi-gen damit ihren Platz in der Gesellschaft. Noch eindringlicher beschreibt Rosenmayr den Ein-fluss einer selbstbewussten Kultur der Alten, die er als „kulturelle Selbstrepräsentation“ be-zeichnet, auf die Situation der Alten in der Gesellschaft: „Ich halte diese kulturelle Selbstre-präsentation ... für eine Schlüssel-Voraussetzung im Prozeß des einsetzenden bzw. prinzipiell möglichen Bewertungswandels des Alters in den hochentwickelten wie auch in den Entwick-lungsgesellschaften“ (Rosenmayr 1997: 15). Auch Borscheid tritt einer Auffassung heftig entgegen, dass eine „altersspezifische Kultur“ abhängig von der Umgebung sei – seiner An-sicht nach könne sich der alte Mensch heute frei und selbstbestimmt, unbehelligt von gesell-schaftlichen Zwängen, selbst verwirklichen und eine spezifische Alterskultur entwickeln: „Es existieren heute ausgesprochen generationsspezifische Kulturen ... Mit ihnen können die alten Menschen weitgehend das alte Zwangskorsett der Normen und Sitten abstreifen... Wie sich der alte Mensch heute kleidet, mit wem er zusammenlebt und was er mit seinem Vermögen anstellt, kümmert kaum noch jemanden“ (Borscheid 1998:19).

In der vorliegenden Arbeit wird nicht die These vertreten der Existenz einer Potenz des alten Menschen, seine eigene Kultur unabhängig von zu- und vorschreibenden Zwängen der Um-gebung zu entwickeln. Es wird aber auch nicht die These vertreten, allein die Gesellschaft, die Umgebung habe die Möglichkeit, eine Kultur für bestimmte Gesellschaftssegmente (hier: die Alten) zu konstituieren. Es wird hier eine These vertreten, die konsequenterweise aus der be-reits beschriebenen Konstituierung des Altersbildes (Abschnitt 5.5) abgeleitet wird: Wie sich mögliche Alterspotentiale kulturell repräsentieren, letztlich so als Alterskultur darstel-len, ist - unabhängig von ihrer graduellen individuellen Ausprägung - in enger Abhän-gigkeit von einer gesellschaftlichen Bewertung zu sehen: Abhängig davon, welche Al-terskultur-Vorstellung, welche Wertschätzungen bestimmter Alterspotentiale zu einer

bestimmten Zeit gesellschaftlich als „relevant“, als wichtig und erwünscht bzw. unwich-tig oder unerwünscht gelten, entwickeln sich Elemente kultureller Selbstrepräsentation zu einem Gesamtbild Alterskultur. Nur in dieser dialektischen Perspektive scheint m.E.

eine Konstituierung von Alterskultur sinnvoll denkbar und sind die im Laufe der Ge-schichte sich widersprüchlich entwickelten Alterskulturen erklärbar. Was jeweils histo-risch-gesellschaftlich unter Alterskultur verstanden wird, wird nicht nur von den Alten allein diktiert (diese müssten sonst über die verschiedenen Epochen eine solidarisch po-sitive Struktur aufweisen), sondern entsteht in einer gesamtgesellschaftlichen Diskussi-on. Nur so ist auch erklärbar, wieso gerade in den letzten Jahren der Ruf nach einer

„positiven“ Alterskultur, die „die Vorzüge und Chancen des Alters zum Vorschein kommen lassen“ (s.o.), unüberhörbar laut geworden ist: Gesellschaftliche Macht- und Verteilungskämpfe zwischen (zahlreichen) Alten und (wenigen) Jungen um knapper werdende Ressourcen stellen deutliche kulturelle Entwicklungsfragen, erfordern die Entwicklung einer „neuen Alterskultur“ von der Gesellschaft, und finden Ausdruck in einer „sorgenvollen Diskussion um eine neue Kultur des Dritten Lebensalters“ (Backes 1998: 32).

Obwohl die wissenschaftlichen Positionen um die Ontogenese einer Alterskultur sich gegen-wärtig widersprüchlich darstellen (s.o.), wird einer Definition oder wenigstens einer Erläute-rung des Sprachgebrauchs ausgewichen: Es erfolgt eine KläErläute-rung nur über NäheErläute-rung - so wird in der gerontologischen Literatur auf die Parallele zur Jugendkultur Bezug genommen, bekla-gend, dass es etwas Vergleichbares für das Alter (noch) nicht gäbe.

„Es gibt eine Jugendkultur ... – aber wo bleibt die Alterskultur?“ lautet eine herausfordernde Frage (Kolland/Rosenmayr 2001:1) und Mader stellt fest: „Diese Bedingungen des Alters werden verschärft dadurch, daß es keinen etwa der Jugendkultur vergleichbaren kulturellen Kontext für alte Menschen gibt, der ihnen im Alter Orientierung und Struktur bieten könnte“

(Mader 1994: 95, 96). Wie eingangs zu diesem Kapitel bereits erwähnt, existiert weder der Begriff der Alters- noch der der Jugendkultur im lexikalischen Sinne. Es wird also stets ein Begriff über einen anderen, ebenso wenig definierten, gespiegelt. Zwar könnte man, wie in der zitierten Literatur unausgesprochen vorausgesetzt, einfach akzeptieren, als „Einigung“, als sprachliche Regelung oder Konvention annehmen, dass der Begriff einer bestimmten Genera-tionen-„Kultur“ spezifiziert und angewendet wird auf bestimmte Alterssegmente der Gesell-schaft, die offensichtlich eine eigene (spezifische) Kultur entwickeln (sollen), und zwar in ih-rer bestimmten Altersgruppe eine jeweils einheitliche, gemeinsame, solidarische. Tatsächlich wird (s.o.) in aller Selbstverständlichkeit von „der“ Jugendkultur gesprochen wie von „der“

(zu entwickelnden) Kultur der Alten. Doch wurde bereits in Abschnitt 3.3 einführend auf die unendliche Breite unterschiedlicher und sich gegeneinander abgrenzender Jugendkulturen hingewiesen, zwischen denen z.T. „Galaxien“ (Farin) liegen. Inzwischen wurden „allein in Deutschland über vierhundert existierende Jugendkulturen aufgespürt“, stellt das Berliner Archiv der Jugendkulturen e.V. fest (Farin 1998: 10). Umso mehr wird die Erwartung, ja Forderung zur Entwicklung einer neuen Alterskultur – gleichgültig, ob sie sich an die betreffende Gruppe der Alten selbst oder an die Umgebung richtet – suspekt und zwei-felhaft, wenn sie als Argument „die“ (angeblich existierende, eine) Jugendkultur be-müht. Differenziert durchdacht und engagiert spiegelt sich das Unbehagen einer solch simpli-fizierenden und unzulässig verallgemeinernden Kategorisierung in der Stellungnahme eines zweiundzwanzigjährigen Interview-Teilnehmers:

„Der Begriff einer Alterskultur scheint mir im übrigen recht schwammig zu sein. Kulturelle Merkmale vom Alter abhängig zu machen bedeutet, Menschen nur aufgrund einer Eigen-schaft, nämlich der ihres Alters zu kategorisieren. Das schwächelt im Ansatz meiner Ansicht nach genauso, wie eine Jugendkultur ausmachen zu wollen, Stichwort „Generation X“ oder

„Generation Golf“. Natürlich sind die Menschen einer Altersgruppe durch bestimmte äußere Gegebenheiten in gewisser Weise gemeinsam sozialisiert. Doch nur, weil in meiner Generati-on die meisten mit MTV und H&M aufgewachsen sind, vereint uns das noch lange nicht zu einer gemeinsamen Kultur. Was hab ich mit denen zu tun, die auf Loveparaden und ähnlichen Veranstaltungen rumhopsen, die ja sicher in der allgemeinen Meinung bezeichnend sein sol-len für die Jugendkultur? Oder man faßt den Begriff einer gemeinsamen Kultur so weit, daß er nichts mehr sagt und einem auch nicht weiterhilft“ (Pb 8j).

Der 22-Jährige erkennt, dass es einen allgemein verbindlichen, gar noch altersgebundenen Kulturbegriff in einer pluralistischen Gesellschaft der Moderne nicht mehr geben kann, we-der für ein Gesellschaftssegment we-der Jugendlichen, noch für eines we-der Alten. Es existieren vielmehr in jeder Altersgruppierung unterschiedliche, differenzierte, widersprüchliche „Kul-turverständnisse“ (Kulturpolitische Gesellschaft 1996/ IV). So wie inzwischen (s.o.) über vierhundert Jugendkulturen bekannt sind, gibt es oder entwickelt sich nicht eine Einheits-Al-terskultur, sondern viele unterschiedliche Alterskulturen. Die Erkenntnis und Akzeptanz einer Existenz vieler nebeneinander bestehenden Alterskulturen könnten Kolland/Rosenmayr u.a.

einer Sorge entheben, die sie im bereits zitierten Altenbericht darstellen: „Das Entstehen einer Alterskultur wird durch Schwierigkeiten gebremst: Mit Ausnahmen kleiner Gruppen und Verbände kann von einer Altenbewegung ... nicht die Rede sein.“ Der Grund für diese

„Schwierigkeit“: „Die Gruppe der älteren Menschen ist sehr inhomogen. Individuelle Unter-schiede nehmen mit dem Alter zu und verfestigen sich“ (Kolland/Rosenmayr 1999: 2). Diese als „Schwierigkeiten“ bezeichneten Inhomogenitäten und individuellen Unterschiede wären keine solchen, wenn man als erstrebenswerte Konstituierung nicht eine allgemeine, für alle geltende Alterskultur postuliert, sondern eine Vielfalt von Alterskulturen. Dann wäre die fort-schreitende Individualisierung kein beklagenswerter Bremsfaktor, sondern wäre akzeptierte oder erwünschte Voraussetzung zur Entwicklung einer breiten Landschaft von Alterskulturen voller Options- und Entscheidungsmöglichkeiten.

Um sich allerdings für eine solche positive Sicht einer Vielfalt von Alterskulturen zu öffnen,

„ist es wesentlich, den historischen Stand gesellschaftlicher Individualisierung erstens zu er-kennen und zweitens anzuerer-kennen“ (Beck 1998: 392). Entgegen einem von kulturgerontolo-gischer und gerontosoziolokulturgerontolo-gischer Seite erwünschten und als notwendig erachteten gesell-schaftlichen Harmoniegedankens gilt es zu akzeptieren, „daß Demokratien in ihrer Tiefen-struktur Gesellschaften des Konfliktes sind, des ‚gehegten Konflikts‘ ...; nicht Konsens ist ih-re Grundlage, sondern die Inszenierung von Dissens“ (a.a.O.).

Damit wäre ein Ende der häufig erträumten solidarischen Gemeinsamkeit angesagt, die sich durch äußerliche Attribute wie die der Geburtenjahrgänge begründet, dies gilt für Alte ebenso wie für Junge. „Was habe ich mit denen zu tun, die auf Loveparaden herumhopsen?“ distan-zierte sich der junge Proband 8j (s.o.) von seinen Alters-„Genossen“ und weist ganz entschie-den darauf hin, dass ein gemeinsames Aufwachsen in einer bestimmten Zeit „noch lange nicht zu einer gemeinsamen Kultur“ vereint. Und Kolland stellt in einer Untersuchung über die Kulturstile älterer Menschen genau diesen Distanzierungsprozess auch bei älteren Menschen fest (wenngleich er die – oben kritisierte – „Folgerung“ daraus zieht, dass solche Distanzie-rungen abzubauen und SolidarisieDistanzie-rungen zugunsten einer gemeinsamen Alterskultur zu för-dern seien): „Zusammengefaßt läßt sich sagen, daß die Älteren zwar ein eigenes Selbstbild entwickeln, und Haltungen aufweisen,..., aber es sind keine Haltungen, die auf eine Subkul-turbildung hindeuten. Die Aussagen deuten eher auf ein defensives Selbstbild hin..., auf Ein-stellungen, die stärker auf Privatismus schließen lassen als auf eine Altenkultur im Sinne einer gruppenmäßig getragenen Gegenkultur“ (Kolland 1996:199).

Doch: Eine Integration der Individualität (bei Kolland noch „Privatismus“) in ein homo-genes Alterskollektiv scheint sowohl für die Jungen wie für die „neuen“ Alten der

Mo-derne nicht mehr erstrebenswert. Nicht die Konstituierung einer einheitlichen (gemein-samen, integrativen) (Jugend- und) Alterskultur, sondern vieler nebeneinander beste-hender unterschiedlicher (Jugend- und) Alterskulturen wäre das Ziel: Ablehnungen, Abgrenzungen, Kritik, „Dissens und Konflikt“ sind nach Beck die besten Vorausset-zungen, dass eine Gesellschaft kulturell von „Vielstimmigkeit durchzogen“ (1998: 398) wird.

So ist die Pluralität der Alterskulturen wie die Pluralität der Jugendkulturen, wie die Pluralität der Gesellschaft insgesamt, nicht nur eine Tatsache, sondern auch Gegenstand der (kritischen) Würdigung und sogar Ziel kultur- und bildungspolitischen wie –praktischen Handelns. Daraus leitet sich Ziel und Aufgabe ab, Alte mögen ihre eigen-willigen, neuen, anderen Schwerpunk-te und Sichtweisen gegeneinander setzen, um mit dem spezifischen, dem AlSchwerpunk-ter eigenen und besonderen Potential zu einer gesellschaftlichen und kulturellen Vielstimmigkeit beizutragen.

Eine solche Aufgabe des Alters akzeptieren die Jüngeren offensichtlich aufgrund ihres eige-nen modereige-nen Selbstverständnisses eher und selbstverständlicher als die Älteren. Nicht nur in den erstaunlich diskrepanten Sichtweisen zwischen der älteren und der jüngeren Interview-gruppe hinsichtlich einer Beratungsfähigkeit (vgl. Abschnitt 8.4.2.3) kommt dies zum Aus-druck, sondern auch in einer klaren Formulierung des jungen Probanden 4j: „Es braucht ‚Al-terskultur‘ als ... Gegenpol zur ... ‚Jugendkultur‘ – auch als Spannungsfeld, in dem gesell-schaftliche Weiterentwicklung stattfinden kann“. Anführungszeichen („Alterskultur“, „Ju-gendkultur“) signalisieren eine Distanz zu Vorstellungen von Einheitskulturen und entspre-chen konsequenterweise der geäußerten Überzeugung, dass positive gesellschaftliche Ent-wicklung nur im Diskurs, im Disput, in der Kontroverse, in „Spannungsfeldern“ stattfinden kann. Als „Kinder der Moderne“ (Beck) haben die Jüngeren offensichtlich bereits eher die Demokratie als Konfliktkultur angenommen, haben als selbstverständlich verinnerlicht, was in der (vorwiegend von älteren Forschern getragenen) Gerontologie noch der Überzeugungs-arbeit bedarf – die Erfahrung, dass „viele Konzepte und Rezepte der ersten Moderne untaug-lich geworden sind“ (Beck 1998: 11). Denn es ist eben nicht so, wie im Altenbericht be-schrieben: “Alterskultur besteht dabei aus verhaltensrelevanten Vorgaben von Werten, Nor-men und Symbolen“ (Kolland/ Rosenmayr 1999: 2). Ein noch so verständlicher Wunsch nach gesellschaftlicher Integration und Anerkennung des Alters kann in der demokratischen Mo-derne nicht mehr durch „Vorgaben“ und schon gar nicht durch vorgegebene Werte und Nor-men erfüllt werden (vgl. Abschnitt 8.4.2.3), stünde auch im – eigenen – Widerspruch zur an-schließend geäußerten Zielvorstellung eines „selbstbestimmten Verhaltens der älteren Genera-tion“ (a.a.O.). Hinter der Wunschvorstellung einer einheitlichen Gemeinsamkeit steht sicher-lich die Furcht vor „Atomisierung“ (Beck) in lauter Individuen, so dass letztsicher-lich gar nicht mehr von einer „Gesellschaft“ die Rede sein kann. Dass jedoch außerhalb einer oktroyierten, von außen bestimmten „Gemeinsamkeit“ auch eine über Individuen selbst gewählte, organi-sierte und konkretiorgani-sierte Gemeinsamkeit möglich ist, dass Sinnstiftung und Vernetzung ge-sellschaftlicher Zusammenhänge durch den Einzelnen erfolgen, scheint für Ältere, auch ältere Wissenschaftler (s.o.: Rosenmayr/Kolland), gelegentlich noch nicht ganz realisiert (bzw. ak-zeptiert) worden zu sein. „Viele können sich gar nicht vorstellen, daß jenseits von Religion, Blutopfer und Erwerbsarbeit noch realistische Quellen zu finden und zu erschließen sind, aus denen Netze sozialer Wahlgemeinsamkeiten geknüpft werden können“ (Beck 1998: 391).

Dennoch scheinen, gerade im Alter eher als in der Jugend, verhaltensrelevante Gemeinsam-keiten zu bestehen, die zwar gesellschaftlich mitgedacht werden, die dennoch nicht allein mit dem möglichen Hinweis auf „Konvention“ zu erklären sind: So wäre es zwar nicht gerade un-vorstellbar, aber doch überraschend und befremdend, wenn etwa eine Gruppe von Senioren sich auf Dr. Mottes Loveparade in Berlin durch gleiche Zeichenäußerungen wie die Jungen darstellen würde – man würde sich also die Hemden vom Leibe reißen, es würden ältere

ent-blößte Damen jubelnd auf den Schultern älterer Männer reiten, man würde sich erfrischen, in-dem man sich Dosen-Cola und Bier über den Kopf gösse... usw..

Es gibt also, und dies bestätigt sich in den Ergebnissen der Forschung um Alterspotentiale, sehr wohl spezifische, dem Erfahrungszuwachs oder –mangel entsprechende eigene Ver-haltensdispositionen, die einerseits zu ähnlichen altersentsprechenden Verhaltensäuße-rungen führen können, andererseits sich aber auch (und dies ist im Rahmen dieser Ar-beit interessant) in besonderen Haltungen äußern. Diese Haltungen lassen sich festma-chen an einer Breite unterschiedlicher, nicht ein-deutiger, nicht gebundener, interpreta-tionsfähiger Zeichen, die individuell und selbstbestimmt gewählt, gewichtet und ver-wendet werden. In diesen äußerlichen und somit wahrnehmbaren Symbolen können sich subjektiv „verwirklichte“, individuelle Überzeugungen und Haltungen verdeutli-chen.

Über sie können durch Identifikationen eine Solidarisation und Integration von Einzel-nen erfolgen in Gruppen, in deEinzel-nen über ähnliche oder gleiche Symbole verwandte Ein-stellungen und Haltungen signalisiert werden.

Kulturelle Symbole können (folgernd aus Abschnitt 8), allerdings jenseits eines „Objektivi-tätsanspruches“ wie etwa bei Kolland/Rosenmayr, als kulturelle Selbstäußerungen - subjektiv gewählte und beanspruchte Äußerungen verstanden werden. Sie zeigen sich als umso diffe-renzierter und distinguierter, je stärker sie aufgrund hoch entwickelter Alterskompetenzen se-lektiert und bestimmt wurden. Ihre gesellschaftliche Relevanz ist umso höher, je differenzier-ter und distinguierdifferenzier-ter sie sich entwickelt zeigen.

Was bei Kolland als „Symbole“ kultureller Selbstdarstellung bezeichnet wird, entspricht der

„kulturellen Selbstrepräsentation“ bei Bachmaier, den „kulturellen Zeichen“ oder „Mustern“

bei Schulze, den „strukturellen Stil- und Stilisierungselementen“ bei Heinrichs/Klein. Es sind dies allesamt Bezeichnungen kultureller Kodierungen einer individuellen, kulturellen

bei Schulze, den „strukturellen Stil- und Stilisierungselementen“ bei Heinrichs/Klein. Es sind dies allesamt Bezeichnungen kultureller Kodierungen einer individuellen, kulturellen

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