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9 Bestimmung der kulturellen Relevanz von Alterspotentialen

9.3 Die Möglichkeit zu wertrelativierendem Denken

Die Kompetenz des wertrelativierenden Denkens und Urteilens birgt eine der in der Alterns-forschung vermuteten kulturell wichtigsten Möglichkeiten.

Zehn Jahre nach dem Mauerfall eröffnete sich der gesamte Problemaufriss einer engen Ver-knüpfung kultureller gesellschaftlicher Selbstdefinition und der möglichen und notwendigen Kompetenzen zur Selbstreflexion in Form wertrelativierenden (und das heißt auch: autonome moralische Urteilskraft freisetzenden) Denkens – dies soll an einem aktuellen Beispiel sozial- und kulturpolitischer Problematik verdeutlicht werden:

In der öffentlichen, medienumfassenden Diskussion über die zunehmende Radikalität rechts-extremer Jugendlicher im Osten spiegelte sich deutlich die kulturelle gesellschaftliche Rele-vanz der Fähigkeit zu wertrelativierendendem Denken als Mangel und Bedarf: „Generation Totschlag“ titelte „Die Woche“ aufrüttelnd und damit eine besorgte Beruhigungsstrategie der Bundesregierung kritisierend. „Es ist gewiss eine Minderheit der ostdeutschen Jugend“, schreibt die Wochenzeitung, „doch ihre emotionale Verwahrlosung verweist dramatisch auf die Defizite eines ehedem autoritären Erziehungssystems“ („Die Woche“ 2001 Nr.7:1). Nicht ganz klar, ob die Defizite im jetzigen System als Resultat aus dem „ehedem autoritären“ oder im „ehedem autoritären Erziehungssystem“ selbst liegen, wird diese – beliebige –

Schuldzu-weisung untermauert durch die Bestärkung der scheinbar moderaten Äußerung des Bundesin-nenministers Otto Schily in einem Interview wenige Seiten weiter: „Es stellt sich in der Tat die Frage, woran sich diese jungen Leute orientieren, welche Werte ihnen vermittelt worden sind“ (a.a.O. S.5). Was diese Aussage impliziert: Hätte das (jetzige oder ehedem autoritäre) Erziehungssystem keine Defizite aufgewiesen, d.h. hätte man „diesen jungen Leuten“ nur die richtige Orientierung, die richtigen Werte vermittelt, dann gäbe es das Problem der zuneh-menden fremdenfeindlichen Gewaltdelikte nicht. So funktionalistisch simpel das erscheinen mag, wird damit eine pädagogische Überzeugung bestätigt, die von vielen Erziehern getragen und (s.o.) als akzeptiertes Allgemeingut von durchaus verantwortungsvoll sich verstehenden Journalismus‘ publiziert wird: „Der ... Mensch braucht eine Struktur in seinem Leben. Er braucht eine Orientierung, eine Ordnung“ (Oberste-Lehn 1992: 42).

In einem solchen sicheren, scheinbar unanzweifelbaren („der Mensch braucht“) Statement sind gleich drei Problemfelder der Form, des Inhalts und der Richtung zu erkennen und von-einander abzugrenzen:

Zuerst wäre zu nennen die Unachtsamkeit oder auch strategische Absicht des Umgangs mit Begriffen wie „Struktur“, „Orientierung“, „Ordnung“, die leicht und schnell eine allgemeine Zustimmung hervorrufen, da sie in ihrer Offenheit, ihrer Leere je nach politischen, gesell-schaftlichen, religiösen Einstellungen, sogar abhängig von momentanen Gefühlslagen, jeder-zeit mit beliebigen Inhalten zu füllen, auf vielerlei Ideologien übertragbar und auf eine unend-liche Breite von unterschiedunend-lichen Sachverhalten anwendbar sind. Es gibt keine Ansatzpunkte zur Auseinandersetzung, zum Widerspruch. Das scheint die allein verbleibende Akzeptanz zu entwerten. Aber leer heißt nicht auch schon funktionslos (vgl. Topitsch). Leerformeln bezwe-cken und verdebezwe-cken die Legitimation dessen, was die jeweils Definitionsmächtigen für wün-schenswert und (im eigenen Interesse) für nützlich halten.

Inhaltlich wird mit einer solchen Aussage, in gleicher Weise wie mit den Thesen von einer defizitären Erziehung, einer emotionalen Verwahrlosung und der Frage, welche Werte vermit-telt worden seien, unterstellt, dass man den ostdeutschen Jugendlichen eben nicht gegeben ha-be, was „der Mensch braucht“: Man hat ihnen keine oder die falschen Werte vermittelt, und so den Rechtsextremismus hervorgerufen. Aus seiner Untersuchung über Lebenssituation und Delinquenz bei ostdeutschen Jugendlichen schreibt Sturzbecher hingegen zusammenfassend über die Wertvorstellungen besagter Jugendlicher: „Ausländerfeindliche Jugendliche sind he-donistisch eingestellt, und träumen von einem geruhsamen, materiell abgesicherten Leben, in dem sich wenig Neues ereignet, gleichzeitig sind sie mit sich selbst zufrieden, fatalistisch und risikoscheu“ (Sturzbecher 2001: 32). Haltungen also, die durchaus nicht als radikalitätsgene-rierend verdächtigt werden können, eher dürften sie der Entwicklungsförderung einer be-schaulich-bürgerlichen Lebenslaufbahn verdächtigt werden. Zumindest dürfen sie einer ge-mäßigten bis unpolitischen Einstellung eher zuzuordnen sein als einer radikalisierten. Auch die Ergebnisse der 13. Shell-Studie „Jugend 2000“ lassen aufgrund der Wertvorstellung „Ori-entierung an der Familie ... als Ort von Verlässlichkeit, Treue, Häuslichkeit und Partner-schaft“ (Dt. Shell 2000: 11) eine gutbürgerliche wohlsituierte Jugend vermuten, denn diese Begriffe bezeichnen traditionelle Werte, deren Vermittlung „Erfolg versprechend“ im Sinne eines zu erwartenden Ergebnisses von demokratiefähigen, aggressionsarmen Jungendlichen sein dürfte. Eine Annahme, die den Wissenschaftler veranlassen mag zur skeptischen „Frage, aus welchen Theorien welche Annahmen über ‚Wirkungen‘ welcher Werterziehung prognos-tiziert werden können?“ (Heid 1994: 8). Tatsächlich sind die „Theorien“ solche des sog. „ge-sunden Menschenverstandes“: Man müsse dem jungen Menschen Orientierung in Form von

„richtigen“ Werten vermitteln, dann wird er in der Folge „wert-voll“.

Junge Rechtsradikale sind allerdings oft nicht nur „voll“ der o.g. „richtigen“ (d.h. gesell-schaftlich akzeptierten) Werte, sondern sie sind auch „voll“ der „falschen“ Werte, aufgrund derer sie von anderen als „Rechtsradikale“ definiert und bewertet werden. Sie selbst allerdings kämpfen mit größtem enthemmten Engagement für die Anerkennung und Durchsetzung ihrer

„richtigen“ Werte. In ihrer Gruppe, auch in ihrem Denksystem sind diese Werte die wahren und nicht die falschen. Es handelt sich also um die gleichen Wertbegriffe und vielleicht auch die gleichen Werte, die für richtig und nicht richtig, für wahr und falsch gehalten werden (können). Denn es gibt eben auch die Ordnung, die Disziplin, die Perfektion der Praxis „des Bösen“: „Und auch für kriminelles und deviantes Handeln gibt es ein ‚Null-Fehler-Ideal“

(Heid 2000: 45).

Damit eröffnet sich ein weiteres Problemfeld der Richtung, der Dienlichkeit von Wertschät-zungen: Denn die „Erkenntnis“ allein, dass gleiche Werte „richtig“ oder „falsch“, „wahr“ oder

„unwahr“ sein können, ist noch nicht bereits ein Akt wert-relativierenden Denkens. So sind oder waren rassistische Werte und Wertungen, unabhängig davon, ob und von wem sie als

„richtig“ oder „falsch“ bewertet werden, in rechtsradikalen Klein- oder Großsystemen immer absolut gültig. Sie gelten aber nicht, wieder unabhängig von ihrer Wahr- oder Falschheit, in verfassungsrechtlich abgesicherten demokratischen Systemen. „Wertungen und Werte können nicht wahr oder falsch sein, sie können nur gelten oder nicht gelten“ (Heid 1994:15). Hieraus folgernd kann es also eine Werte-Relativierung gar nicht geben, sondern nur eine Relativie-rung der Wertsetzung oder entsprechend der Wertgeltung: Die Rahmenbedingungen (Zeit, Ort, Situation, Akteure) von Wertsetzungen und Wertgeltungen werden entsprechend der bei-den Komponenten einer Wertung, nämlich der deskriptiven und präskriptiven Funktion, je nach Urteilskraft und Interesse des Subjektes jeweils anders interpretiert und gewichtet. So definieren Staudinger/ Baltes auch den Begriff des Werterelativismus deutlich nicht als eine Relativierung der Werte „an sich“, sondern als Relativierung von Haltungen gegenüber Wer-ten: „Der Wertrelativismus ... bezieht sich auf das Anerkennen der Relativität von individuel-len und gesellschaftlichen Werthaltungen. Wertrelativierendes Denken beinhaltet eine diffe-renzierte und distanzierte Haltung zu Werten...“ (Staudinger/ Baltes 1996: 62).

Diese Fähigkeit zu wertrelativierendem Denken ist nach Staudinger/ Baltes ein Ergebnis der Weisheitsentwicklung im Alternsprozess – sie bedarf der Erfahrung der Abhängigkeit und Pluralität von Werten, um entwickelt bzw. bei Heid „konsolidiert“ zu werden. Dies entspricht dem Begriff der „Kontextsensitivität“ bei Nunner-Winkler als einem „Produkt soziokulturel-ler Veränderungen“ (2001: 14). Dabei geht es um Lern- bzw. Erfahrungsprozesse, die um so differenzierter verlaufen, je vielfältiger der „Input“ an zu verarbeitender Werte-Information ausfällt. Nur über eine solche Vielfalt – Pluralität – kann eine Haltung entwickelt werden, der es gelingt, eine „Vielzahl von Werten und Lebenszielen zu berücksichtigen und jede Person innerhalb ihres Wertesystems zu betrachten, ohne eine kleine Anzahl universeller Werte wie etwa die Orientierung auf das eigene Wohl und das Wohl anderer aus dem Auge zu verlieren“

(Staudinger/ Baltes 1996: 61). Gerade in dieser letzten Grundvoraussetzung der „Goldenen Regel“ könnten aber die neuen „subjektiven“ Werthaltungs-Irritationen der eingangs zitierten jungen und jung demokratisierten Ostdeutschen liegen. Untrainiert in kontroverser persönli-cher und gesellschaftlipersönli-cher Wertediskussion, mit einer auferlegten, nicht mit–verfassten Ge-sellschaftsordnung konfrontiert, einem eher fremdbestimmten Individualisierungszwang denn einem eigenen, gewachsenen Individualisierungswunsch verpflichtet, entwickelt sich die Ab-kehr von traditioneller „Werte-Erziehung“ in den neuen Ländern zu einem offensichtlich kon-traproduktiven Prozess: Sturzbecher stellt in seinem Forschungsbericht verblüffenderweise fest, dass bei den jungen Erwachsenen in den neuen Ländern „das Gefühl der Fremdbestim-mung zugenommen hat“ (Sturzbecher 2001: 32). Eher als bei „erfahrenen“ Älteren führt der

„Prozeß der Subjektivierung“ (Dt. Shell 2000: 5) bei ihnen zu heftigen, teilweise kriminellen Reaktionen, die ausgerechnet bei besorgten Älteren einen „machtpolitischen Ruf nach Tu-gend“ (Gutierrez 2000:20) auslösen. Dies entspricht nun gerade nicht dem Anspruch des Weisheitskriteriums wertrelativierenden Denkens, „jede Person innerhalb ihres Wertsystems zu betrachten“ und zu würdigen. In diesem Fall wäre es Sache kompetenter Alter, an der Schaffung von Voraussetzungen mitzuwirken, die es jungen Menschen ermöglichen, „sich

selbst und wirklich verantwortlich an jenen Diskursen und politischen Auseinandersetzungen zu beteiligen, in denen begründet und bestimmt werden muß, was als eine wünschenswerte gesellschaftliche Praxis allgemeine Anerkennung verdient“ (Heid 1994: 22). Eine solche Er-möglichung als Verwirklichung und Umsetzung einer generativen Vermittlung der Alters-kompetenz wertrelativierenden Denkens wäre vonnöten, denn „die zuweilen fehlende Diskus-sionsbereitschaft und –erfahrung der ‚Autoritäten‘ zu Hause und in der Schule spüren auch die Jugendlichen“ (Sturzbecher 2001: 33). Auf dieser (vermutlich) durch das gesellschaftliche System verhinderten Ausbildung alterskompetenter, wertrelativierender Diskussionsbereit-schaft und Diskursfreudigkeit könnte ein erheblicher Anteil der angeführten gesellDiskussionsbereit-schaftspoli- gesellschaftspoli-tischen Schwierigkeiten und Unruhen in den neuen Ländern beruhen: „Es drängt sich der Verdacht auf, dass wir es weniger mit einer problematischen Jugend zu tun haben, sondern mit einer problematischen Elterngeneration“ (Sturzbecher) - die Hilflosigkeit vieler Alter im nicht erlernten Umgang mit Individualisierung und Biografisierung spiegelt sich in der Unfä-higkeit zu verhandelndem Diskurs zwischen den Generationen. Der „machtpolitische Ruf nach Tugend“ wäre fatal: So verführerisch der Gedanke an eine klare, Orientierung gebende, verbindliche Werteautorität wäre, würde diese – abgesehen von der Unmöglichkeit einer Verwirklichung – jegliche Nachdenklichkeit und Reflexion verhindern. Sie würde im Zirkel-schluss also genau jene antidemokratischen Züge der Gesellschaft wieder fundamentalisieren, die ad absurdum die reflexive Moderne mit dem Gedanken des kulturellen gesellschaftlichen Pluralismus bereits geführt hat.

In keinem anderen Kompetenz-Bereich als in diesem des wertrelativierenden Denkens wird eine kulturelle gesellschaftliche Relevanz derartig deutlich und brisant: „Toleranz und (gemäßigter) Pluralismus“ (Baltes) sind Ergebnis und zugleich Forderung eines kul-turellen Designs der Gesellschaft: Abseits jeglicher „Leit“-Kultur wird durch „Konsoli-dierung“ (Heid) oder „Entwicklungsförderung“ (Sturzbecher) dieser (Alterns-) Kompe-tenz die subjektive Bereitschaft des Einzelnen gefordert, aktiv und identifizierend an ei-nem „kleinen Kanon eher universeller Werte“ (Staudinger/ Baltes) mitzuwirken. Nur in kritischer Distanz und kühlem Misstrauen gegenüber scheinbar „objektiven“ Werten jeglicher politischen Couleur und in stetem diskursiven Ringen um gesellschaftliche Konsensfähigkeit von Wertdefinitionen und –funktionen ist diese Konsolidierung mög-lich.

Einen sicheren Weg der gesellschaftlichen Konsensfähigkeit kann es nicht geben – auch nicht mit einer Institutionalisierung subjektiver Werthaltungen, wie sie in der reflexiven Moderne als ultimativ vorstellbar wäre. „Die Werthaltungen in den hochentwickelten Gesellschaften der Gegenwart sind, was Schutz oder Integration anlangt, sicherlich zwiespältig. Der Rechts-radikalismus unserer Tage, der Fremdenhaß und die Fremdenangst tendieren zur Ausgrenzung und Zurückweisung ... Andererseits treten aber Momente in der gesellschaftlichen Entwick-lung auf, die stärker auf das Schützen und auf das Ernstnehmen des Schutzbedürfnisses hin-zielen“ (Rosenmayr 1996: 61). Hierin findet man nicht nur die Zwiespältigkeit der Werthal-tungen junger Ostdeutscher zwischen Biedermeierlichkeit und Radikalität wieder (vgl. For-schungsergebnisse Shell und Sturzbecher), einmal mehr wird hier auch deutlich die wider-sprüchliche Konstituierung von gesellschaftlich-politischer Kultur. Im Gegensatz zur (dikta-torischen) „Kultur des Ja oder Nein“ (Beck) jedoch könnte so mit Hilfe der Alternskom-petenz des wertrelativierenden Denkens eine Kultur „der Toleranz von Vielfalt und der Überbrückung von ... Gegensätzen, eine Annäherung von Altersleistung und Politiker-fordernissen erfolgen“ (Rosenmayr 1996: 35).

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