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9 Bestimmung der kulturellen Relevanz von Alterspotentialen

11.3 Entwicklung und Verwirklichung spezifischer kultureller Altersrollen

11.3.2 Spezifische kulturelle Altersrollen im aktiv-rezeptiven Bereich

11.3.2.1 Der weise Kritiker: Objektivieren und Subjektivieren

Hess, Kommunikationswissenschaftler und Journalist, nach der Alterseinteilung dieser Unter-suchung selbst ein noch junger Wissenschaftler von 38 Jahren, vermutet neue, notwendige Kritiker-Eigenschaften eher bei Personen höheren Alters als in jüngeren Jahren. „Fachwissen

und Bildung“ sind zwar als notwendige Voraussetzung auch bei Jüngeren vorhanden, um dem Kritiker die neue Rolle zu sichern, die „Rolle .. zu garantieren“, jedoch: „Eine dritte, notwen-dige Eigenschaft erwirbt er ... nicht in einer bestimmten Anzahl von Semestern, sondern in Lebensjahren: jenes Reflexionsvermögen, das sich an der realen Lebenswelt ausprobiert und bewährt, also die Fähigkeit, sich selbst als Persönlichkeit in Beziehung zu setzen zu seiner Umgebung“ (Hess 1992: 17, Hervorhebung durch Autor). Sehr deutlich ist in der Qualität des Reflexionsvermögens, das sich bildet in der Erprobung und Bewährung in der realen Lebens-welt, das Weisheitskriterium wiederzufinden des „Wissens um die fundamentale Pragmatik des Lebens“ (Baltes), sehr deutlich entspricht auch die in Abschnitt 10.4 erarbeitete spezifi-sche (aufgrund von Alterskompetenzen erworbene) Alterskultur der Fähigkeit „sich selbst als Persönlichkeit in Beziehung zu setzen zu seiner Umgebung“. Aus diesen Kompetenzen resul-tiert das für die neue Kritikerrolle erforderliche, altersgebundene Reflexionsvermögen. Erst dieses befähigt den neuen Kritiker, eine „differenzierte, eigenständige und analytische Kritik“

(Hess) auszuüben.

Der Kritiker – historisch gesehen eine Rolle aus der Zeit des erwachenden, erstarkenden Bür-gertums des Barock, einer Zeit, die bereits in Abschnitt 5.2 zugleich auch als diejenige eines reichen, mächtigen Alters ausgemacht wurde. Der Pariser Salon wurde zur Keimzelle und zu-gleich zum Symbol einer neuen urbanen Gesellschaft, die sich selbstbewusst als Kulturträger definierte und so die höfische und kirchliche Kulturträgerschaft entmachtete. Ihr oblag die neue Definitionsmacht über Ästhetisches, über Gutes und Schönes. Die Kritik spielte eine neue, eine politische Rolle und die Urteilsmacht über Kunst war das Mittel eines neuen Le-bensstiles und einer neuen Inszenierung des Menschen.

„Der Kritiker ist Richter und Erzieher des guten Geschmacks. Der Salon ... versteht sich als

‚Olympiade‘ der Bildenden Kunst ... Die öffentliche Ausstellung ist ein rite de passage für den ambitionierten Künstler ..., wo seine Zukunft auf den Prüfstand kommt ... Der Kritiker waltet ... nicht nur als Richter und Erzieher, sondern auch als Henker und Abdecker der Kunst. Kunstkritik ist somit auch ein schmutziges Geschäft, für die ästhetische Erziehung der Gesellschaft ebenso nötig wie verfemt. Vielleicht liegt darin die Erklärung für den seit je ge-schmähten Kunstkritiker“ (Wyss 2000: 2).

Der Kritiker als Qualitätskontrolleur hatte zu entscheiden, ob und in welchem Maße die Krite-rien zu einer guten ästhetischen Leistung erfüllt worden waren. Diese KriteKrite-rien im Sinne eines ästhetischen Kanons wurden als objektiv vorhanden angenommen, sie waren gültig und wahr.

Die Erfüllung der Wahrheitskriterien zu beurteilen, war die Aufgabe des Kritikers: Wurden sie nach seiner Einschätzung nicht erfüllt, wurde das Werk, mit ihm der Künstler, ab-gewertet, ab-geurteilt („Henker und Abdecker der Kunst“) – die Werke erfüllten die Gültig-keitsansprüche oder die Wahrheitskriterien nicht.

Lange hielt sich ein solches Verständnis von Kritik: „Kritik (vom griech. kritike, ‚Kunst der Beurteilung‘), Beurteilung, auch Fähigkeit der Beurteilung, der Prüfung, eine der wichtigsten Fähigkeiten des Menschen, die vor den Folgen von Täuschung und Irrtum bewahrt“, wird noch 1969 dieser Begriff im Philosophischen Wörterbuch definiert (Kröner S. 339). Es gäbe eine Wahrheit, so wird hier ausgesagt, und mit Hilfe der Kritik könne man sie von der Nicht-Wahrheit, Un-Wahrheit (Täuschung, Irrtum) trennen. Gerade in den 60er-Jahren begann je-doch ein Umdenkungsprozess: Zunächst als Anmahnung an die Kritiker, die auratische Wür-de Wür-des Künstlers und Wür-des Kunstwerks als unantastbar zu respektieren (Susan Sonntag 1971:

„Against Criticism“, Herausgabe der gesammelten Schriften Walter Benjamins 1972 ff, u.a.

„Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“). Diese „Kritik der Kri-tik“ allerdings fixierte – nun jedoch im Sinne des „Werk-Schutzes“ – die Überzeugung, es gäbe dem Werk innewohnende, im Objekt enthaltene, „objektive“ Eigenschaften – nur sind diese als „auratische“, heilige, nicht mehr zu beurteilen, sondern als rein und unantastbar zu achten. „Der Kritiker wurde zum Schamanen des Unaussprechlichen“ (Wyss a.a.O. S.3).

Gleichzeitig aber und nicht zuletzt unter dem Einfluss des kritischen Rationalismus Poppers begannen Künstler sich grundsätzlich mit den Voraussetzungen zur Beurteilung, zur Kritik von Kunst auseinander zu setzen. Sowohl auratische Projektionen als kanonische Qualitätszu-schreibungen wurden ad absurdum geführt. „Künstler selbst begannen, die Funktion der Kri-tik zu übernehmen, ob nun in Gestalt von Kunstwerken oder von kritischen Essays. Die Ob-jektivität ästhetischer Urteile wurde zum Witz des Tages“ (McEvilley 1993: 10, 11). Eine kühle, formale Beschreibung von Werken sollte an die Stelle von Urteilen treten, der distan-zierte, formalistische Kritiker galt als vorbildlich.

Doch der „Witz des Tages“ blieb nicht auf der Tagesordnung. Obwohl in der Kunst die künst-lerische Qualität zum Thema selbst erklärt wurde und als Thema bearbeitet wurde, die Quali-tätsdiskussion auch mehr und mehr zum Thema (nicht nur) in der (Kunst-) Wissenschaft wur-de, hielten sich hartnäckig Tendenzen der Kunstkritik, die sich wiederum gegenseitig kritisier-ten und der Überheblichkeit bezichtigkritisier-ten. Auf der einen Seite ist es die „Verschmähung der Kunstkritiker ... die in romantischer Selbstüberschätzung auf eine Zwiesprache mit Kunst setzen“ (Wyss a.a.O. S.8), der Auratiker also. Auf der anderen Seite wird denjenigen Kriti-kern Überheblichkeit vorgeworfen, die nach kanonischen Maßstäben glauben, ein Werk auf seine angeblich objektiv vorhandenen ästhetischen Werte hin abklopfen zu müssen, die sich so zu einem dem Künstler überlegenen Beurteiler erheben wollen: Dies beruhe auf dem „Miß-verständnis, daß Kulturkritik Kultur gewissermaßen zu transzendieren habe, noch eine Dre-hung weitergehen müsse, sich über das besprochene Kunstwerk zu erheben habe – auf diesem Mißverständnis, das sich im Jargon niederschlägt und in der elitären Pose“ (Hess 1992: 16).

So unterschiedlich beide Tendenzen in ihren Äußerungen über Werke sein mögen, so sehr äh-nelt sich doch das Paradigma des Kunstverständnisses: Beide arbeiten auf dem Boden der An-nahme, dass dem Kunstwerk selbst objektive Qualitätsmerkmale eigen sind. Hieran haben weder die Künstler etwas geändert, die in den sechziger und siebziger Jahren die Objektivität ästhetischer Urteile zum „Witz des Tages“ erklärten, noch die wissenschaftliche Diskussion um den Anspruch von Theorien auf absolute Gültigkeit: „Manch einen formalistischen Kriti-ker beschlich das Gefühl, daß sich das Spiel nach den neuen Regeln nicht mehr zu spielen lohne“ (McEvilley1993:11) - die Sehnsucht nach Gültigem und Wahrheit bricht immer wieder durch.

Bereits in Abschnitt 9 musste eine solche Annahme, solche Hoffnung, es gäbe eine solche Allgemeingültigkeit vielleicht ja doch, anhand der Aussage des Pb 11a „... weil es, vielleicht mit Ausnahme der Kunst, nichts Allgemeingültiges mehr gibt“ als trügerisch enthüllt werden:

Auch und gerade die Kunst hat ihre einst scheinbar sichere, objektive, allgemeine (kanoni-sche) Gültigkeit verloren. Kultur ist zu einem Ort der Auseinandersetzungen um Inhalte und Bedeutungen geworden, die Kunst ist Äußerung (Symbol) dieser Vieldeutigkeit und damit Anlass für den Betrachter, Hörer, Leser zu einer kulturellen Selbst-Vergewisserung, zu einer Reflexion darüber, welche Bedeutung er ihr subjektiv verleihen soll (vgl. Abschnitt 9). Damit, mit diesem Verlust der objektiven Gültigkeit, ist die Kunst, ist die Kultur inhaltlich anders bestimmt als zuvor, damit ändert sich zugleich die Rolle des „Deutenden“ in eine des „Be-Deutenden“, dem Kunstwerk erst Bedeutung Verleihenden – und daraus folgt zugleich auch eine wesentliche Änderung der Rolle des Kritikers: Er kann mit seiner (Be-)Deutung (nur) ein Angebot machen, mit einem Deutungsvorschlag zu einer Deutungsdiskussion beitragen. Er kann (nur) sein Deutungsangebot als These zur Kritik freigeben. Konkrete Aufgabenbeschrei-bungen der Kritikerrolle findet man im „Handbuch für Kulturjournalismus“ (Hess 1992) für den Musik-, Literatur- und Kunstbereich: Der Kritiker muss „dazu beitragen, erregte Debatten in Gang zu setzen“ (Anz 1992: 53), „Teil eines Philosophischen Diskurses“ darstellen (Hess 1992: 14), „zum Widerspruch auffordern“, „sich der Konkurrenz kritischer Meinungsvielfalt stellen“ (Anz 1992: 56). Die Rolle des Kritikers hat sich gewandelt vom Beurteiler zum po-tentiell Beurteilten, vom Bewerter zum popo-tentiell Bewerteten. Diese neue Rolle muss

umge-setzt, neu gestaltet werden: „Kulturkritik, die auch vor neuen Formen und neuen Inhalten nicht haltmachen will, muß sich ... darauf einstellen; sie braucht neue Sichtweisen, eine neue Sprache, einen neuen Abstand“ (Hess 1992: 17).

Diese neue Art der Kritik unterscheidet sich grundsätzlich von der ehemalig entweder kanoni-schen oder auratikanoni-schen, auch aber von der formalistisch beschreibenden Werk–Kritik. Mit der Ablehnung vermuteter objektiver, also im Werk „an sich“ vorhandener, wahrer, gültiger Qua-litäten verändert sich die Sichtweise zum Werk, verändert sich der Aspekt von Kunst: Als kul-turelles Symbol, als Äußerung eines theoretischen Gebäudes lässt es Rückschlüsse zu auf das kulturelle Konstrukt, das zu seiner „Fertigung“ geführt hat. Es tritt als Objekt der Kritik, der Betrachtung gegenüber der konstituierenden Theorie in den Hintergrund. Das Werk ist An-lass, Mittel und Argumentationsbeleg der Reflexionen geworden – Gegenstand der Reflexion selbst aber ist das intellektuelle Konstrukt, das zu eben dieser „Verwirklichung“ geführt hat.

Hier wird das hohe, in Lebensjahren erworbene, neben „Fachwissen und Bildung“ notwendi-ge Reflexionsvermönotwendi-gen notwendi-gefordert - in der Auseinandersetzung darüber, welchem Wirklich-keitsentwurf in der Reihe vielfacher Möglichkeiten Be-Deutung verliehen werden soll. Es ist dies die spezifische Alterskultur, die „ureigenste Binnenkultur“, die eine solche „Bandbreite weiter zur sogenannten Wirklichkeit“ (Pb 5a) machen kann. Es ist dies die neue kulturelle Rolle des „weisen“ Kritikers – anders als die des auratischen, kanonischen oder formalisti-schen Werkkritikers: den hinter der künstleriformalisti-schen Äußerung stehenden Weltentwurf zu be-fragen, gegen andere Entwürfe abzugrenzen (zu „kritisieren“), das „Originäre“ (Ammann) dieses möglichen Entwurfes auf seine Stringenz, seine Überzeugungskraft hin zu überprüfen.

Es wäre dies „Kulturkritik in ihrer ursprünglichsten, sinnstiftenden Ausprägung“, wäre der

„Versuch, ... Inhalt und Oberfläche zu verknüpfen“ (Hess 1992: 10) und nicht allein die Ober-fläche zu bewerten.

„Ich will keine ... Beschreibung, was die Musik tut, sondern eine klarsichtige Kulturtheorie“, fordert der britische Soziologe Simon Frith. „Wir müssen herausfinden, wie Musik wirkt, wie sie in unsere Erfahrung von Freude paßt“ (zitiert nach: Bruckmaier 1992: 111). Kommunika-tionswissenschaftler Bruckmaier selber folgert aus diesem Zitat etwas flapsig: Der „Kritiker darf also ruhig vergessen, was Dur und was Moll ist, solange er von Tuten und Blasen eine Ahnung hat“ (a.a.O.). Was er damit meint, wird wissenschaftlich zulässiger in der Fragestel-lung Heids ausgedrückt, die Bruckmaier, Hess, Frith, McEvilley bereits positiv beantwortet haben: „Worauf kann oder soll Kritik sich beziehen? Handelt es sich bei den Gegenständen der Kritik um beobachtbare Sachverhalte bzw. Sachverhaltsbeschaffenheiten oder geht es dabei um Sachverhaltsinterpretationen, genauer, aber längst noch nicht präzise genug: um nicht beobachtbare Konzepte, die der Konstitution kritikwürdiger Sachverhalte zugrunde lie-gen (...)?“ (Heid 1999: 8). Beziehen sich die Überlegunlie-gen Heids schwerpunktmäßig auf den erziehungswissenschaftlichen und erziehungspraktischen Bereich, so sind sie doch gleicher-maßen übertragbar auf den kulturwissenschaftlichen Bereich, auf die Kultur und ihrer Äuße-rungsformen in der Kunst: Nicht das Kunstobjekt (als Resultat, Ergebnis, Produkt) ist Ge-genstand (wohl aber Agens) der Kritik, sondern „die Idee, die das Kunstwerk transportiert, ist ausschlaggebend“ (Ammann 1998: 56).

Kunst, also das Objekthafte, das sinnlich Wahrnehmbare, ist „Denkgegenstand“, der das Re-flexionsvermögen und damit die „Fähigkeit, sich selbst als Persönlichkeit in Beziehung zu setzen zu seiner Umwelt“ (Hess) herausfordert. Anders als die Bildung und Information des nur beurteilenden Kunstkritikers ist sie weitgehend mit einer spezifische Alterskultur vknüpft, „weil sie mit der Sinnlichkeit des Sichprojizierens zu tun hat. Jenseits von Stilen er-forscht die Kunst das Selbst aus einem Bewußtsein und einem Denken von Gegenwart“ (Am-mann 1998: 55).

Was für die neue Rolle des „weisen“ Kritikers an Kompetenzen erforderlich ist, entspricht da-mit komplett dem in Abschnitt 9.1 – 9.6 Erarbeiteten. Sie werden „pragmatisch“ als

„Anfor-derungen an den Kritiker“ im „Handbuch Kulturjournalismus“ zusammengefasst. Neben ei-nem hohen Bildungswissen werden Fähigkeiten des Auslotens, der Synoptik, des perspektivi-schen Denkens und der Supervision handlungsorientiert aufgelistet in der Forderung, „der

‚ideale‘ Kritiker ... sollte ... kompetent vergleichen können, die historischen, kulturellen, psy-chologischen, soziologischen oder politischen Kenntnisse und auch die Lebenserfahrung be-sitzen, die zum angemessenen Verständnis nötig sind“ (Anz 1992: 52).

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