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Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Statistischen Landesamt

III. Eine Kriegskarriere an der Heimatfront (1914–1918)

1. Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Statistischen Landesamt

Obwohl Horlacher ohne juristisches Staatsexamen keine Aussichten hatte, als Beamter in den bayerischen Verwaltungsdienst aufgenommen zu werden, galten seine Karrierehoffnungen nach wie vor dem Staatsdienst. Noch während Horlacher im Auftrag Brentanos mit Redaktionsarbeiten für die Schriften des Vereins für Socialpolitik beschäftigt war, trat er am 1.

Juni 1913 eine Stelle als „wissenschaftlicher Hilfsarbeiter“ beim Statistischen Landesamt in München an1. Für diese Aufgabe sah er sich nach Beendigung seiner statistischen Dissertation hinreichend qualifiziert2. Das Statistische Landesamt wurde seit 1907 von Friedrich von Zahn (1869–1946)3 geleitet. Zahn war als hervorragender Statistiker bekannt4 und unter seiner Leitung nahm der Umfang der statistischen Erhebungen als Folge der zunehmenden sozial- und wirtschaftspolitischen Staatstätigkeit erheblich zu5. Zahn stand sowohl mit Brentano, dessen Schüler er einst gewesen war6, als auch mit dessen Rivalen Mayr in gutem Kontakt7, weshalb dem Übertritt Horlachers in den statistischen Dienst keine persönlichen Loyalitäten entgegenstanden. Bei Zahn konnte Horlacher seine statistischen Kenntnisse vervollkommnen.

Zuvor wurde er am 1. August 1914 anlässlich der Mobilmachung zum Heer einberufen, weshalb er aus dem Dienst des Statistischen Landesamtes ausscheiden musste8. Horlachers Einheit war das 6. Bayerische Feldartillerieregiment in Fürth9. Im Unterschied zur

1 BayHStA, Statistisches Landesamt 111, Zahn an MInn, 25. Juni 1913.

2 BayHStA, Statistisches Landesamt 111, Lebenslauf Michael Horlachers, undatiert.

3 Jurist (Dr. jur.) und Nationalökonom (Dr. phil.), geboren am 8. Januar 1869 in Wunsiedel, 1896–1905 wirtschaftsstatistischer Referent am Kaiserlichen Statistischen Amt in Berlin, Mitglied des Vereins für Socialpolitik, 1902 Ernennung zum außerordentlichen Professor der Staatswissenschaften an der Universität Berlin, am 1. November 1907 zum Leiter des Statistischen Bureaus in München (ab 1. Januar 1909: Statistisches Landesamt) berufen, 1913 Ernennung zum Honorarprofessor für Statistik und Sozialpolitik an der LMU, während des Ersten Weltkrieges Vorstand der dem Statistischen Landesamt angegliederten Landespreisprüfungsstelle und Landesgetreidestelle, 1926 zum Vorstand der Deutschen Statistischen Gesellschaft gewählt, 1931 zum Präsidenten des Internationalen Statistischen Instituts gewählt, gestorben am 12.

Februar 1946. Zu Zahn vgl. MAAZ vom 7. Januar 1919; BSZ vom 2. November 1927; Münchener Zeitung vom 21. Februar 1928; BSZ vom 4. Januar 1929; MAAZ vom 6. Januar 1929; SZ vom 12. Februar 1946.

4 BSZ vom 2. November 1927.

5 Zur Geschichte des Statistischen Landesamtes unter Zahns Leitung bis 1914 vgl. ZAHN, Statistik, 162–204.

6 HEIM, Studium, 3.

7 Zum Verhältnis zwischen Zahn und Mayr vgl. ZAHN, Statistik, 202. Auf ein gutes Verhältnis zwischen Zahn und Brentano deutet hin, dass Horlacher in seinem Bewerbungsschreiben für das Statistische Landesamt Brentano als Referenz anführte (BayHStA, Statistisches Landesamt 111, Bewerbung Horlachers beim Statistischen Landesamt, 13. Mai 1913).

8 BayHStA, Statistisches Landesamt 111, Zahn an MInn, 5. Januar 1915; BayHStA, Statistisches Landesamt 111, Zahn an MInn, 8. August 1914.

9 PrivatA Wittmann, Familienaufzeichnungen, undatiert. In dem Vernehmungsprotokoll, das anlässlich von Horlachers Festsetzung in Schutzhaft durch die nationalsozialistischen Machthaber am 26. Juni 1933 aufgenommen wurde, behauptete er ebenfalls, in dieser Einheit gedient zu haben (StA München, Polizeidirektion München 15563, Vorführungs-Note vom 26. Juni 1933). In den Kriegsstammrollen dieses Regiments fand sich

weit verbreiteten Kriegsbegeisterung10 zeigte Horlacher keine Enttäuschung, als er Zahn bereits am 25. November 1914 mitteilen konnte, dass seine Entlassung wegen „Herz- und Halsleidens11 in den allernächsten Tagen bevorsteht“ und er deshalb seine Freude ausdrückte,

„unter der tatkräftigen, bewährten Leitung des Herrn Ministerialrats meine Ausbildung fortsetzen zu können“12. Während er es mit der Rückkehr aus dem Militärdienst ziemlich eilig hatte, teilte er Zahn vier Tage später enttäuscht mit, dass sich diese wegen des noch nicht abgeschlossenen „Dienstunbrauchbarkeitsverfahrens“ verzögere13. Schließlich trat er seinen Dienst beim Statistischen Landesamt nach einem Erholungsurlaub am 1. Januar 1915 wieder an14. Die kurze Episode bei der Armee war beendet. Horlacher blieb die emotionale Erfahrung des Tötens und der Gefahr des eigenen Todes erspart. Stattdessen konnte Horlacher seine berufliche Karriere an der Heimatfront fortsetzen. Ernst Delbrück (1858–1933)15, der Präsident des Kaiserlichen Statistischen Amtes, wandte sich im April 1915 mit der Bitte an Zahn, ihm einen geeigneten Mitarbeiter zur vorübergehenden Beschäftigung zu überlassen.

Zahn empfahl Horlacher16. Er reiste am 1. Mai 1915 nach Berlin ab17. Er wäre gerne dort geblieben, weshalb er sich um die Stelle eines ständigen Mitarbeiters beim Kaiserlichen Statistischen Amt bewarb. Allerdings wurde ihm ein einheimischer Berliner vorgezogen, wie er Ende September 1915 enttäuscht an Zahn berichtete18. Mittlerweile drohte Horlacher wieder die Einberufung. Am 29. September wurde er in Berlin gemustert. Beruhigt schrieb er jedoch an Zahn, dass er nur als „büroverwendungsfähig in Garnison“ eingestuft worden sei und deshalb keine baldige Einberufung drohe19.

Nachdem sich seine Pläne zerschlagen hatten, dauerhaft in Berlin zu bleiben, kehrte Horlacher am 18. Oktober 1915 an das Statistische Landesamt zurück20. Planmäßige

jedoch kein Hinweis auf einen Dienst Horlachers (BayHStA-KriegsA, Kriegsstammrollen 12979–12997 und 12999–13001).

10 Vgl. dazu ROHKRÄMER, Kriegsmentalität, 759–761.

11 Horlacher litt an einer angeborenen Herzmuskelschwäche (BayHStA, NL Horlacher 1.2, Ärztliches Gutachten von Dr. med. Karl Senger, 23. Mai 1933).

12 BayHStA, Statistisches Landesamt 111, Horlacher an Zahn, 25. November 1914.

13 BayHStA, Statistisches Landesamt 111, Horlacher an Zahn, 29. November 1914.

14 BayHStA, Statistisches Landesamt 111, Zahn an Horlacher, 1. Dezember 1914.

15 Jurist, protestantisch, geboren am 4. Juni 1858 in Bergen auf Rügen, Studium in Tübingen, Leipzig und Berlin, 1887 bis 1889 Professor an der Deutschen Rechtsschule in Tokio, 1891 Ernennung zum Regierungsrat, 1904 Ernennung zum Vortragenden Rat im Reichsamt des Innern, 1912 Ernennung zum Präsidenten des Kaiserlichen Statistischen Amtes, 1916/1917 Reichskommissar für Ein- und Ausfuhrbewilligungen, gestorben 1933. Zu Delbrück vgl. Wer ist’s (1922), 265.

16 BayHStA, Statistisches Landesamt 111, Delbrück an Zahn, 27. April 1915.

17 StadtA München, PMB Michael Horlacher.

18 BayHStA, Statistisches Landesamt 111, Horlacher an Zahn, 29. September 1915.

19 BayHStA, Statistisches Landesamt 111, Horlacher an Zahn, 29. September 1915. In dem biographischen Handbuch Das katholische Deutschland aus dem Jahr 1933 wird dagegen fälschlicherweise behauptet, dass Horlacher „im Felde“ gestanden sei (Das katholische Deutschland, 1738). Der Verdacht, dass dies auf eine bewusste Fehlinformation von Horlacher zurückgehe, um seine unmilitärische Vergangenheit zu verdecken, ist zwar nicht zu beweisen, jedoch auch nicht von der Hand zu weisen.

20 BayHStA, Statistisches Landesamt 111, Zahn an die Regieverwaltung, 30. Oktober 1915.

Gehaltserhöhungen folgten21. Horlacher erledigte beim Statistischen Landesamt Arbeiten auf den Gebieten der Gewerbe-, Verkehrs-, Arbeiter- und Unterrichtsstatistik22. Seine Aufgabe bestand in der Beschreibung der in Bayern herrschenden sozialen und wirtschaftlichen Zustände. Besonders eindringliche Beispiele für die deskriptive Methodologie der „jüngeren historischen Schule“ stellen Horlachers Untersuchungen zur bayerischen Alkoholstatistik dar23. Die Grenze zur Ethnographie überschreitend, behauptete er in seiner ersten Untersuchung zu dieser Thematik, „wie sehr die geographisch-statistische Methode sich eignet, wichtige Einblicke in Volkscharakter und Volkssitten zu gewinnen“24. So erkannte er

„die ,bierfriedliche‘, wenig zu Radau neigende Stimmung des echten Münchners“ als Ursache der paradoxen Erscheinung, dass sich in München überdurchschnittlicher Alkoholkonsum mit unterdurchschnittlicher Alkoholkriminalität verband25. Als er ein Jahr darauf eine weitere Untersuchung zur bayerischen Alkoholkriminalität vorlegte, hatte er beobachtet, dass „die böse Zunge bei dem betrunkenen Pfälzer eine Hauptrolle“ spielt, während die betrunkene

„Bevölkerung der großstädtischen Bezirke München und Nürnberg besonderes Vergnügen“

an Widersetzlichkeiten gegen die Staatsgewalt finde. Das Gebiet „mit starker Neigung zu gefährlicher Körperverletzung“ im Trunk decke sich dagegen mit dem altbayerischen Siedlungsgebiet26. Deshalb lag ihm der Schluss nahe, dass sich die Alkoholdelikte „nach der besonderen Eigenart des Gebietes und des Volkstammes“ verteilten27.

Während Horlacher der deskriptiven Methodik seines akademischen Lehrers treu blieb, wandte er sich bereits zu Beginn des Ersten Weltkrieges vom Wirtschaftsliberalismus Brentanos ab28. Bezeichnenderweise widmete er seine 1916 publizierte Untersuchung zur bayerischen Alkoholstatistik alleine den handelspolitischen Protektionisten Mayr als seinem

„verehrten Lehrer“29 und „Altmeister der Statistik“30. Da der Schutz der deutschen Produktion vor Auslandskonkurrenz aufgrund der Beseitigung der deutschen Zollschranken seit Beginn des Ersten Weltkrieges aber kein Gegenstand wirtschaftspolitischer Diskussion mehr war, kann die konservative Wende in der wirtschaftspolitischen Orientierung Horlachers nicht an zollpolitischen Diskussionen festgemacht werden. Zur Kennzeichnung seiner

21 Horlacher bekam ab 1. April 1915 jährlich 1.800 Mark, zuvor waren es 1.400 Mark (BayHStA, Statistisches Landesamt 111, Zahn an die Regieverwaltung, 20. April 1916; BayHStA, Statistisches Landesamt 111, Zahn an die Regieverwaltung, 12. Mai 1916).

22 BayHStA, Statistisches Landesamt 111, Zeugnis für Michael Horlacher, 31. August 1916.

23 HORLACHER, Alkoholkriminalität (1915) und HORLACHER,Alkoholstatistik (1916).

24 HORLACHER, Alkoholkriminalität (1915), 17.

25 HORLACHER, Alkoholkriminalität (1915), 17.

26 HORLACHER,Alkoholstatistik (1916), 170.

27 HORLACHER,Alkoholstatistik (1916), 172.

28 Vgl. dagegen HAUSHOFER, Jahrhundert, 4 und RATJEN, Bauernkammern, 160, welche erst in dem im Sommer 1917 bekannt gewordenen Plan eines Wirtschaftsbündnisses zwischen dem Deutschen Reich und der Donaumonarchie das „entscheidende agrar- und handelspolitische Erlebnis“ Horlachers sahen. Vgl. dazu Kapitel II.4.

29 HORLACHER, Alkoholstatistik (1916), 193.

30 HORLACHER, Alkoholstatistik (1916), 154.

wirtschaftspolitischen Umorientierung bietet sich aber das von Horlacher nun kolportierte Englandbild an – denn während England für liberale Nationalökonomen wie Brentano als wirtschaftspolitisches Vorbild diente31, galt es den konservativen Protektionisten bereits seit dem 19. Jahrhundert wegen seiner liberalen Handelspolitik als Schreckbild. Sie sahen die wirtschafts- und außenpolitische Geltung des Deutschen Reiches von der Wirtschaftskraft vor allem Großbritanniens bedroht, woraus sich die Vorstellung von der Notwendigkeit einer durch Schutzzölle abzusichernden wirtschaftlichen Autarkie gegen die als aggressiv empfundene liberale Weltwirtschaftspolitik Englands entwickelt hatte32. Dieses negative Englandbild übernahm Horlacher von den Protagonisten einer protektionistischen Handelspolitik. Als Horlacher im Auftrag des Statistischen Landesamtes eine Monographie über die bayerischen Interessen am Überseehandel erstellen sollte, bestand seine Aufgabe darin, vom „Standpunkt der Kriegsziele der deutschen Industrie“ aus, die Annexion Belgiens mit dem „Verlangen nach einem uneingeschränkten Ausfallstore des deutschen Handels über Belgien“ zu rechtfertigen. Dabei kam er zu dem Ergebnis, dass Belgien als „Stützpunkt der Wiedereroberung deutscher Seegeltung und damit der Sicherung deutscher Machtstellung“

angesichts der „wirtschaftlichen Bedrückungsmaßnahmen“ durch Großbritannien einen ganz außerordentlichen Wert besitze33. Im Haus- und Landwirtschaftskalender des Landwirtschaftlichen Vereins in Bayern beklagte sich Horlacher, dass England als

„erbittertster Gegner“ des Deutschen Reiches zum „verruchtesten und feigsten Mittel“ greife, indem es versuche, das Deutsche Reich mit Hilfe einer Wirtschaftsblockade auszuhungern.

Darin erkannte Horlacher eine wirtschaftspolitische Kontinuität: „Schon seit Jahren war durch eine zielbewusste Einkreisungspolitik Deutschlands und Österreich-Ungarns diesem Plane vorgearbeitet worden.“34 Mit diesem Argumentationsmuster gelang es ihm, Großbritannien die Schuld am Kriegsausbruch zuweisen. Er behauptete, dass der Krieg „in blindem Hass gegen den nichtgeahnten industriellen Aufschwung Deutschlands und gegen seine Seegeltung geboren“ worden sei35. Brentanos Forderung nach einer arbeitsteilig organisierten und auf Freihandel basierten Weltwirtschaft im Anschluss an Großbritannien erschien unter dem Eindruck der Blockade der Entente endgültig diskreditiert und die Notwendigkeit ernährungswirtschaftlicher Autarkie evident36. Wenn Horlachers Englandhass auch der Beschäftigung mit der Wirtschaftspolitik Großbritanniens entsprang, so gab es im Interesse seines beruflichen Fortkommens doch keine Alternative dazu. Horlachers Vorgesetzter Zahn war ein Protagonist der so genannten „Kanzlersturzbewegung“, die ihr Zentrum in München

31 Vgl. SHEEHAN, Brentano, 27f.

32 Zum Zusammenhang zwischen Englandhass und protektionistischer Wirtschaftspolitik vgl. KRÜGER, Nationalökonomen, 177–180; BECHTOLD, Antikapitalismus, 87; KEHR, Englandhaß, 149–175.

33 HORLACHER, Überseeinteressen (1917), 99.

34 HORLACHER,Landwirtschaft (1917), 33.

35 HORLACHER, Kriegswirtschaft (1917), 7f.

36 MAAZ vom 15. Juni 1917 (Abendblatt).

hatte und sich im „Volksausschuß für die rasche Niederkämpfung Englands“ eine Organisation gab. Der Sturz des Reichskanzlers Theobald von Bethmann-Hollweg (1856–

1921) sollte den uneingeschränkten U-Bootkrieg ermöglichen, um Großbritannien zu besiegen, bevor die USA eingreifen konnten37. Wenn sich Horlacher auch nicht für die

„Kanzlersturzbewegung“ exponierte, so machte Horlacher in seinen statistischen Monographien zur Lebensmittelversorgung der feindlichen Staaten doch Werbung für die Ausdehnung des U-Bootkrieges gegen britische Handelsschiffe, in dem er bereits in seiner eingeschränkten Form den wesentlichen Grund für den Lebensmittelmangel in England sah38.

Horlacher hatte sich zum funktionierenden Rädchen in der Maschinerie der Kriegspropaganda entwickelt. Am 10. Juli 1916 stellte Horlacher eine statistische Untersuchung über die „Lebensmittelteuerung im Ausland“ fertig39, die in der Zeitschrift des Statistischen Landesamtes veröffentlicht wurde. Darin kam er nach der Auswertung feindlicher Presseorgane und amtlicher Nachrichten zu dem Ergebnis, dass die Lebensmittelteuerung im Ausland teilweise eine Höhe erreicht habe, „wie sie in Deutschland bisher noch nicht zu verzeichnen ist“40. In England seien die Preise seit Kriegsbeginn um 80 Prozent gestiegen. Die Mehl- und Brotpreise seien dort höher als im Deutschen Reich41. Auch in Frankreich lägen die Preise über den deutschen, nur die Brot- und Mehlpreise bewegten sich auf dem deutschen Niveau42. Besonders drastisch schilderte er die „Lebensmittelnot“ in Russland43. Lebensmittelteuerung stellte er auch in den neutralen Staaten fest, die unter den

„Gewaltmaßnahmen“ Englands zu leiden hätten44. In strahlendes Licht stellte er dagegen die Situation im Deutschen Reich, wo es der öffentlichen Lebensmittelbewirtschaftung gelungen sei, „trotz der nahezu völligen Abschließung mit dem Verkehr mit anderen Staaten zum Teil die Lebensmittelpreise auf niederer Höhe zu halten als im Ausland“45. Neben der Lebensmittelbewirtschaftung machte er dafür die Produktivität der deutschen Landwirtschaft verantwortlich. Im Sommer und Herbst 1916 hatte er sich deshalb im Auftrag des Statistischen Landesamtes der Untersuchung der „Leistungsfähigkeit Deutschlands und seiner Hauptgegner auf dem Gebiete der Landwirtschaft“ zu widmen. Die Ergebnisse wurden im Weltwirtschaftlichen Archiv veröffentlicht46. Horlacher stellte in der Vorkriegszeit eine Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität im Deutschen Reich fest, welche diejenige der gegnerischen Staaten bei weitem übertraf47. Horlachers Fazit lautete deshalb: „Die

37 Zur Kanzlersturzbewegung in Bayern vgl. ALBRECHT, Landtag, 157–178.

38 HORLACHER, Lebensmittelteuerung (1916), 256.

39 HORLACHER, Lebensmittelteuerung (1916), 256.

40 HORLACHER, Lebensmittelteuerung (1916), 241.

41 HORLACHER, Lebensmittelteuerung (1916), 241–248.

42 HORLACHER, Lebensmittelteuerung (1916), 248–251.

43 HORLACHER, Lebensmittelteuerung (1916), 251–254.

44 HORLACHER, Lebensmittelteuerung (1916), 255f.

45 HORLACHER, Lebensmittelteuerung (1916), 256.

46 HORLACHER, Leistungsfähigkeit (1917), 158.

47 HORLACHER, Leistungsfähigkeit (1917), 159–169.

deutsche Landwirtschaft hat nach allem, im Vergleich zur Landwirtschaft seiner Gegner, weitaus am intensivsten gewirtschaftet.“48 Etwas voreilig bezeichnete er die gelungene Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion als „wirtschaftlichen Sieg“49. Sogar die Natur ließ er sich im Deutschen Reich auf Sieg einstellen: „Der Vergleich der Anbauzahlen Deutschlands mit denjenigen der Gegner zeigt, wie energisch in Deutschland die von der Natur gegebenen Verhältnisse auf die Volksernährung eingestellt sind“50. Deshalb konnte er in der Zeitschrift des Statistischen Landesamtes behaupten, dass ernährungswirtschaftliche Autarkie bei einer entsprechenden Umgestaltung der Ernährungsgewohnheiten möglich sei:

„Wären die Vorräte an Brotgetreide und Kartoffeln im wesentlichen der menschlichen Ernährung vorbehalten und würde keine Ausfuhr von Getreide stattfinden, so würde der Bedarf für den Unterhalt der Bevölkerung bei Mehrverzehr von Roggenbrot und Kartoffeln und bei geringerem Genusse von Weizen in den letzten Jahren regelmäßig aus dem Inland zu decken gewesen sein.“51 Er gab sich deshalb optimistisch, „bei weiterhin gut durchgeführten Verbrauchsregelungen, insbesondere auch hinsichtlich des Fleischverbrauches, mit Rücksichtnahme auf die Erhaltung eines festen Viehstammes, vollständig durchhalten zu können“52.

Damit stellte er sich offen gegen Brentano, der die volkswirtschaftlichen Kosten der landwirtschaftlichen Produktionssteigerung mit dem Ziel der Autarkie auch während des Krieges und trotz der Blockade für wirtschaftspolitischen Unfug hielt53. Aber Horlacher wurde unter dem Eindruck des „teuflischen englischen Aushungerungsplanes“54 zum Protagonisten einer autarkistischen Utopie. Während Brentano die Produktivitätssteigerungen der geschützten deutschen Landwirtschaft vor Kriegsbeginn bezweifelte55, und sogar von einer Stagnation der landwirtschaftlichen Produktion als Folge der Agrarzölle ausging56, stellte Horlacher einen impliziten Zusammenhang zwischen den Agrarzöllen der Vorkriegszeit und den damaligen landwirtschaftlichen Ertragssteigerungen her, wenn er die

„gewaltigen Friedensleistungen der deutschen Landwirtschaft“ lobte57. Damit hatte er die Argumentation der Protagonisten protektionistischer Agrarpolitik übernommen58, ohne dass

48 HORLACHER, Leistungsfähigkeit (1917), 169.

49 HORLACHER, Leistungsfähigkeit (1917), 159.

50 HORLACHER, Leistungsfähigkeit (1917), 163.

51 HORLACHER, Lebensmittelteuerung (1917), 183.

52 HORLACHER,Landwirtschaft (1917), 37.

53 BRENTANO,System, 40–50.

54 HORLACHER, Landwirtschaft (5. Januar 1916), 2.

55 BRENTANO, System, 42.

56 Denn durch die Einführung der Agrarzölle lasse sich eine Erhöhung der Rente ohne Erhöhung der Produktion allein durch die besseren Preise erzielen (BRENTANO, Agrarpolitik, 144f.).

57 HORLACHER, Landwirtschaft (1917), 37. Im Gegensatz zu Brentano bestätigte die neuere wirtschaftsgeschichtliche Forschung, dass die deutsche Landwirtschaft vor dem Ersten Weltkrieg die höchsten Flächenerträge weltweit aufweisen konnte. Als wesentlicher Grund hierfür wird – wieder im Gegensatz zu Brentano – der Agrarprotektionismus genannt. Vgl. PETZINA, Ausgaben, 91.

58 Zu dieser Argumentation vgl. SCHUMACHER, Land, 36.

die ausdrückliche Forderung nach Agrarschutz während des Ersten Weltkrieges nötig gewesen wäre. Dafür wurde er aber nun von den Agrariern akzeptiert. Johann Stechele – der Horlachers Dissertation im Wochenblatt des Landwirtschaftlichen Vereins in Bayern kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges einer vernichtenden Kritik unterzogen hatte59 – rezensierte deshalb Horlachers Schrift „Kriegswirtschaft und Lebensmittelteuerung im In- und Ausland“

in der von den Bauernvereinsfunktionären Georg Heim (1865–1938)60 und Sebastian Schlittenbauer (1874–1936)61 herausgegebenen Kriegswirtschaftlichen Beilage des Bayerischen Kurier wohlwollend62.

Horlachers Wende zum konservativen Protektionismus verlief gleichzeitig mit seiner immer ausschließlicheren Beschäftigung mit ernährungspolitischen Problemen der öffentlichen Lebensmittelbewirtschaftung. Seit 23. Dezember 1915 war er bei der Landespreisprüfungsstelle tätig63, die beim Statistischen Landesamt eingerichtet wurde, um die zunehmende Teuerung der Lebensmittel zu bekämpfen64. Die Preisentwicklung hatte im Oktober 1915 einen Höchststand erreicht65. Die bisherigen amtlich überwachten Höchstpreise, denen bis Mitte März 1916 fast alle Lebens- und Futtermittel unterworfen wurden, hatten sich aufgrund des Lebensmittelmangels und ihrer Orientierung an den

59 Vgl. Kapitel II.4.

60 Realschullehrer und Bauernvereinsfunktionär, katholisch geboren am 24. April 1865 in Aschaffenburg, Besuch des humanistischen Gymnasiums in Würzburg, Studium der neueren Sprachen in Würzburg und München, ab 1889 Realschullehrer in Freising und Wunsiedel, 1893 Promotion zum Dr. rer. pol. bei Lujo Brentano, 1894 Gründung der landwirtschaftlichen Fichtelgebirgsverkaufsgenossenschaft, 1898 Gründungsmitglied des Bayerischen Christlichen Bauernvereins, dessen maßgebliche Führungsgestalt, ab 1899 Leiter der Zentralstelle der bayerischen Bauernvereine, Gründer zahlreicher Bauernvereinsgenossenschaften, 1897 bis 1911 Mitglied der Kammer der Abgeordneten des Bayerischen Landtages für die Bayerische Zentrumspartei, 1897 bis 1912 MdR für die Bayerische Zentrumspartei, 1907 auf eigenen Wunsch als Lehrer pensioniert, Direktor der LZG in Regensburg, gemeinsam mit Sebastian Schlittenbauer Initiator der Gründung der BVP, 1919 bis 1920 Mitglied der Weimarer Nationalversammlung, 1920 bis 1924 MdR für die BVP, 1920 bis 1925 Präsident der Bayerischen Landesbauernkammer, seither weitgehender Rückzug aus dem politischen Leben wegen Krankheit, 1933 Verlust aller verbliebenen Ämter, gestorben am 17. August 1938. Zu Heim vgl.

LENK, Heim, 347–382; MÜNCH, Tätigkeit, 301–344; RENNER, Heim (1957); RENNER, Heim (1961); BERGMANN, Bauernbund, 32f.

61 Gymnasiallehrer und Bauernvereinsfunktionär, katholisch, geboren am 21. Januar 1874 in Wolnzach, 1887 bis 1895 Besuch des humanistischen Gymnasiums in Metten und Regensburg, Studium der Philologie an der LMU, 1901 Promotion im Fach klassische Philologie, anschließend Lehrer an verschiedenen Gymnasien in München und Bamberg, ab 1913 ehrenamtlicher Generalsekretär des Bayerischen Christlichen Bauernvereins, 1912 bis 1918 Mitglied der Kammer der Abgeordneten des Bayerischen Landtages für die Bayerische Zentrumspartei, ab 1914 Fraktionsvorsitzender, 1916 bis 1920 als Stellvertretender Direktor der LZG vom Staatsdienst freigestellt, im November 1918 gemeinsam mit Heim Initiator der Gründung der BVP, 1919 bis 1933 MdL für die BVP, maßgeblicher Gestalter des Gesetzes über die bayerischen Bauernkammern, 1920 bis 1933 Mitglied der Bayerischen Landesbauernkammer, November 1927 Ernennung zum Oberstudienrat, 1929 Ernennung zum Sachverständigen bei den deutsch-tschechischen Handelsvertragsverhandlungen, vor 1933 ehrenamtlicher Leiter des Landesverbands Bayerischer Wasser- und Ödlandgenossenschaften, Mitglied des zollpolitischen Ausschusses des Deutschen Landwirtschaftsrates und des Bayerischen Landeseisenbahnrats, 1930 bis 1932 MdR für die BVP, 1933 Schutzhaft und Versetzung in den Ruhestand, gestorben am 6. November 1936. Zu Schlittenbauer vgl. FRIEMBERGER, Schlittenbauer; BERGMANN, Bauernbund, 386.

62 Kriegswirtschaftliche Beilage vom 8. April 1917.

63 BayHStA, Statistisches Landesamt 111, Zeugnis für Michael Horlacher, 31. August 1916.

64 Zur Preisprüfungsstelle vgl. EGGER, Statistisches Landesamt, 59–65; MERZ, Landespreisstelle, 244–297;

SOLLEDER, Kriegsstellen, 170f.

65 SKALWEIT, Kriegsernährungswirtschaft, 133f.

Produktionskosten zu inoffiziellen Mindestpreisen entwickelt66. Um zur Lösung dieses Problems beizutragen, sollte die Landespreisprüfungsstelle die Entwicklung der Preise beobachten und die Behörden bei der Bekämpfung der Teuerung beraten. Eine Möglichkeit, selbst unmittelbar in die Preisbildung einzugreifen, hatte sie nicht. Da sie zur Erfüllung ihrer Aufgabe umfangreiches Datenmaterial sammeln musste, wurde sie an das Statistische Landesamt angegliedert67. Obwohl die Landespreisprüfungsstelle also nur eine stumpfe Waffe gegen die Lebensmittelteuerung war und ihr Handlungsspielraum durch Kompetenzstreitigkeiten mit dem Kriegswucheramt68 des Kriegsministeriums eingeschränkt war, soll es der Landespreisprüfungsstelle trotzdem gelungen sein, mäßigend auf die Teuerung gewirkt zu haben69. Den Vorsitz der Landespreisprüfungsstelle hatte Zahn übernommen. Neben diesem und dem Verwaltungsjuristen Friedrich Merz, der die tatsächliche Leitung übernommen hatte, war Horlacher die einzige wissenschaftlich ausgebildete Kraft70. Als „Hilfsreferent“ hatte Horlacher statistische Monographien zu veröffentlichen, an der Erstellung der Jahresberichte der neuen Behörde mitzuwirken71 und die Sitzungen des Beirats der Preisprüfungsstelle zu protokollieren. Dieser Beirat bestand aus

Produktionskosten zu inoffiziellen Mindestpreisen entwickelt66. Um zur Lösung dieses Problems beizutragen, sollte die Landespreisprüfungsstelle die Entwicklung der Preise beobachten und die Behörden bei der Bekämpfung der Teuerung beraten. Eine Möglichkeit, selbst unmittelbar in die Preisbildung einzugreifen, hatte sie nicht. Da sie zur Erfüllung ihrer Aufgabe umfangreiches Datenmaterial sammeln musste, wurde sie an das Statistische Landesamt angegliedert67. Obwohl die Landespreisprüfungsstelle also nur eine stumpfe Waffe gegen die Lebensmittelteuerung war und ihr Handlungsspielraum durch Kompetenzstreitigkeiten mit dem Kriegswucheramt68 des Kriegsministeriums eingeschränkt war, soll es der Landespreisprüfungsstelle trotzdem gelungen sein, mäßigend auf die Teuerung gewirkt zu haben69. Den Vorsitz der Landespreisprüfungsstelle hatte Zahn übernommen. Neben diesem und dem Verwaltungsjuristen Friedrich Merz, der die tatsächliche Leitung übernommen hatte, war Horlacher die einzige wissenschaftlich ausgebildete Kraft70. Als „Hilfsreferent“ hatte Horlacher statistische Monographien zu veröffentlichen, an der Erstellung der Jahresberichte der neuen Behörde mitzuwirken71 und die Sitzungen des Beirats der Preisprüfungsstelle zu protokollieren. Dieser Beirat bestand aus

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