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II. Jugend in der Großstadt (1888–1913)

4. Promotion bei Lujo Brentano

Nachdem sich Horlacher gegen eine Laufbahn im Justiz- bzw. Verwaltungsdienst entschieden hatte, war er geradezu auf eine Promotion angewiesen128. Durch sein Promotionsvorhaben kam er erstmals mit einem agrarpolitischen Thema in Berührung. Denn er beteiligte sich 1910 an einer von Brentano gestellten Preisaufgabe über die Bewegung der landwirtschaftlichen Güterpreise in Bayern seit dem Jahr 1900129. Damit wollte dieser als Vertreter einer liberalen Handelspolitik gegen die meist dem konservativen politischen Lager zuzurechnenden Protektionisten nachweisen, dass die 1902 verabschiedeten agrarischen Schutzzölle für die gestiegenen Bodenpreise in der Landwirtschaft verantwortlich seien130. Dadurch wurde nach Ansicht Brentanos derjenige Anteil der landwirtschaftlichen Produktionskosten gesteigert, aufgrund dessen die deutsche Landwirtschaft mit dem Ausland ohnehin schon nicht konkurrieren könne131. Ausgehend von der Annahme, dass die Entwicklung des Deutschen Reiches zu einem Industriestaat unausweichlich sei, hatte sich Brentano bisher auf den Nachweis der volkswirtschaftlichen Schädlichkeit der Agrarzölle beschränkt. Dabei wies er darauf hin, dass diese sowohl die Interessen der Industrie am Export132, als auch die Interessen der Arbeiter an billigen Nahrungsmittelimporten schädigten133. Mit dem Nachweis der steigernden Wirkung der Agrarzölle auf die Bodenpreise wollte er deren nachteilige Wirkung auf die Landwirtschaft selbst beweisen.

Horlachers Aufgabe bestand darin, in seiner Dissertation die Güterpreisentwicklung in den niederbayerischen Bezirksämtern Griesbach, Pfarrkirchen und Eggenfelden zu untersuchen und Brentanos These vom Zusammenhang zwischen Güterpreisen und Agrarzöllen zu beweisen. Er unternahm den „Versuch einer Bodenpreisstatistik in Verbindung mit Besitzwechsel- und Verschuldungsstatistik“134. Entsprechend den methodischen Vorgaben der „jüngeren historischen Schule“ suchte Horlacher objektive Gewissheit darüber mit Hilfe von umfangreichen statistischen Erhebungen zu gewinnen, da die Wahrscheinlichkeitsrechnung auf der Grundlage von Stichproben als unzulässige Deduktion aus theoretischen Hypothesen galt135. Auf der Grundlage dieses umfangreichen statistischen Zahlenmaterials stellte Horlacher zunächst ein starkes Anziehen der Güterpreise im Zeitraum zwischen 1907 und 1910 fest136. Wie es Brentano von ihm erwartete, machte

128 Einen anderen Abschluss sah die Staatswissenschaftliche Fakultät in München nicht vor. Vgl. MAYR, Staatswissenschaften, 25.

129 BRENTANO, Einleitung, V.

130 BRENTANO, Einleitung, V.

131 BRENTANO, Freihandelsargument, 35f.

132 BRENTANO, Freihandelsargument, 16–19.

133 BRENTANO, Freihandelsargument, 8f.

134 HORLACHER,Bodenpreisstatistik (1914), 237f.

135 Vgl. DESROSIÈRES, Politik, 194 und 337f.

136 HORLACHER, Feststellung (1914), 59.

Horlacher die Erhöhung der Getreide- und Viehpreise seit der Wiedereinführung der Schutzzölle dafür und für die daraus resultierende Verschuldung der Landwirtschaft verantwortlich137. Entsprechend der These Brentanos schloss Horlacher, dass die Rentabilität der Landwirtschaft durch die Schutzzölle nicht erhalten, sondern geschädigt werde. Der Vorteil, den sich der Landwirt aus dem Schutzzoll verspreche, werde „bereits durch die Verteuerung seines Hauptproduktionsmittels aufgesogen und dazu eine vermehrte Schuldenlast ihm aufgebürdet“138. Mit seiner Doktorarbeit stellte sich Horlacher in dem Streit um die Nützlichkeit von Agrarzöllen nicht nur gegen die Vertreter eines handelspolitischen Protektionismus auf die Seite liberaler Nationalökonomen wie Brentano. Er legte auch ein Beispiel für die deskriptiven statistischen Monographien der „jüngeren historischen Schule“

vor, die über die Untersuchung der konkreten Einflüsse der Agrarzölle in einer historisch kontingenten Situation nicht hinausgehen sollten.

Angesichts dieses Ergebnisses überrascht es nicht, wenn Brentano mit Horlachers Arbeit sehr zufrieden war, weshalb er über seinen Schüler im Promotionsgutachten schrieb:

„Zu meinem großen Bedauern ist er verhindert worden, seine Arbeit im Frühjahr dieses Jahres rechtzeitig einzureichen. […] Hätte er seine Arbeit rechtzeitig eingereicht, so würde ich beantragt haben, ihm den Preis zu erteilen. Seine Arbeit ist äußerst sorgfältig durchgeführt und erscheint mir in vielen Beziehungen noch besser, als die des preisgekrönten Herrn Jürgen Hansen.“139 Brentano bewertete Horlachers Dissertation mit dem höchsten Prädikat

„egregia“140. Nachdem er das Rigorosum mit „Magna cum laude“ bestanden hatte141, durfte er sich fortan Dr. oec. publ. nennen142.

Horlacher machte sich nun auf die Suche nach einer Arbeitsstelle als Statistiker. Er bat deshalb Brentano um ein Empfehlungsschreiben für das Statistische Amt der Stadt Stuttgart.

Gleichzeitig teilte er Brentano mit, dass er mit der Beantwortung der von der „Fürstlich Jablonowsky’schen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig“ gestellten Preisaufgabe über die Bülow’schen Agrarzölle von 1902143 befasst sei. Da er sich nicht sicher über die wirtschaftspolitische Ausrichtung dieser Gesellschaft war, bat er Brentano um Auskunft, „in welchem wirtschaftspolitischen Fahrwasser sich obige Gesellschaft bewegt“144. Daneben wurde er von Brentano mit der Redaktion der Preisschriften über die Bodenpreisentwicklung

137 HORLACHER, Feststellung (1914), 72–121.

138 HORLACHER, Feststellung (1914), 121.

139 Brentanos Gutachten zit. nach UAM, M-II-36p, Promotionsgesuch Horlachers, 9. Dezember 1912.

140 UAM, M-II-36p, Promotionsgesuch Horlachers, 9. Dezember 1912.

141 UAM, M-II-36p, Promotionsurkunde für Michael Horlacher, 20. Januar 1913. Horlacher wurde von Brentano in Nationalökonomie geprüft, von dem Brentano-Schüler Walther Lotz in Finanzwissenschaft, von Mayr in Statistik und Sozialpolitik (UAM, M-II-36p, Protokoll über das Examen Rigorosum Horlachers am 20. Januar 1913).

142 UAM, M-II-36p, Promotionsurkunde für Michael Horlacher, 20. Januar 1913.

143 Unter Reichskanzler Bernhard von Bülow (1849–1929), der sich selbst als Vertreter landwirtschaftlicher Interessen verstand, wurden die deutschen Agrarzölle auf ein protektionistisches Niveau angehoben. Zur Diskussion um diese Anhebung vgl. STEINKÜHLER, Agrar- oder Industriestaat.

144 BA Koblenz, NL Lujo Brentano N1001/25, Horlacher an Brentano, 28. März 1913.

beauftragt, die gemeinsam in Band 148 der renommierten Schriften des Vereins für Socialpolitik aufgenommen werden sollten145. Da Brentano mit der Dissertation des Preisträgers Hansen nicht zufrieden war146, sollte sie von Horlacher für die Drucklegung überarbeitet werden. Horlacher nutzte die Gelegenheit, um die Arbeit Hansens gegenüber Brentano einer vernichtenden Kritik zu unterziehen. Diesem sei ein „mathematischer Radikalfehler“ unterlaufen, schrieb er selbstsicher an Brentano. Die Zahl der von Hansen untersuchten Fälle sei eine „so geringe, daß Prozentberechnungen ein statistisches Unding sind“147. Im Konkurrenzkampf um die Gunst Brentanos warf Hansen nun seinerseits Horlacher vor, „bezüglich der Erklärung der Ursachen der Preisbewegung“ versagt zu haben148. Daraufhin unterzog Horlacher die anderen Lösungen der Preisaufgabe in einer Sammelrezension im Allgemeinen Statistischen Archiv einer vernichtenden Kritik. Johann Stechele, der als einziger Bearbeiter der Preisaufgabe eine positive Haltung zu den Schutzzöllen zeigte149, lasse in seiner Untersuchung über die Bodenpreisentwicklung in der Oberpfalz „statistische Sachkenntnis völlig vermissen“. Auf einer zu schmalen Basis von untersuchten Besitzwechselfällen sei das Ergebnis seiner Untersuchung „keineswegs rechnerisch einwandfrei“. Da Stechele im Gegensatz zu ihm selbst auf eine Unterscheidung zwischen landwirtschaftlichen Gütern mit und ohne Nebenbetrieb sowie zwischen Parzellen unterschiedlicher Größe verzichtet habe, sei er zu einem „völligen Trugschluß“ gekommen150. An der Arbeit von Franz Hörenz über die Bodenpreisentwicklung im nördlichen Oberbayern kritisierte er ebenfalls die ungenaue Unterscheidung zwischen Gütern mit und ohne Nebenbetrieb151. Valentin Fröhlich (1888–1964)152, dessen Untersuchung über die Bodenpreisentwicklung in Oberfranken ohnehin nur in einer von Horlacher stark

145 BA Koblenz, NL Lujo Brentano N1001/25, Horlacher an Brentano, 20. Juni 1913. Horlacher selbst behauptete, Brentanos Assistent gewesen zu sein (Verh. d. Dt. Bundestages. Sten. Ber. Bd. 24, Sitzung am 31.

März 1955, 4240).

146 BRENTANO, Einleitung, VI.

147 BA Koblenz, NL Lujo Brentano N1001/25, Horlacher an Brentano, 20. Juni 1913.

148 BA Koblenz, NL Lujo Brentano N1001/25, Horlacher an Brentano, 20. Juni 1913.

149 Vgl. STECHELE, Bewegung. Brentano nahm die Dissertation Stecheles wegen „dieser, ihm unangenehmen Ergebnisse“ nicht an, weshalb sie dieser selbständig veröffentlichte, wie Heinz Haushofer in seinem handschriftlichen Bibliothekskatalog notierte (Bibliothek der Familie Haushofer, Georgica bavarica Bd. 4, Nr.

457).

150 HORLACHER,Bodenpreisstatistik (1914), 233–235.

151 HORLACHER,Bodenpreisstatistik (1914), 235f.

152 Praktischer Landwirt und Bauernvereinsfunktionär, katholisch, geboren am 20. März 1888 in Herzogenaurach, Neffe des mit Georg Heim befreundeten Kapuziners Cyprian Fröhlich (Gründer des Seraphischen Liebeswerkes), Besuch des humanistischen Gymnasiums Darmstadt, Studium der Rechts- und Staatswissenschaften an der LMU, Promotion zum Dr. oec. publ. bei Lujo Brentano, Teilnehmer am Ersten Weltkrieg, Zweiter Vorsitzender des oberfränkischen BV, Herausgeber der Bauernvereinszeitung Der fränkische Bauer, Mitglied der Gesamtvorstandschaft des Bayerischen Christlichen Bauernvereins, 1928 bis 1933 MdL für den Stimmkreis Forchheim/Ebermannstadt (BVP), vor 1933 Stellvertretender Präsident der Kreisbauernkammer Oberfranken und Mitglied der Bayerischen Landesbauernkammer, 1932 Wahl zum Bürgermeister von Herzogenaurach, 1933 Schutzhaft, 1945 bis 1948 Landrat von Höchstadt/Aisch, 1947 bis 1949 MdS, 1949 bis 1951 Direktor des BBV in Oberfranken, Mitglied des Aufsichtsrates von BayWa und Bayerischer Raiffeisen-Zentralkasse, gestorben am 3. Mai 1965. Zu Fröhlich vgl. FRÖHLICH, Reislaufen; BERGMANN, Bauernbund, 380f.; SCHMÖGER, Senat, 170.

überarbeiteten Version veröffentlicht wurde153, warf er rechnerische Fehler vor154. Nur die Studie von Jürgen Hansen, dem er ebenfalls eklatante Rechenfehler vorhielt155, und seine eigene hätten zum „ersten Male den Versuch einer Bodenpreisstatistik in Verbindung mit Besitzwechsel- und Verschuldungsstatistik gebracht“156. Er konnte sich nicht zurückhalten, seine eigene Untersuchung als die gründlichste und beste darzustellen, vor allem was die Anzahl der untersuchten Fälle betraf. Selbstsicher schloss er: „Meine Untersuchung, der auch Hansen gefolgt ist, wurde nach dieser Richtung eingehender und gründlicher gestaltet.“157

Dafür musste sich Horlacher die Kritik der Verfechter der Agrarzölle gefallen lassen.

Indem er den Einfluss der Agrarzölle auf die Bodenpreisentwicklung propagierte und eine ausschlaggebende Bedeutung des Güterhandels für die Steigerung der Bodenpreise ablehnte158, stellte er sich gegen die regierungsamtlich propagierte These vom Einfluss des Güterhandels159. Da Horlacher am 3. Juni 1914 im Wochenblatt des Landwirtschaftlichen Vereins in Bayern die Wirksamkeit des den Güterhandel einschränkenden Güterzertrümmerungsgesetzes von 1910 in Zweifel gezogen hatte160, brach er damit am Vorabend des Ersten Weltkrieges einen kleinen Zeitungskrieg mit Vertretern der bayerischen Staatsregierung vom Zaun. Dabei wurde Horlacher von Hans Schmelzle (1874–1955)161, Mitarbeiter des Bayerischen Statistischen Landesamtes, am 24. Juni ebenfalls im Wochenblatt des Landwirtschaftlichen Vereins in Bayern lächerlich gemacht und stellvertretend für Brentano angegriffen. Horlachers Beweisführung gleiche „einem circulus vitiosus wie ein Ei dem anderen“. Es sei ihm ein „einfacher Denkfehler“ unterlaufen. Horlacher habe Händler- und Nichthändlerpreise isoliert voneinander betrachtet und aus der geringen Spanne dazwischen geschlossen, dass der Güterhandel kaum Einfluss auf die Bodenpreise habe.

Dabei habe er übersehen, dass auch die Nichthändlerpreise von den Händlerpreisen in ihrer Höhe beeinflusst wurden162.

153 HORLACHER, Bewegung (1914). Fröhlich selbst war sich über die methodischen Mängel seiner Arbeit bewusst, denn er „arbeitete nach eigener Methode und nach dem gesunden Menschenverstand“. Er sah ein, dass er deshalb von Brentano nicht so hoch bewertet wurde „wie mein leider schon verstorbener Freund Dr. Michael Horlacher, der als eifriger Besucher des Seminars des Geheimrats Prof. Lujo von Brentano natürlich mehr nach wissenschaftlichen Methoden gearbeitet hatte als ich“ (FRÖHLICH, Reislaufen, 13f.).

154 HORLACHER,Bodenpreisstatistik (1914), 236f.

155 HORLACHER,Bodenpreisstatistik (1914), 237–239, 255.

156 HORLACHER,Bodenpreisstatistik (1914), 237f.

157 HORLACHER,Bodenpreisstatistik (1914), 251.

158 HORLACHER, Feststellung (1914), 99–110.

159 STECHELE, Wirkungen, 476–480.

160 Horlacher hatte beobachtet, dass die Güterpreise auch nach dem Erlass dieses Gesetzes, das den Güterhandel Einschränkungen unterwarf, nicht gesunken waren (HORLACHER, Einfluß (3. Juni 1914), 259–261).

161 Dr. oec. publ., katholisch, geboren am 1. Oktober 1874, Studium der Rechts- und Staatswissenschaften u.a.

bei Brentano, Promotion bei Brentano, anschließend im Statistischen Bureau und im bayerischen Verwaltungsdienst tätig, als Agrarexperte bezog er mehrmals Stellung gegen seinen akademischen Lehrer Brentano, 1919 bis 1921 Erster Direktor der Bayerischen Landwirtschaftsbank, 1921 bis 1927 Staatsrat im bayerischen Staatsministerium des Äußern, 1927 bis zu seinem Rücktritt 1930 bayerischer Finanzminister, anschließend Präsident des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes, 1939 Pensionierung, gestorben am 7. März 1955. Zu Schmelzle vgl. MENGES, Schmelzle.

162 SCHMELZLE, Einfluß, 259f.

Nun ergriff auch Stechele die Gelegenheit, sich für Horlachers Rezension seiner Dissertation zu rächen. Noch deutlicher als Schmelzle kritisierte er am 1. Juli 1914 ebenfalls im Wochenblatt des Landwirtschaftlichen Vereins in Bayern Horlachers Schlussfolgerungen.

Er behauptete, dass der Güterhandel sehr wohl Einfluss auf die Bodenpreise habe, und zwar einen „nachhaltigeren, als Horlacher und die ganze Brentano-Schule annehmen wollen“.

Deutlich von verletztem Stolz getrieben versuchte er Horlachers Sachkenntnis in Zweifel zu ziehen, indem er darauf hinwies, dass Horlacher kein „ausübender Landwirt und sachkundiger Beurteiler landwirtschaftlicher Fragen“ sei. Deshalb glaubte er, „daß man Horlachers Behauptung oder richtiger die von ihm wiederholten Behauptungen Brentanos nunmehr auf sich beruhen lassen kann“163. Horlacher antwortete aber am 29. Juli 1914 angriffslustig wieder im Wochenblatt des Landwirtschaftlichen Vereins in Bayern. Schmelzle und Stechele hätten schlichtweg den „Kernpunkt seiner Argumentation übersehen“. Die im Vergleich zu den Nichthändlerpreisen etwas höheren Händlerpreise wollte er nicht auf den ungezügelten Güterhandel zurückführen, sondern auf die größere Nachfrage nach kleineren Grundstückseinheiten, die aus Güterzertrümmerungen durch Händler entstanden. Dabei war sich Horlacher bewusst, dass nicht er selbst es war, der durch diese Kritik getroffen werden sollte. Deshalb erklärte er sich rückhaltlos für Brentano: „Im übrigen begnüge ich mich, festzustellen, daß ich im Interesse wahrer, d.h. objektiv forschender Wissenschaft es mit aller Entschiedenheit ablehne, daß meine Ausführungen in das Licht ,willenloser Andachtskultur, in verba magistri‘ gebracht wurden. Wenn ich mich auch freudig als Schüler Brentanos bekenne, so vertrete ich doch das Ergebnis meiner exakten statistischen Untersuchungen mit selbstgewonnener Ueberzeugung, unabhängig von jedermann und erwarte das gleiche auch von meinen Gegnern.“164

Einen Sieger konnte es in dieser Auseinandersetzung nicht geben. Wie der Agrarhistoriker Sigmund von Frauendorfer zutreffend urteilte, standen doch „Fragen auf dem Spiele, die nur Anlaß zu vagen Spekulationen geben konnten und deren Beantwortung stark von der empfindungsmäßigen, weltanschaulichen und philosophisch beeinflußten Anschauungswelt des betreffenden Gelehrten abhängig war“165. Hinter der Auseinandersetzung um die Agrarzölle stand die über die Wirtschaftspolitik hinaus auch gesellschaftsphilosophisch intensiv diskutierte Frage, ob das Deutsche Reich als Industriestaat oder Agrarstaat zu betrachten sei. Die Befürworter der Agrarzölle stammten aus dem konservativen politischen Spektrum. Sie hofften, durch eine ökonomische Stabilisierung der Landwirtschaft dem durch die Industrialisierung hervorgerufenen sozioökonomischen Wandel begegnen zu können. Die liberalen und sozialistischen Gegner der Agrarzölle sahen in diesen

163 STECHELE, Güterzertrümmerung, 309–311.

164 HORLACHER, Einfluß (29. Juli 1914), 350.

165 FRAUENDORFER, Ideengeschichte, 374.

nur ein Instrument zur Konservierung überholter wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse, wobei die Schädigung der Volkswirtschaft in Kauf genommen wurde166.

So unterblieb die von Horlacher am 29. Juli 1914 angekündigte umfangreiche Auseinandersetzung mit den „gegnerischen Ausführungen“167 nicht nur wegen des gerade begonnenen Ersten Weltkrieges, sondern auch deshalb, weil sich Horlacher während dessen Verlauf von den liberalen wirtschaftspolitischen Ansichten seines Lehrers abwandte und unter dem Eindruck der Handelsblockade zum Verfechter der protektionistischen handelspolitischen Forderungen seiner bisherigen Gegner wurde, wie im folgenden Kapitel gezeigt werden soll.

166 Zu dieser Debatte vgl. STEINKÜHLER, Agrar- oder Industriestaat, 35–55; FLEMMING, Interessen, 18–75;

ACHILLES, Agrargeschichte, 347–354.

167 HORLACHER, Einfluß (29. Juli 1914), 350.

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