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IV. Als Protagonist der Ordnungszelle Bayern (1919–1924)

5. Am rechten Rand der BVP

Am 6. Juni 1920 wurde Horlacher in den bayerischen Landtag gewählt. Er war in den oberpfälzischen Stimmkreisen Stadtamhof und Regensburg-Land/Roding aufgestellt worden228. Er erreichte den zweithöchsten Stimmenanteil der oberpfälzischen Kandidaten der BVP229 und gehörte nun mit seinen 32 Jahren zu den jüngsten Abgeordneten der BVP im bayerischen Landtag230. Dass Horlacher als parteipolitischer Neuling, der nicht innerhalb seiner Stimmkreise wohnte, in diesen beiden sicheren Stimmkreisen aufgestellt wurde, verdankte er sicher der Protektion Heims, dessen Wohnort Regensburg war, und auch der Fürsprache des BV231. Heims Interesse an einem Verbindungsmann in die Landtagsfraktion der BVP war nicht unerheblich, da er zu dieser Zeit nicht Mitglied des bayerischen Landtages war. Als Vertrauensmann Heims trug Horlacher Kahrs autoritär-partikularistische Konfrontationspolitik gegen Berlin auch im Landtag mit. Nachdem die von Kahr geforderte Getreideausfuhrsperre aus Bayern gesetzlich untersagt worden war, schimpfte Horlacher deshalb über dieses Gesetz als „ein Produkt echtester Berliner Zentralwirtschaft, für die die Rücksichtnahme auf die Länder grauer Dunst ist“232.

Seine erste Bewährungsprobe als Vertrauter Heims im Landtag hatte er aber zu bestehen, als es nach der Ermordung des Zentrumspolitikers Matthias Erzberger (1875–1921), der in bayerischen Regierungskreisen wegen seiner unitaristischen Finanzpolitik besonders verhasst war, zum Konflikt zwischen Kahr und der Reichsregierung kam. Kahr lehnte die aus Anlass der Ermordung Erzbergers erlassene „Reichsverordnung zum Schutz der Republik“

vom 26. August 1921 ab, da er in ihr einen unzulässigen Eingriff in die verfassungsmäßig abgesicherte Polizei- und Justizhoheit der Länder sah. Kahr wollte mit einer kompromisslosen Haltung die Niederlage in der Einwohnerwehrfrage ausgleichen und verweigerte die Durchführung der Republikschutzverordnung233. Die Mehrheit der Landtagsfraktion der BVP zeigte unter ihrem Vorsitzenden Heinrich Held (1868–1938) in ihrer Sitzung am 10.

September die Bereitschaft, sich mit Berlin zu verständigen, um eine Eskalation des Konfliktes zu verhindern. Kahr blieb jedoch kompromisslos und wurde dabei neben dem deutschnationalen Koalitionspartner vor allem von Heim unterstützt, der wegen der Brisanz der Angelegenheit zur Fraktionssitzung am 10. September eingeladen worden war und diese

228 Regensburger Anzeiger vom 17. Mai 1920.

229 Horlacher bekam 22.381 Stimmen. Vgl. BSZ vom 9. Juli 1920.

230 LUIBLE, Vertretung, 19.

231 Bei der Kandidatenaufstellung war die BVP in dieser Landtagswahl zur Hälfte an die Vorschläge der ihr angeschlossenen Berufsorganisationen gebunden. Zum Modus der Kandidatenaufstellung bei der BVP anlässlich der Landtagswahl 1920 vgl. Was ist und was will die Bayerische Volkspartei, 11.

232 HORLACHER, Getreidewirtschaft (12. Juli 1921), 1f.

233 Zur Haltung Kahrs in der Republikschutzfrage vgl. KEßLER, Held, 427–438; SPECKNER, Ordnungszelle, 209–

225; WINTER, Roth, 150–166; KIISKINEN, Deutschnationale Volkspartei, 143–148.

wutentbrannt verließ234. Noch am selben Tag beschloss der Ständige Ausschuß des bayerischen Landtages235 in Abwesenheit Kahrs gegen die Stimmen der deutschnationalen Bayerischen Mittelpartei die Obstruktion aufgeben zu wollen, sobald die Reichsregierung auf den bayerischen Wunsch nach Wiederherstellung der Polizeihoheit der Länder eingehe236. Damit hatte sich die BVP offen gegen Kahr gestellt. Um den Bruch in letzter Minute zu vermeiden, erklärte sich Kahr mit dem Beschluss des Ständigen Ausschusses einverstanden, forderte jedoch den Zusatz „sobald es die Verhältnisse gestatten“. Um den Kompromiss mit dem Reich nicht zu gefährden, stimmte die BVP im Ständigen Ausschuß nahezu geschlossen gegen diesen Zusatz. Von der BVP stimmte nur Horlacher mit den vier deutschnationalen Abgeordneten für Kahrs Bedingung237. Unzufrieden mit der BVP, soll der Parteigründer Heim mit der Spaltung der BVP gedroht haben, wie sich Kahr erinnerte238.

Horlacher stand im Landtag zwischen der Fraktionsdisziplin und der Loyalität zu seinem politischen Mentor Heim, der als Präsident der Bayerischen Landesbauernkammer sein Dienstvorgesetzter war239. Deshalb demonstrierte Horlacher mit seinem Abstimmungsverhalten nicht nur ein Bekenntnis zu Kahrs Obstruktionspolitik gegenüber Berlin. Vielmehr postulierte er den Vorrang verbandspolitischer Rücksichtnahmen vor parteipolitischen Loyalitäten. Immerhin war Kahr bei den Bauern sehr populär, zeigte er doch stets ein großes Interesse für deren Sorgen und Nöte240. Horlacher war deshalb einer jener Vertreter außerparlamentarischer Organisationen, deren Einfluss auf die BVP Held am 10.

September so heftig beklagt hatte241. Horlacher agierte als verlängerter Arm Heims. Die SPD verortete Horlacher aufgrund seines Abstimmungsverhaltens am 11. September 1921 am äußersten rechten Rand der BVP242. Dabei unterschied sie vier Flügel nach ihrer Haltung zu Kahr. Der linke Flügel um den Arbeitersekretär Karl Schirmer (1864–1942) lehnte Kahr ab.

234 BayHStA, NL Kahr 51, Lebenserinnerungen Gustavs von Kahr, 928–935.

235 Der Ständige Ausschuß des Landtages wurde einberufen, um während der sitzungsfreien Zeit des Landtages in der Sommerpause bzw. nach Auflösung des Landtages die Regierung kontrollieren zu können. Der Staatsrechtler Hans Nawiasky sah in ihm deshalb ein „Überbleibsel des alten Gegensatzes zwischen Volksvertretung und konstitutioneller Regierung“. Zum Ständigen Ausschuß vgl. NAWIASKY, Verfassungsrecht, 78f. und 136–138.

236 Vgl. SPECKNER, Ordnungszelle, 217f.

237 Horlacher war kein ordentliches Mitglied des Ständigen Ausschusses. Er befand sich nicht unter den am 9.

August 1921 gewählten Mitgliedern (Verh. d. Bay. Landtags 1920–1924. Sten. Ber. Bd. 3, Sitzung am 9. August 1921, 736). Erst seit 1922 war Horlacher Ersatzmann für den Ständigen Ausschuß (Verh. d. Bay. Landtags 1920–1924. Sten. Ber. Bd. 6, Sitzung am 4. August 1922, 309; Sten. Ber. Bd. 8, Sitzung am 2. August 1923, 987; Sten. Ber. Bd. 9, Sitzung am 17. März 1924, 343). Dass Horlacher am 11. September 1921 als Vertretung anwesend war, ist jedoch durch die Anwesenheitsliste belegt. Obwohl keine namentliche Abstimmung erfolgte (Verh. d. Bay. Landtags 1920–1924. Beilagen Bd. 6, Beilage Nr. 1800), nannte die MAAZ vom 12. September 1921 den Namen Horlachers als des einzigen aus der Fraktionsdisziplin der BVP ausscherenden Abgeordneten.

238 BayHStA, NL Kahr 51, Lebenserinnerungen Gustavs von Kahr, 948.

239 BayHStA, ML 122, Entwurf einer Geschäftsordnung für die bayerische Landesbauernkammer, undatiert.

240 Vgl. SPECKNER, Ordnungszelle, 221. So war Kahr als Regierungspräsident Vorsitzender des landwirtschaftlichen Kreisvereins Oberbayern (BayHStA, NL Kahr 51, Lebenserinnerungen Gustavs von Kahr, 1069).

241 KEßLER, Held, 431f.

242 Von Kahr zu Lerchenfeld, 60.

Der Mitte um den Fraktionsführer Held und den Parteivorsitzenden Karl Friedrich Speck (1862–1939) fehlte ebenso wie der „Rechten der Koalitionsmehrheit“ um den Eichstätter Domkapitular Georg Wohlmuth (1865–1952) der Mut, Kahr bis zur letzten Konsequenz zu folgen. Allein die „Rechtsopposition unter der Führung von Zahnbrecher und Horlacher“ sei bis zuletzt zu Kahr gestanden243. Der Ausschussbeschluss vom 11. September wurde von Horlacher als in der anschließenden Fraktionssitzung als „Dummheit“ bezeichnet, da er den Rücktritt Kahrs vermeiden wollte. Er war jedoch zuversichtlich, diese mit „planvoller Politik wiedergutmachen“ zu können244. Während Horlacher das taktische Spiel zwischen öffentlichem Treubekenntnis zu Kahr bei gleichzeitiger fraktionsinterner Distanzierung von dessen sinkendem Stern beherrschte, begann sein Fraktionskollege Franz Xaver Zahnbrecher (1882–1935)245 wegen des Rücktritts Kahrs eine heftige und beleidigende Kampagne gegen die Landtagsfraktion der BVP246. Da sich der Agrarexperte und ehemalige Bauernvereinsfunktionär Zahnbrecher durch sein egomanisches Auftreten und sein übersteigertes Selbstbewusstsein im BV bereits vorher Feinde gemacht hatte247, war sein Ausschluss aus der Fraktion unvermeidlich. Zahnbrechers viel versprechende Karriere in der BVP und beim BV war zu Ende. Horlacher war es dagegen gelungen, sich in der schwierigen Stellung zwischen der von Held geführten Landtagsfraktion einerseits und den Bauernvereinen unter dem Einfluss Heims andererseits nicht nur zu halten, sondern seinen

243 Von Kahr zu Lerchenfeld, 76f. Zur Flügelbildung innerhalb der BVP vgl. ferner KEßLER, Held, 448;

ALTENDORFER, Schäffer, 169; REITTER, Gürtner, 97–107.

244 ACSP, Fraktionssitzungen der BVP Bd. 1, Sitzung am 11. September 1921.

245 Bauernvereinsfunktionär, katholisch, geboren am 23. November 1882 in Aich (Bezirksamt Laufen) als Sohn eines Bauern, Besuch des erzbischöflichen Knabenseminars in Scheyern, anschließend Gymnasium in Freising, das er 1902 absolvierte, 1902 bis 1906 Studium der Philosophie, Geschichte und Theologie an der LMU, Promotion zum Dr. phil. im Fach Geschichte über die Kolonisationstätigkeit des Hochstifts Freising in den Ostalpenländern, danach Tätigkeit für den Bayerischen Christlichen Bauernverein, 1906/1907 als Zentralsekretär des BV ein enger Mitarbeiter Heims, 1907/1908 Verbandssekretär des Bayerischen Landesverbandes landwirtschaftlicher Darlehenskassenvereine, 1908 bis 1910 Generalsekretär des Verbandes deutscher Lebensversicherungsgesellschaften, 1910 bis 1914 Syndikus des Verbandes bayerischer Metallindustrieller, seit September 1914 kriegsfreiwilliger Hilfsarbeiter beim Ersatzmagazin und der Intendantur des III. bayerischen Armeekorps in Nürnberg, 1915 Ernennung zum Stellvertretenden Proviantamtsinspektor beim Proviantamt München, 1917/1918 volkswirtschaftlicher Referent der bayerischen Alm- und Weidewirtschaftsstelle, durch seine „praktische Tätigkeit beim bayerischen Bauernverein wurde er auf staatswirtschaftliche Studien hingewiesen“ (ZAHNBRECHER, Landwirtschaftliche Vereine, 3), am 21. Februar 1921 Abschluss einer zweiten, staatswirtschaftlichen Dissertation über das landwirtschaftliche Organisationswesen in Bayern, 1919 bis 1924 MdL zunächst für die BVP, 1920 Wahl zum Stellvertretenden Vorsitzenden des Wirtschaftsausschusses des bayerischen Landtages, nach dem Rücktritt Kahrs Beginn von Zahnbrechers Agitation gegen die Landtagsfraktion der BVP, daraufhin Ausschluss aus der Landtagsfraktion der BVP, sympathisierte seither mit der NSDAP und führte seinen Kampf gegen die BVP weiter, gestorben am 25. September 1935. Zu Zahnbrecher vgl. BayHStA-KriegsA, OP 74379 (Personalakt Franz Xaver Zahnbrecher); HEIM ZAHNBRECHER, Bauernverein; ZAHNBRECHER LÖWENECK, Spar- und Darlehenskassenvereine; ZAHNBRECHER, Wirtschafts- und Sozialpolitik, 196; ZAHNBRECHER, Landwirtschaftliche Vereine, 3; ZAHNBRECHER, Bayerische Volkspartei;

ZAHNBRECHER, Wahrheit; BVC vom 20. September 1921; Von Kahr zu Lerchenfeld, 86f.;LILLA,Landtag, 551f.

246 Vgl. ZAHNBRECHER, Bayerische Volkspartei, 21–23; ZAHNBRECHER, Wahrheit.

247 Schlittenbauer schrieb über Zahnbrecher anlässlich eines Zeitungsartikels, der aus dessen Feder stammte und voll des Eigenlobs war: „Bei dem Mann sind einige Schrauben los und diese Krankheit äußert sich im Größenwahn. […] Ich halte es für notwendig, daß Du Zahnbrecher die Leviten liest“ (BayHStA, NL Heinrich Held 900, Schlittenbauer an Held, 27. August 1919).

Handlungsspielraum sogar noch zu erweitern. Zahnbrecher verschwand von der politischen Bühne und Horlacher trat seine Nachfolge als Stellvertretender Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses an248.

Während Held noch bemüht war, wenigstens in der Öffentlichkeit den Anschein zu erwecken, als bemühte er sich darum, den in nationalistischen und antirepublikanischen Kreisen äußerst populären Kahr249 abermals mit der Ministerpräsidentschaft zu beauftragen250, sprach sich die Fraktion einstimmig dagegen aus. „Horlacher“ – so das Protokoll der Fraktionssitzung am 20. September – „betrachtet Kahr für erledigt.“251 Horlachers lapidare Stellungnahme ließ an Kompromisslosigkeit nicht zu wünschen übrig.

Die Quellen geben keine Auskunft über seine Beweggründe dazu. Horlacher hatte wohl eingesehen, dass sich Kahr mittlerweile von einem Garanten innenpolitischer Stabilität und Symbol der Ordnungszelle zum politischen Unruhefaktor entwickelt hatte. Denn mittlerweile hatte die inzwischen in deutschnationales Fahrwasser geratene MAAZ252 gemeinsam mit dem Miesbacher Anzeiger wegen des Rücktritts Kahrs eine publizistische Kampagne gegen die BVP begonnen, welche in der Landtagsfraktion der BVP die Angst vor einem Rechtsputsch mit dem Ziel der Restitution Kahrs aufkommen ließ253. Deshalb stellte die Fraktion eine Delegation zusammen, die zu Kahr nach Berchtesgaden reisen sollte, um mäßigend auf ihn zu wirken. Neben dem Stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Georg Stang (1868–1951) und dem ehemaligen bayerischen Kultusminister Eugen Ritter von Knilling (1865–1927) war Horlacher Mitglied der Delegation254. In seinen Lebenserinnerungen schilderte Kahr, wie ihn die Delegation „in großer Aufregung“ aufsuchte, um ihn zur Abgabe einer beruhigenden Erklärung wegen des befürchteten Rechtsputsches zu bewegen255. Tatsächlich war es wegen der zunehmenden Teuerung zu Unruhen gekommen, die durch Kahrs Rücktritt eine politische Komponente erhielten256. Da die Gewerkschaften wieder mit Generalstreik drohten, stand eine gewaltsame Konfrontation linker und rechter Gruppierungen zu erwarten. Kahr ließ sich überzeugen und nahm den Vaterländischen Verbänden als Nachfolgeorganisationen der Einwohnerwehren257 am 21. September das Versprechen ab, keinen Gewaltakt gegen den Landtag durchzuführen258. Da sich die Putschgerüchte dadurch nicht ausräumen ließen, wurde Kahr abermals und „wieder in größter Aufregung“ von Horlacher, Knilling und Stang aufgesucht, wie Kahr in seinen Lebenserinnerungen festhielt. Dabei inszenierte er sich wenig

248 ACSP, Fraktionssitzungen der BVP Bd. 1, Sitzung am 9. November 1921.

249 Zur Popularität Kahrs in Bayern vgl. SCHWEND, Bayern, 179.

250 Vgl. KEßLER, Held, 435f.; KIISKINEN, Deutschnationale Volkspartei, 148–151.

251 ACSP, Fraktionssitzungen der BVP Bd. 1, Sitzung am 20. September 1921.

252 Zur politischen Ausrichtung der MAAZ vgl. HOSER, Münchner Tagesprese, 69–78.

253 Vgl. KEßLER, Held, 435–437.

254 ACSP, Fraktionssitzungen der BVP Bd. 1, Sitzung am 20. September 1921.

255 BayHStA, NL Kahr 51, Lebenserinnerungen Gustavs von Kahr, 948–950.

256 MAAZ vom 15. September 1921 (Morgenausgabe).

257 Zu den Vaterländischen Verbänden vgl. NUßER, Wehrverbände, 234–255.

258 BayHStA, NL Kahr 51, Lebenserinnerungen Gustavs von Kahr, 951.

überzeugend als souveräner Herr der Lage, der die Münchner Herren gutmütig herablassend von der Unnötigkeit ihres Besuches überzeugte259.

Kahrs Nachfolger Hugo Graf von Lerchenfeld-Köfering (1871–1944) bildete ein bürgerliches Kabinett aus BVP, BBB und der liberalen Deutschen Demokratischen Partei ohne deutschnationale Beteiligung. Denn die Bayerische Mittelpartei hielt unbeirrt an Kahr und dessen an dessen Justizminister Christian Roth (1873–1934) – einer der hauptverantwortlichen der Kahr-Krise – fest260. Da die BVP aber trotz der Berufung des als gemäßigt geltenden Lerchenfeld keineswegs bereit war, ihren bisherigen Rechtskurs zu verlassen, bemühte sie sich bereits nach wenigen Wochen, die Bayerische Mittelpartei wieder in die Koalition zurückzuholen. Held wollte damit nicht zuletzt die Abhängigkeit der BVP von den verfassungs- und kulturpolitisch liberalen Koalitionspartnern BBB und DDP verringern261. Die koalitionspolitische Schwächung des BBB, der mit dem Landwirtschaftsministerium das agrarpolitische Schlüsselministerium besetzte, konnte aber auch nur im Interesse Horlachers sein. Deshalb befürwortete er die Gespräche Helds mit der Bayerischen Mittelpartei. Er war jedoch übereinstimmend mit Held nicht bereit, die Wiederaufnahme von Kahrs Justizminister Roth als conditio sine qua non der Bayerischen Mittelpartei zu akzeptieren262. Während Fritz Schäffer (1888–1967)263 – der sich gerade anschickte, die Führung des rechten Fraktionsflügels zu übernehmen264 –im Interesse der Beibehaltung des bisherigen Rechtskurses der bayerischen Staatsregierung bereit war, das Ausscheiden der DDP als Folge von Roths Wiederaufnahme in Kauf zu nehmen, wollte Held die Abhängigkeit von der DDP nicht durch eine Abhängigkeit von der Bayerischen Mittelpartei ersetzen265, zumal es die erklärte Absicht des BBB war, die Koalition mit der DDP zu verlassen266. Eine derartige Stärkung der Bayerischen Mittelpartei – und damit des

259 BayHStA, NL Kahr 51, Lebenserinnerungen Gustavs von Kahr, 952.

260 Vgl. KIISKINEN, Deutschnationale Volkspartei, 149–151.

261 Vgl. KEßLER, Held, 444–447.

262 ACSP, Fraktionssitzungen der BVP Bd. 1, Sitzung am 14. Dezember 1921.

263 Politiker der BVP, katholisch, geboren am 12. Mai 1888 in München, Besuch des humanistischen Gymnasiums in Neuburg/Donau, 1907 bis 1911 Jurastudium an der LMU, 1915 Kriegsfreiwilliger, nach einer Verletzung seit 1917 Rechtspraktikant beim Bezirksamt München, 1917 Ernennung zum Bezirksamtsassessor in Kelheim, 1920 bis 1933 MdL für die BVP, ab 1920 Regierungsrat bzw. Oberregierungsrat im bayerischen Kultusministerium, 1929 bis 1933 Vorsitzender der BVP, 1931 bis 1933 geschäftsführender bayerischer Finanzminister im Rang eines Staatsrates, 1933 Verlust der beruflichen Stellung und der Ehrenämter, Verhaftung, während des Dritten Reiches als Rechtsanwalt tätig, 1944 KZ-Haft in Dachau, 28. Mai 1945 bis 28.

September 1945 bayerischer Ministerpräsident, 1945 Mitbegründer der CSU, während der Flügelkämpfe in der Anfangsphase der CSU hauptsächlicher Gegner Horlachers, 1949 bis 1961 MdB für die CSU, 1949 bis 1953 Vorsitzender der Landesgruppe der CSU im Deutschen Bundestag, 1949 bis 1957 Bundesfinanzminister, 1957 bis 1961 Bundesjustizminister, 1961 Rückzug aus der Politik, gestorben am 29. März 1967. Zu Schäffer vgl.

ALTENDORFER, Schäffer; HENZLER, Schäffer.

264 Dies tat er, indem er die Verfassungsrevisionspläne der BVP zur Begrenzung des Parlamentseinflusses über eine zweite berufsständische Kammer und einen Staatspräsidenten maßgeblich ausarbeitete. Vgl. ALTENDORFER, Schäffer, 245–253.

265 Zu den Koalitionsverhandlungen zwischen BVP und Bayerischer Mittelpartei im Dezember 1921 vgl.

KEßLER, Held, 446–448; WINTER, Roth, 164; KIISKINEN, Deutschnationale Volkspartei, 161–165.

266 ACSP, Fraktionssitzungen der BVP Bd. 1, Sitzung am 31. Januar 1922.

Bundes der Landwirte als deren maßgebliche vorgelagerte Organisation267 – konnte aber ebenfalls nicht im Interesse Horlachers sein. Deshalb trat er wie Held für eine Verbreiterung der Koalitionsbasis ein und lehnte eine Politik ab, die einen bloßen Austausch der Koalitionspartner zur Folge gehabt hätte.

Erst als sich die Spannungen zwischen Bayern und dem Reich wegen der Ermordung des Reichsaußenministers Walther Rathenau (1867–1922) wieder verschärften, entstand ein politisches Klima, das der Wiederaufnahme der Deutschnationalen in die Koalition günstig war. Denn in dem am 21. Juli 1922 unter dem Zentrumskanzler Joseph Wirth (1879–1956) erlassenen „Republikschutzgesetz“ erblickten BVP und Bayerische Mittelpartei abermals einen inakzeptablen Eingriff in die Justiz- und Polizeihoheit Bayerns – die BVP eher aus Sorge um die bayerische Eigenstaatlichkeit, die Bayerische Mittelpartei aus Sorge um die Ordnungszellenpolitik. Gegen den Willen des um Ausgleich bemühten Ministerpräsidenten setzte die BVP eine eigene bayerische „Notverordnung zum Schutz der Verfassung der Republik“ durch268. Dies hatte das Ausscheiden der DDP aus der Regierung und die Rückkehr der Bayerischen Mittelpartei zur Folge269. Da die bayerische Verordnung nach Verhandlungen des um Ausgleich bemühten Lerchenfeld mit Vertretern der Reichsregierung am 24. August 1922 aufgehoben wurde, führten die Vaterländischen Verbände eine publizistische Kampagne gegen Lerchenfeld, die schließlich zu seinem Rücktritt am 2.

November 1922 führte270.

Da die BVP die Ordnungszellenpolitik der Aufrechterhaltung innenpolitischer Stabilität mit Hilfe der paramilitärischen Vaterländischen Verbände beibehalten wollte, suchte sie nach einem Ministerpräsidenten, der diese wieder stärker in die Regierungspolitik integrieren konnte271. Held glaubte diesen in dem politisch kaum hervorgetretenen farblosen ehemaligen Kultusminister Knilling gefunden zu haben. Prophetisch warnte er davor, einen prominenten Politiker der BVP zu nominieren, „denn es sei doch wahrscheinlich, daß sich der kommende Ministerpräsident nicht werde behaupten können“272. Als Bedingung für die Wahl Knillings forderte die Bayerische Mittelpartei jedoch zusätzlich zum Justizressort das Handelsministerium. Horlacher war der Wortführer der Minderheit in der Landtagsfraktion, welche in der Sitzung am 8. November 1922 ihre Bereitschaft signalisierte, dieser Forderung

267 Bund der Landwirte und Bayerische Mittelpartei waren voneinander unabhängige Organisationen. Allerdings war der Einfluss des Bundes der Landwirte auf die bayerische DNVP zeitweise so groß, dass von einer Hegemonialstellung des Bundes der Landwirte gesprochen werden kann. Zum Verhältnis zwischen deutschnationaler Bayerischer Mittelpartei und Bund der Landwirte vgl. KIISKINEN, Deutschnationale Volkspartei, 91–93; KITTEL, Weimar, 125–129.

268 Zur bayerischen Notverordnung vom 24. Juli 1922 vgl. KEßLER, Held, 463–468; SCHWARZ, Zeit, 466–468;

KIISKINEN, Deutschnationale Volkspartei, 166–171; ferner SCHWEND, Bayern, 186–194; zum Text der Verordnung vgl. Verordnung zum Schutz der Verfassung der Republik vom 24. Juli 1922, in: Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern Bd. III/2, 373f.

269 ACSP, Fraktionssitzungen der BVP Bd. 1, Sitzung am 3. August 1922; ferner SCHWEND, Bayern, 192f.

270 Zu den Umständen des Rücktritts Lerchenfelds vgl. KEßLER, Held, 466–472; ferner SCHWEND, Bayern, 197f.

271 Vgl. KEßLER, Held, 471f.

272 ACSP, Fraktionssitzungen der BVP Bd. 1, Sitzung am 26. Oktober 1922.

nachzugeben273. Horlachers Bereitschaft, den deutschnationalen Forderungen diesmal weiter entgegenzukommen als noch im Herbst 1921, gründete in der instabilen politischen Situation, die durch den Rücktritt des Ministerpräsidenten entstanden war. Schließlich begnügte sich die Bayerische Mittelpartei aber mit dem Justizressort, was der Fraktionsmehrheit der BVP die Zustimmung zur Koalition mit ihr erleichterte274.

6. Bruch des antirevolutionären Konsenses im landwirtschaftlichen

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