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Agrarpolitik im Dienst der Ordnungszelle

IV. Als Protagonist der Ordnungszelle Bayern (1919–1924)

2. Agrarpolitik im Dienst der Ordnungszelle

Für die endgültige Gestalt der Bayerischen Landesbauernkammer waren die organisationspolitischen Rivalitäten zwischen den verschiedenen landwirtschaftlichen Interessenvertretungen maßgeblich. Dabei ist die Errichtung dieser

92 Zum „Gesetz über die Bauernkammern“ vgl. Das bayerische Gesetz über die Bauernkammern vom 20. März 1920; BayHStA, ML 119, Beschlüsse des Räteausschusses zum Entwurf eines Gesetzes über die Bauernkammern, 5. März 1920; RATJEN, Bauernkammern, 22–30.

93 Das bayerische Gesetz über die Bauernkammern vom 20. März 1920; SCHLÖGL, Agrargeschichte, 571–577;

SAUER, Selbstverwaltung, 60f.; RATJEN, Bauernkammern, 185. Der Staatsrechtler Hans Nawiasky (1880–1961) urteilte deshalb im Jahr 1923 anlässlich eines Kommentars zum Gesetz über die Bauernkammern über die Landesbauernkammer: „Von irgendeinem entscheidenden Einfluß ist keine Rede“ (NAWIASKY, Verfassungsrecht, 87f.).

94 Sten. Ber. Bay. Landesbauernkammer Bd. 1, Sitzung am 31. August 1920, 3–5.

95 Mitteilungen der Bay. Landesbauernkammer vom 30. November 1920.

96 BayHStA, MInn 54196, Vormerkung vom 2. Februar 1926.

Selbstverwaltungskörperschaft als Reaktion auf die zunehmende Integration der Landwirtschaft in ein auf die Bedürfnisse der Industriegesellschaft orientiertes Wirtschaftssystem mit den Mitteln der bürokratischen Zwangswirtschaft zu sehen. Ihre Errichtung entspringt letztlich dem Bemühen, der als Vertretung von Verbraucherinteressen wahrgenommenen staatlichen Ernährungsverwaltung eine mit gleichwertigen administrativen Befugnissen ausgestattete landwirtschaftliche Selbstverwaltungskörperschaft als Interessenvertretung entgegenzustellen. Deshalb erreichte die Bürokratisierung der Agrarpolitik mit der Errichtung der Landesbauernkammer als gesetzliche Berufsvertretung öffentlich-rechtlichen Charakters eine neue Dimension. Denn die Lebensmittelbewirtschaftung war auch nach dem Ende der Kampfhandlungen zur Bekämpfung der Teuerung beibehalten worden97. Die Bruttoproduktion der Hauptgetreidearten war während des Krieges kontinuierlich um bis zu einem Drittel zurückgegangen und sank nach dem Krieg weiter. Der Fleischanfall war wegen der verringerten Futtermittelbasis zwischen 1914 und 1918 um 82 Prozent gesunken. Der Tiefstand der Schweine- und Rinderbestände war aber erst 1919 erreicht98. Der Landwirtschaft fehlten aufgrund der Kriegsverluste sowie der Reparationsbestimmungen und Handelsrestriktionen des Versailler Vertrages Arbeitskräfte, Zugtiere, Maschinen, tierischer und mineralischer Dünger99.

Nachdem Horlacher die Kriegsernährungswirtschaft während des Ersten Weltkrieges zu verteidigen hatte, kritisierte er nun deren Umsetzung durch die revolutionären Machthaber.

Am 10. Juli 1919 schrieb er in den Mitteilungen des Zweckverbandes der landwirtschaftlichen Körperschaften Bayerns: „Das straffe System der Zwangsbewirtschaftung, die bewusste Beibehaltung offensichtlicher Lügen in unserem Ernährungssystem, das Versagen berechtigter Preiserhöhungen für landwirtschaftliche Erzeugnisse und zuletzt noch das Schwinden des Autoritätsbewusststeins haben nunmehr zu Verhältnissen geführt, die einer tatsächlichen Nichtgeltung der behördlichen Bewirtschaftung auf vielen Gebieten heute gleichkommen.“100 Horlacher beabsichtige aber keineswegs die Aufhebung der Lebensmittelbewirtschaftung. Während er vor den Repräsentanten der Raiffeisengenossenschaften behauptete, dass „die „bureaukratische Bevormundung in der Landwirtschaft ein vollendeter Unsinn ist, die Landwirtschaft muß sich nach dem richten, was ihr durch die Natur vorgeschrieben ist“101 – plädierte er gleichzeitig in der Bayerischen Handelszeitung für die Weiterführung der Zwangswirtschaft: „Die Binnenwirtschaftspolitik mit behördlicher Kontrolle im Preis wie Absatz bei den wichtigsten Produkten des

97 Vgl. dazu SCHUMACHER, Land, 130–143.

98 BERTHOLD, Entwicklung, 97–103.

99 BERTHOLD, Entwicklung, 89–91; ACHTER, Einwirkung, 115–144.

100 HORLACHER, Preispolitik (10. Juli 1919), 1f.

101 HORLACHER, Zukunft (1919), 24.

industriellen und landwirtschaftlichen Bedarfes, eine scharfe Kontrolle der Ein- und Ausfuhr, ist eines der Hauptmittel, um uns vor der weiteren drohenden Verarmung zu retten.“ In der Inflation sah er die unausweichliche Folge der Aufhebung der Lebensmittelbewirtschaftung, weshalb er diese Forderung als Gefahr für den wirtschaftlichen Wiederaufbau betrachtete102. Horlacher forderte vielmehr, „die im Volke verhasste Zwangswirtschaft allmählich abzubauen und auf Selbstverwaltungskörpern die Lebensmittelversorgung aufzubauen“103. Nach den Erfahrungen mit der Nahrungsmittelnot im Weltkrieg erschien eine einfache Rückkehr zur Marktwirtschaft kaum mehr möglich104. Horlacher wollte deshalb keinen Abbau der bürokratischen Lebensmittelbewirtschaftung, von deren grundsätzlichem Funktionieren er immer noch überzeugt war, sondern die Übertragung derselben auf die Bauernkammern105.

Im Gegensatz zur Horlacher artikulierte vor allem der Bauernbundsflügel um Gandofer und Kübler die Hoffnung auf steigende Erzeugerpreise und ein Ende der als erniedrigend empfundenen Kontrollen nach dem geforderten Ende der Lebensmittelbewirtschaftung. Damit gelang es ihnen, die bäuerlichen Massen vor allem in Niederbayern gegen die Zwangswirtschaft zu mobilisieren106. Dies hatte bereits die Burgweintinger Versammlung des BBB am 3. August 1919 gezeigt, als die Aufhebung der Zwangswirtschaft nach einem längeren Referat Küblers mit einer Lieferstreikdrohung untermauert worden war. Horlacher hatte diese Drohung in der MAAZ am 22. August 1919 doppeldeutig als „Spiel mit dem Feuer“ bezeichnet, da es bereits zu Branddrohungen gegen Landwirte gekommen war107. Im Rheinland und in Westfalen war es bereits zu Übergriffen auf landwirtschaftliches Eigentum gekommen108. Horlacher glaubte deshalb im Interesse der Bauern zu handeln, wenn er ihren Forderungen nach Aufhebung der Zwangswirtschaft widersprach. Die mit zunehmender Dauer der Lebensmittelbewirtschaftung immer stärker zurückgehende Ablieferungsmoral empörte die Verbraucher immer mehr109. „Denn es gibt niemand“ – so stand in der Münchener Zeitung vom 19. Januar 1920 zu lesen – „der für die Not der Großstädte ein geringeres Verständnis besäße als die Bauern.“110 Horlacher rief deshalb beschwichtigend zur Ablieferung auf: „So sehr wir verlangen, daß der Bauer

102 HORLACHER, Veränderungen (13. Dezember 1919), 615.

103 BBV-Herrsching, Landwirtschaftlicher Verein KC/Unterfranken 1.667, Generalversammlung des Zweckverbandes der landwirtschaftlichen Körperschaften Bayerns am 13. April 1920.

104 Vgl. SPERL, Wirtschaft, 218–231; KRÜGER, Kriegssozialismus, 506–529.

105 Nach FLEMMING KROHN WITT, Sozialverhalten, 253 sei die Ablehnung, die die Lebensmittelbewirtschaftung bei den Landwirten erfuhr, von den Agrarverbänden bewusst zur Diskreditierung der Republik instrumentalisiert worden. Das Festhalten des Republikgegners Horlacher an der Lebensmittelbewirtschaftung zeigt, dass dieses Urteil der Revision durch BERGMANN, Bauernbund, 170–172 tatsächlich bedurfte, der das bedingte Festhalten der Bauernvereinsführung an der Zwangswirtschaft erkannte.

106 Zur Haltung des BBB zur Lebensmittelbewirtschaftung vgl. BERGMANN, Bauernbund, 173–177. Zur Haltung der Bauern zur Lebensmittelbewirtschaftung vgl. MOELLER, Peasants, 43–74; ZIEMANN, Front, 318–325.

107 HORLACHER, Wahnsinn (22. August 1919), 1.

108 Vgl. MOELLER, Peasants, 71.

109 Vgl. ZIEMANN, Front, 340–356; BERGMANN, Bauernbund, 177–181.

110 Münchener Zeitung vom 19. Januar 1920.

bekommt, was recht und billig ist, so sehr müssen wir auch verlangen, daß der Städter von dem Bauern das bekommt, was er im Interesse des allgemeinen Wohles unbedingt fordern muß.“111

Aber um den Schwarzmarkt und die Inflation zu bekämpfen, war auch Horlacher von der Notwendigkeit kostendeckender Erzeugerpreise überzeugt, was er auf eine griffige Formel zu bringen verstand: „Zu geringe Erzeugerpreise bedeuten in der Praxis nichts anderes als eine gewaltige Verteuerung der städtischen Lebenshaltung.“112 Damit machte er die lohnpolitischen Forderungen der Verbraucher selbst für die Teuerung verantwortlich, unter der sie litten: „Wenn der städtische Verbraucher die gewaltigen Preissteigerungen, insbesondere auch Lohnerhöhungen, die der Bauer heute zu tragen hat, genügend erwägt, dann würde allenthalben die Erkenntnis sich Bahn brechen, daß es die verfehlteste Preispolitik ist, bei den Erzeugerpreisen so drücken zu wollen, daß diese den Produktionskosten nicht mehr entsprechen.“113 Deshalb plädierte Horlacher für die Senkung der Produktionskosten mit bürokratischen Instrumenten. Dadurch hoffte er den Landwirten den für nötig gehaltenen Produktionsanreiz durch höhere Preise zu geben, ohne die Teuerung zu forcieren. Im Landtag forderte er deshalb am 27. Juli 1920 einen „organischen Preisabbau“ und eine „sparsame Wirtschaft in allen Teilen des Volkes“, um den Landwirten einen Anreiz zur Produktionssteigerung über eine Senkung der Produktionskosten zu verschaffen. Dabei verstand er die Bekämpfung der Inflation auf diese Art und Weise als Selbstverwaltungsaufgabe. Er forderte deshalb eine „Zusammenarbeit aller Berufsgruppen, und da ist es notwendig, daß eben die einzelnen Stände, die einzelnen Berufsgruppen sich zusammenfinden und in gemeinsamer Arbeit die Regelung dieser Fragen eben auf dem Wege der eigenen Selbstverwaltung in Angriff nehmen“. Die staatlichen Behörden sollen sich dagegen auf die „Überwachung der allgemeinen Wirtschaft und die Kontrolle durch Verwaltungsmaßnahmen“ beschränken114.

Horlacher machte jedoch nicht nur die sozialpolitischen Forderungen der Arbeiter für die gestiegenen Produktionskosten und damit für die Inflation verantwortlich. Während die Sozialdemokraten die Habsucht der Landwirtschaft für Schwarzmarkt und Schleichhandel verantwortlich machten115, wies Horlacher auf die Geldgier des Handels hin, um von der Kritik an der Landwirtschaft abzulenken. Er forderte, dass „wir unbedingt bei dem jetzigen Stande der deutschen Volkswirtschaft den Grundsatze, der gemäß der liberale Wirtschaftsauffassung gilt, des Strebens nach dem größtmöglichen Gewinn aufgeben müssen“116. Damit begründete er die für notwendig gehaltenen Zulassungsbeschränkungen

111 HORLACHER, Zukunft (1919), 34f.

112 HORLACHER, Zukunft (1919), 34.

113 HORLACHER, Zukunft (1919), 33f.

114 Verh. d. Bay. Landtags 1920–1924. Sten. Ber. Bd. 1, Sitzung am 27. Juli 1920, 216–220.

115 Vgl. BERGMANN, Bauernbund, 177–181.

116 Verh. d. Bay. Landtags 1920–1924. Sten. Ber. Bd. 1, Sitzung am 27. Juli 1920, 220.

zum Handel117. Deshalb unterstützte er auch die von Ministerpräsident Gustav von Kahr (1862–1934) zu verantwortenden Restriktionen gegen die in judenfeindlichen Kreisen wegen ihrer Fremdartigkeit besonders verhassten Ostjuden118, „denn ich bin überzeugt, daß sich unter diesen Zugewanderten viele Leute befinden, die von den Kreisen der Schieber und Wucherer nicht besonders weit entfernt sind“119. Am 30. Juli 1920 kündigte er gemeinsam mit Schlittenbauer und Mittermeier in den Mitteilungen des Zweckverbandes der landwirtschaftlichen Körperschaften Bayerns die Ersetzung der Lebensmittelbewirtschaftung durch eine behördliche Kontrolle des Handels an. Damit beabsichtigen sie vor allem die Überwachung des Zwischenhandels, denn „eine unvermittelte völlige Freiheit des Handels würde die gegenseitige Überbietung und damit immer steigende Preise zur Folge haben, die weniger bemittelte Kreise nicht aufbringen könnten“120. Deshalb begrüßte er es im Landtag am 27. Juli 1920, dass die Viehausfuhr trotz der mittlerweile erfolgten Freigabe des Viehverkehrs noch an die Zustimmung der Bayerischen Viehverwertungsgesellschaft gebunden war121. Er plädierte deshalb für die staatliche „Monopolisierung des reellen Viehhandels“, um die Ein- und Ausfuhr auch in Zukunft kontrollieren zu können122. Dabei artikulierte er die weit verbreitete Angst, dass Bayern als agrarisches Überschussgebiet von norddeutschen Händlern ausverkauft werden könnte123. In Horlachers ernährungspolitischen Vorschlägen spiegelt sich das ganze Konglomerat an Antiliberalismus, Judenhass, Preußenfeindschaft und Sozialistenphobie wider, das den weltanschaulichen Inhalt der Ordnungszelle Bayern ausmachte. Zur Umsetzung seiner autoritär-bürokratischen Vorschläge benötigte er eine „festgefügte Autorität in unserem Staate“124 – die er in seiner Erstlingsrede als Landtagsabgeordneter am 27. Juli 1920 forderte und die Ministerpräsident Kahr zu gewähren schien.

Entsprechend Kahrs partikularistischer Konfrontationspolitik gegenüber Berlin betrieb die Landesbauernkammer einen Ernährungspartikularismus, in dem sich agrarpolitische und staatspolitische Ziele vermischten und der die parteipolitischen Konfliktlinien, die im Plenum der Landesbauernkammer herrschten, zeitweilig zurücktreten ließ. Durch die von der Landesbauernkammer geforderte und von Kahr verhängte Ausfuhrsperre von bayerischen

117 Verh. d. Bay. Landtags 1920–1924. Sten. Ber. Bd. 7, Sitzung am 2. März 1923, 1031f.

118 Ostjuden waren bereits während des Krieges als Rüstungsarbeiter oder auf der Flucht vor Verfolgung in ihrer Heimat in das Deutsche Reich geströmt. Die nach dem Ersten Weltkrieg aufflammende Fremdenfeindlichkeit richtete sich vor allem gegen die Ostjuden. Als Generalstaatskommissar ordnete Kahr am 13. Oktober 1923 deren Ausweisung an, die er mit dem pauschalen Vorwurf des wirtschaftsschädigenden Verhaltens begründete.

Vgl. POMMERIN, Ausweisung, 311–340. Zum negativen Image der Ostjuden vgl. HEID, Antisemitismus, 320–

326.

119 Verh. d. Bay. Landtags 1920–1924. Sten. Ber. Bd. 1, Sitzung am 27. Juli 1920, 220.

120 Mitteilungen des ZlK vom 30. Juli 1920.

121 Verh. d. Bay. Landtags 1920–1924. Sten. Ber. Bd. 1, Sitzung am 27. Juli 1920, 219.

122 HORLACHER, Zukunft (1919), 40f.

123 Verh. d. Bay. Landtags 1920–1924. Sten. Ber. Bd. 1, Sitzung am 27. Juli 1920, 217.

124 Verh. d. Bay. Landtags 1920–1924. Sten. Ber. Bd. 1, Sitzung am 27. Juli 1920, 220.

Milchprodukten konnte die Teuerung tatsächlich bekämpft werden125. Für Kahr war aber dieser Ernährungspartikularismus nur Mittel zum staatspolitischen Zweck. Denn als Kahr kurz nach der Getreideernte ein Getreideausfuhrverbot aus Bayern verlangte126, hatte dieser nicht berücksichtigt, dass Bayern bei Brotgetreide Zuschussgebiet war127, weshalb die Reichsregierung mit einer Ausfuhrsperre nach Bayern drohte128. Dementsprechend trug die Landesbauernkammer Kahrs ernährungspolitischen Partikularismus auch nur insofern mit, als er für die eigenen Ziele brauchbar war. Als die Ausfuhrsperre mit voranschreitender Inflation dafür sorge, dass die Milchpreise in Bayern hinter der allgemeinen Teuerung zurückblieben, begrüßte die Landesbauernkammer die Aufhebung der Ausfuhrsperre bei Milchprodukten129 und forderte von Kahr einstimmig die Aufhebung der geltenden Viehausfuhrbeschränkungen130.

Während sich in Bayern ein breiter parteiübergreifender Konsens zur Weiterführung der Lebensmittelbewirtschaftung zeigte, betrieb der neue Reichsernährungsminister Dr.

Andreas Hermes (1878–1964)131 seit Frühjahr 1920 die Abkehr von der Zwangswirtschaft, um der Landwirtschaft dadurch kostendeckende Preise als Produktionsanreiz zu bieten. Nur mehr Brotgetreide und Frischmilch blieben unter Bewirtschaftung. Erwartungsgemäß stiegen die Lebenshaltungskosten, wobei die Inflation noch zusätzlich angeheizt wurde durch die Lebensmittelsubventionen, die der SPD als Kompensation für die schrittweise Aufhebung der Lebensmittelbewirtschaftung zugestanden wurden132. Der katholische Arbeitersekretär und Landtagsabgeordnete Linus Funke (1877–1961) von der BVP sprach bereits von einem bevorstehenden „Vernichtungskampfe zwischen Verbraucher und Erzeuger“133. Um die Ernährungslage zu entspannen, fasste die Landesbauernkammer am 2. Oktober 1920 einen

125 Sten. Ber. Bay. Landesbauernkammer Bd. 1, Sitzung am 25. November 1921, 321.

126 MAAZ vom 17. August 1921 (Morgenausgabe).

127 MAAZ vom 20. August 1921.

128 Vgl. SCHUMACHER, Land, 165.

129 Mitteilungen der Bay. Landesbauernkammer vom 7. Dezember 1922.

130 Sten. Ber. Bay. Landesbauernkammer Bd. 1, Sitzung am 3. Juni 1921, 191.

131 Diplomlandwirt, Zentrumspolitiker und Bauernvereinsfunktionär, katholisch, geboren am 16. Juli 1878 in Köln, 1896 Beginn des Landwirtschaftsstudiums in Bonn, Jena und Berlin, 1905 Promotion zum Dr. phil. mit einem Thema aus der Tierzucht, zunächst Tierzuchtinspektor und Landwirtschaftslehrer, während des Ersten Weltkrieges für die deutsche Kriegsernährungswirtschaft tätig, 1919 Ministerialdirektor im Reichswirtschaftsministerium, 27. März 1920 bis 10. März 1922 Reichsernährungsminister, Oktober 1921 bis August 1923 Reichsfinanzminister, 1924 bis 1928 MdL für das Zentrum in Preußen, 1928 bis 1933 MdR für das Zentrum, 1928 bis 1933 Präsident der Vereinigung der deutschen Bauernvereine, 1930 bis 1933 Präsident des Reichsverbandes der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften - Raiffeisen, nach der Machtergreifung Inhaftierung, Verlust der beruflichen Stellung und aller Ehrenämter, aktive Beteiligung am Widerstand, am 11.

Januar 1945 zum Tode verurteilt, 1945 maßgebliche Gründungspersönlichkeit der CDUD in der sowjetischen Besatzungszone, nach dem erzwungenen Rücktritt als Vorsitzender der CDUD Emigration in die britische Besatzungszone, 1946/1947 gemeinsam mit Horlacher maßgeblich an der Gründung des Deutschen Bauernverbandes und des Deutschen Raiffeisenverbandes beteiligt, 1946 bis 1954 Präsident des Deutschen Bauernverbandes, 1947 bis 1961 Präsident des Deutschen Raiffeisenverbandes, gestorben am 4. Januar 1964. Zu Hermes vgl. MORSEY, Hermes; BARMEYER, Hermes.

132 Zur Politik des Reichsernährungsministeriums unter Hermes vgl. SCHUMACHER, Land, 144–168.

133 Verh. d. Bay. Landtags 1920–1924. Sten. Ber. Bd. 1, Sitzung am 7. Oktober 1920, 410.

Beschluss, der die Bauern aufforderte, „die Kartoffeln zu einem für die Verbraucher erträglichen Preis abzugeben“134. Andererseits artikulierte vor allem der BBB die Proteste gegen die Reste der Zwangswirtschaft bei Getreide und Milch. Für die Bauern besaß der Milchpreis große Bedeutung. Er stellte eine Art festes Einkommen dar, für die Verbraucher war die Milch als Hauptfettlieferant ein besonders wichtiges Grundnahrungsmittel. Die Landesbauernkammer stand als quasi-behördliche, öffentlich-rechtliche Berufsvertretung der Landwirtschaft vor einem Dilemma. Es rief deshalb Empörung bei den Kammerangehörigen hervor, als der Direktor der Kreisbauernkammer Oberbayern von seinem Dienstvorgesetzten Horlacher „abgekanzelt“ wurde, da er den niedrigen Milchpreis kritisierte135. Die von mehreren Bezirks- und Kreisbauernkammern unter Führung der unter Gandorfers Einfluss stehenden niederbayerischen Kreisbauernkammer erhobene Forderung nach Aufhebung der Reste der Zwangswirtschaft konnte zwar im Plenum der Landesbauernkammer am 2. Oktober 1920 noch mehrheitlich verhindert werden136. Die zunehmenden Proteste der Kammerangehörigen drohten Horlachers marktordnerische Politik jedoch zu durchkreuzen.

Als der Bund der Landwirte unter Führung Brügels nicht zuletzt unter dem organisationspolitischen Druck, den der BBB mit seiner erfolgreichen Agitation gegen die Lebensmittelbewirtschaftung auf den Bund der Landwirte auszuüben in der Lage war, in das Lager der Gegner der Lebensmittelbewirtschaftung wechselte137, verminderte sich der Handlungsspielraum der nach wie vor eher an der Weiterführung der Lebensmittelbewirtschaftung interessierten Vertreter des Bayerischen Christlichen Bauernvereins auf ein Minimum. Am 11. März 1921 gab das Plenum der Landesbauernkammer dem Druck von BBB und dem Bund der Landwirte nach. Einstimmig wurde die Aufhebung der Getreidebewirtschaftung gefordert, während sie von der Aufhebung der Milchbewirtschaftung noch abriet138. Dieser Entschluss wurde begünstigt durch die sinkenden Weltmarktpreise für Getreide. Dadurch wurden Getreideeinfuhren aus öffentlichen Mitteln ohne zusätzliche Anheizung der Inflation finanzierbar, wie Horlacher im Landtag zu bedenken gab139. Dabei wies er darauf hin, dass trotz Getreidebewirtschaftung niemand mehr mit den gesetzlichen Rationen auskomme und auf den Schwarzmarkt angewiesen sei. Er zog deshalb am 29. April 1921 im Landtag das Fazit: „Was heute noch an öffentlicher Wirtschaft vorhanden ist, das muß man klar erkennen, ist öffentliche Lüge!“140 Keinesfalls darf darin eine Stellungnahme für eine liberale Wirtschaftsordnung gesehen werden. Denn am 3. Juni

134 Sten. Ber. Bay. Landesbauernkammer Bd. 1, Sitzung am 2. Oktober 1920, 15f.

135 StadtA Regensburg, NL Heim 607, Bernhard Stark an Heim, 11. März 1921. Nach RATJEN, Bauernkammern, 153f. sei es oft vorgekommen, dass sachlich extreme Anträge der Bezirks- und Kreisbauernkammern im Dienstweg abgeschwächt wurden.

136 Sten. Ber. Bay. Landesbauernkammer Bd. 1, Sitzung am 2. Oktober 1920, 9–11.

137 Sten. Ber. Bay. Landesbauernkammer Bd. 1, Sitzung am 15. Januar 1921, 67–69.

138 Sten. Ber. Bay. Landesbauernkammer Bd. 1, Sitzung am 11. März 1921, 99f.

139 Verh. d. Bay. Landtags 1920–1924. Sten. Ber. Bd. 2, Sitzung am 29. April 1921, 910.

140 Verh. d. Bay. Landtags 1920–1924. Sten. Ber. Bd. 2, Sitzung am 29. April 1921, 909.

1921 machte Horlacher vor dem Plenum der Landesbauernkammer deutlich, dass er an der bürokratisch-autoritären Bewältigung der Agrarpolitik für ein „geordnetes Staatswesen“

festhalten wollte. Denn er hielt es für nötig, auch in Zukunft kontrollieren zu können, „ob die Produktion die richtigen Wege geht oder ob Fehler und Mängel in unserer Produktion vorhanden sind“141.

Unbeeinflusst von den Diskussionen in der Bayerischen Landesbauernkammer verfolgte Hermes seine Liberalisierungspolitik weiter. Während er die Milchbewirtschaftung im Sommer 1921 aufhob142, führte er die Getreidebewirtschaftung in Form eines Umlageverfahrens weiter. Nur ein Teil der Getreideernte – die so genannte Getreideumlage – sollte wie bisher zu behördlich festgelegten Preisen abgeliefert werden. Der Rest konnte zu Marktpreisen verkauft werden143. Horlacher lehnte das Umlageverfahren ab. Er sah darin eine

„schlimme Botschaft für die gesamte süddeutsche Landwirtschaft“144. Im Bayerischen Vaterland bezeichnete er das Umlageverfahren im Mai 1921 als „absurde Idee“. Der bürokratische Aufwand erschien ihm unverhältnismäßig. Vor allem aber erkannte er darin eine Benachteiligung Bayerns. Denn bei dem vorgeschlagenen Verfahren konnten Betriebe zwischen fünf und zehn Hektar nur über 14,09 Prozent umlagefreien Getreides verfügen, während Betriebe zwischen 50 und 100 Hektar über 48,69 Prozent umlagenfreien Getreides verfügten. Aufgrund der klein- und mittelbäuerlichen Struktur der bayerischen Landwirtschaft sprach Horlacher deshalb von einer „Bestrafung der bayerischen Landwirtschaft“145. Da die Reichsregierung den sensiblen Bereich der Ernährungspolitik aufmerksam beobachtete, wurde Horlachers Artikel vom Vertreter des Reiches bei der bayerischen Staatsregierung unmittelbar nach seinem Erscheinen in Berlin bekannt gemacht146. Da es mittlerweile zu einer Senkung der bayerischen Lieferverpflichtungen gekommen war, plädierte Horlacher in der Landesbauernkammer am 6. Juli 1921 jedoch für die Erfüllung der Umlagepflicht147. Dabei kam er den Erwartungen seiner landwirtschaftlichen Zuhörer entgegen, als er dies mit der Drohung verband, „daß die Landwirtschaft am Ende ihrer Geduld angelangt ist. Die Behörde kann in Zukunft machen, was sie will, sie wird nicht mehr die Zustimmung der landwirtschaftlichen Kreise finden.“148 Von der USPD wurde ihm diese Drohung prompt als Sabotage der Versorgung der Städte ausgelegt149. Obwohl Horlacher die Erfüllung der Getreideumlage in einem Aufruf als „Ehrenpflicht jedes bayerischen Landwirts“

141 Sten. Ber. Bay. Landesbauernkammer Bd. 1, Sitzung am 3. Juni 1921, 131–139.

142 Mitteilungen der Bay. Landesbauernkammer vom 7. Dezember 1922.

143 Vgl. MOELLER, Peasants, 99f.; SCHUMACHER, Land, 161–168.

144 HORLACHER, Botschaft (21. Mai 1921), 1.

145 HORLACHER, Botschaft (21. Mai 1921), 1 und HORLACHER, Botschaft (23. Mai 1921), 1.

146 BA Berlin, R707/67, Schreiben vom 4. Juni 1921.

147 Sten. Ber. Bay. Landesbauernkammer Bd. 1, Sitzung am 6. Juli 1921,199–202.

148 Sten. Ber. Bay. Landesbauernkammer Bd. 1, Sitzung am 6. Juli 1921, 203.

149 Verh. d. Bay Landtags 1920–1924. Sten. Ber. Bd. 4, Sitzung am 31. Januar 1922, 680.

bezeichnete150, wurde ihm mit dieser Kritik nicht Unrecht getan. Denn er war kaum in der Lage, die Wirkung seiner unbestimmten Drohung auf die aufgeheizten Gemüter der mit dem Umlageverfahren unzufriedenen Landwirte zu kontrollieren.

Horlacher befand sich in einem Dilemma zwischen den lautstark erhobenen agrarpolitischen Forderungen nach höheren Preisen und dem zunehmenden bäuerlichen Unmut über die Reste der Zwangsbewirtschaftung einerseits sowie der eigenen staatspolitischen Einsicht in die Notwendigkeit einer ausreichenden Lebensmittelversorgung zur „Herstellung von staatlicher Autorität und Ordnung“151 und dem Willen, dieses Problem bürokratisch-autoritär zu lösen, andererseits. Dieses Dilemma lässt sich besonders gut an der

Horlacher befand sich in einem Dilemma zwischen den lautstark erhobenen agrarpolitischen Forderungen nach höheren Preisen und dem zunehmenden bäuerlichen Unmut über die Reste der Zwangsbewirtschaftung einerseits sowie der eigenen staatspolitischen Einsicht in die Notwendigkeit einer ausreichenden Lebensmittelversorgung zur „Herstellung von staatlicher Autorität und Ordnung“151 und dem Willen, dieses Problem bürokratisch-autoritär zu lösen, andererseits. Dieses Dilemma lässt sich besonders gut an der

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