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Wenn wir auf die Wahrheit treten

Im Dokument Buddhismus im Alltag (Seite 20-24)

ie meisten Buddhisten erkennen die folgenden fünf Sittlichkeitsregeln an, die es in zahlreichen Variationen gibt. Es handelt sich dabei nicht um Gebote. Sie beschreiben vielmehr, welche moralische Haltung ein Mensch auf dem Weg zum Erwachen zwangsläufig einnimmt.

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Wer dem Weg folgt, tötet nicht.

Wer dem Weg folgt, nimmt nicht, was ihm nicht gegeben wird.

Wer dem Weg folgt, missbraucht die Sinne nicht.

Wer dem Weg folgt, spricht die Wahrheit.

Wer dem Weg folgt, berauscht weder sich noch andere.

Der Buddhismus kennt noch weitere Regeln. Grundsätzlich aber gilt: Wer moralisch denken, sprechen und handeln will, muss das, was er tut, aus Weisheit und Mitgefühl – aus dem Sehen heraus – tun und nicht, weil ihm bestimmte Regeln auferlegt wurden.

Es gibt eine Zen-Geschichte von einem Schüler, der sich ganz besonders bemühte, die buddhistischen Regeln einzuhalten.

Eines Nachts jedoch trat er im Dunkeln auf etwas, das beim Platzen ein schmatzendes Geräusch von sich gab, und er glaubte, auf einen laichtragenden Frosch getreten zu sein.

Sofort wurde er von Angst und Bedauern erfüllt, denn die Regeln verlangen ja, dass man nicht töten soll. Als er sich an jenem Abend schlafen legte, träumte er von Hunderten von Fröschen, die nun sein Leben für das des toten Frosches forderten.

Als der Morgen graute, kehrte er an den Ort des Geschehens

zurück und sah, dass er auf eine überreife Aubergine getreten war. Mit einem Mal war seine Verwirrung verschwunden.

Der Geschichte zufolge wusste er von Stund an, wie er Zen zu üben und die Regeln zu befolgen hatte.

Wie viele ernsthafte Buddhisten hatte dieser Schüler die Regeln fälschlicherweise für eine Art Lehrwerk oder Verhaltenskodex gehalten. Da er seine Ausbildung für beendet erachtet hatte und glaubte, die Regeln einhalten zu können, brachte er sich und andere in allerlei Schwierigkeiten. Er konnte zwar stundenlang über die Regeln sprechen, doch als er in jener Nacht auf etwas Glitschiges trat, brachte ihm sein Verständnis der Regeln kein bisschen Seelenfrieden und kein bisschen Stabilität. Im Gegenteil: Er quälte sich sogar unnötig mit Schuldgefühlen.

Der Fehler dieses Schülers lag darin, dass er zu wissen glaubte, was er eigentlich nicht wissen konnte. Er glaubte, auf einen Frosch getreten zu sein und ihn getötet zu haben, doch das war nicht der Fall. Er glaubte auch, die Regeln zu verstehen, lag aber auch in diesem Punkt falsch. Statt ehrlich zuzugeben, dass er keine Ahnung hatte, und sich dieser Unwissenheit zu stellen, dachte er in beiden Fällen, er wüsste Bescheid.

Weil er lediglich ein intellektuelles Verständnis von der Regel gegen das Töten hatte, stürzte er sich in tiefe Qualen. Er vergaß völlig, dass er in Wirklichkeit nicht wusste, worauf er getreten war, und statt mit dieser Ungewissheit zu leben, zimmerte er sich eine Erklärung für das Geschehen zurecht, glaubte daran und machte sich so selbst das Leben schwer.

Diese Geschichte erinnert uns daran, dass wir die Regeln, solange wir sie als rein theoretisches Konzept in uns tragen, nicht verstanden haben, denn sie lassen sich weder fassen noch in Konzepte verpacken.

Wenn wir die buddhistischen Regeln einhalten wollen, müssen wir einfach hier sein und unmittelbar am aktuellen Geschehen

teilnehmen und dürfen uns nicht in Gedanken oder Spekulationen verlieren. Wir müssen sehen, was in diesem Augenblick geschieht – einschließlich dessen, was sich in unserem eigenen Kopf abspielt.

Wenn wir keine Ahnung haben, was gerade geschieht – wenn wir zum Beispiel in der Dunkelheit auf etwas treten –, dann müssen wir uns dieser Unwissenheit ganz und gar bewusst sein.

Das ist der tiefere Hintergrund dieser Geschichte – zu wissen, wann man nicht weiß.

Wir denken oft, wir wüssten über etwas Bescheid, aber in Wirklichkeit entfernt uns unsere Vorstellung immer weiter vom tatsächlichen Geschehen. Das, was wir uns vorstellen, erscheint uns überaus real, und schon bald sind wir in unsere imaginären Sehnsüchte und Abneigungen verstrickt.

Doch wenn wir hier sind – wenn wir wirklich präsent sind –, erkennen wir, dass es nichts gibt, wovor wir davonlaufen oder dem wir nachlaufen müssten. Wir können unsere Ruhe behalten, selbst wenn wir aus Versehen auf einen Frosch getreten sind.

Verharre einfach in diesem Augenblick und sieh, was geschieht. Lerne deinen Geist kennen.

Diese Geschichte handelt davon, dass wir imaginäre Welten erschaffen und uns in ihnen verfangen. Dabei müssten wir nur genau hinsehen, um zu erkennen, dass die Welt nicht so ist, wie wir sie uns vorstellen – und dass sie es niemals sein kann.

Wir bemühen uns, unsere imaginären Welten zu kontrollieren und zu beherrschen. Wir legen allerlei Regeln und Vorschriften, Ziele und Werte fest, schreiben vor, was man tut und was nicht, und streben nach dem meisterhaften Umgang mit all diesen Dingen. Dabei verbrauchen wir sehr viel Zeit und Energie und sind doch so wenig achtsam.

Die buddhistischen Regeln sollen uns vergegenwärtigen, dass wir das ohne Unterlass tun. Sie lenken unsere Aufmerksamkeit auf das, was von Augenblick zu Augenblick geschieht – sie

drängen uns zu sehen, was genau jetzt in unserem Geist vor sich geht. Wohin neigt er sich – neigt er sich einer Sache zu oder von ihr ab?

Die Regeln helfen uns, in diesen Augenblick zurückzukehren – in dem wir die Wirklichkeit unmittelbar erfahren –, bevor wir anfangen, das Erlebte zu interpretieren.

Wir müssen immer wieder in diesen Augenblick zurückkehren, um zu sehen, was tatsächlich geschieht. Wenn wir das nicht tun, leben wir in einer Fantasiewelt, glauben, von den anderen getrennt zu sein, und konzentrieren uns ganz und gar darauf, unser Selbst zu beschützen und es zufrieden zu stellen.

Als der Schüler in dieser Geschichte die zertretene Aubergine sah, erwachte er blitzartig – und erkannte nicht nur, worauf er da eigentlich getreten war, sondern auch, dass er sich allerhand störende, unnötige Ängste und Vorstellungen eingebildet hatte.

Mit einem Mal sah er, was für geistige Welten er erschaffen hatte, und erwachte aus seinem Traum von Getrenntheit, Stolz und Schuld.

In einem solchen Augenblick – angesichts einer zertretenen Frucht, wenn wir den Klang eines Kieselsteins hören, der auf Holz trifft, oder wenn wir den Morgenstern sehen – kann jeder von uns erwachen. Nur unser Denken hält uns zurück.

3. Das Problem beim Ausmerzen des

Im Dokument Buddhismus im Alltag (Seite 20-24)