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Kein Geheimnis

Im Dokument Buddhismus im Alltag (Seite 46-51)

as Leben hat nichts Geheimnisvolles an sich, auch wenn wir immer etwas Geheimnisvolles dahinter vermuten.

Geheimnisse sind Schöpfungen, Produkte unseres Geistes.

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Die Art und Weise, wie wir Geheimnisse erschaffen, hat große Ähnlichkeit mit den Vorstellungen, die wir uns von Gott oder der Wahrheit oder der Wirklichkeit oder Buddha oder der Tugendhaftigkeit – von eigentlich allem – machen. Und wir machen sie uns, ohne uns dessen bewusst zu sein.

Geheimnisse entstehen immer dann, wenn wir geistige Gebilde erschaffen. Zum Beispiel schreiben wir der Vorstellung, die wir uns von Gott gemacht haben, alle möglichen Eigenschaften zu.

»Gott ist gut.«

»Gott hat einen Plan.«

»Gott hat etwas mit mir vor.«

»Gott ist männlich oder weiblich.«

Dabei gelangen wir früher oder später an einen Punkt, an dem wir Gott zu einem Rätsel erklären müssen. »Die Wege des Herrn sind unergründlich.«

Möglicherweise haben wir auch unsere Vorstellungen von gut und böse, von Himmel und Hölle, von Engeln und Teufeln. Und sie alle sind in den Mantel des Geheimnisses gehüllt, schlicht und einfach deshalb, weil wir sie in Begriffe gefasst haben. Wir haben sie uns ausgedacht.

In William Shakespeares Drama Der Sturm gibt es eine wunderschöne und oft zitierte Zeile: »Wir sind vom Stoff, aus dem die Träume sind; und unser kleines Leben beginnt und schließt mit Schlaf.« In dieser Zeile spricht Shakespeare zu uns, wie der Erwachte es wohl täte. In der buddhistischen Literatur finden wir häufig ähnliche Anspielungen auf die Erkenntnis,

dass das Leben wie ein Traum, wie eine Fantasievorstellung ist.

Die Erwachten sehen das. Eben deshalb werden sie als Erwachte bezeichnet, weil die Erleuchtung ist, als erwache man aus einem Traum. Die Alltagswirklichkeit ist wie ein Traum, doch dessen sind wir uns nicht bewusst. Wir sehen nicht, dass wir uns diese Wirklichkeit selbst gebastelt haben – dass sie eine reine Erfindung unseres Geistes ist.

Wenn wir aus einem Traum erwachen, hallt die Erfahrung, die uns nur wenige Augenblicke zuvor so lebendig erschienen war, noch in uns nach – die Farben, Geräusche, Gerüche und Gefühle. Doch der Nachhall schwindet schnell. Wir sagen:

»Es war nur ein Traum.«

Nur ein Traum … und was nun? Nun »bin ich wach. Dies ist die Wirklichkeit. Hier bin ich.« Für den Erwachten ist auch das ein Traum, eine Schöpfung unseres Geistes. Es ist nicht das volle Bewusstsein.

Wir wissen gar nicht, was vor sich geht. Wir verstehen nicht, worum es im menschlichen Leben geht. Wir verstehen die

»große Frage« nicht. Wir sind uns noch nicht einmal sicher, wie sie lautet.

Was ist der Sinn des Lebens? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Warum ist »etwas« das Gegenteil von »nichts«?

Wenn wir über diese Fragen nachdenken, kann uns die Welt in der Tat geheimnisvoll und traumähnlich vorkommen.

Wir müssen uns einfach nur umsehen, dann merken wir, dass wir überall von demselben Geheimnis, derselben Unwirklichkeit umgeben sind. Im Umkreis von fünf bis zehn Metern erscheint zwar alles deutlich – hell und klar. Doch sobald sich unser Blick weiter vorwagt, verlieren die Dinge allmählich ihre Konturen.

Wenn wir ganz weit in die Ferne blicken, sehen wir überhaupt nichts mehr. Wir wissen nichts vom menschlichen Leben;

offenbar wissen wir überhaupt nichts.

Wenn wir in die eigene Vergangenheit blicken, passiert dasselbe: Das Leben verblasst und verschwimmt. Mag sein, dass unsere Erinnerungen lebendig sind, doch es sind Erinnerungen an eine Welt, die es in diesem Augenblick nicht mehr gibt.

Nicht anders verhält es sich mit der Zukunft. Wir können spekulieren und überlegen, träumen und auf etwas warten, uns ängstigen und fürchten, und dennoch bleibt uns die Zukunft ein Rätsel.

Offenbar sind wir sowohl zeitlich als auch räumlich ganz und gar von Dunkelheit umgeben, und das nicht nur bildlich gesprochen, sondern im wahrsten Sinne des Wortes, als wenn wir zum Nachthimmel aufblicken und es uns scheint, als hülle die Finsternis uns ein.

Da sind wir nun und leben dieses Leben, das wie ein Traum ist. Sobald wir aus dem Lichtkegel unserer unmittelbaren Tätigkeiten – unserer unmittelbaren Umgebung, dessen, was uns gerade beschäftigt – heraustreten, wird es verschwommen und dunkel.

Der wache Mensch erfährt die Wirklichkeit völlig anders.

Geheimnisse verbergen sich lediglich in den Details dessen, was uns gerade beschäftigt: Wir sind uns nicht sicher, warum der Computer nicht funktioniert oder woher das Klopfen in der Garage kommt oder was mit dem Buch geschehen ist, das wir suchen – es stand doch immer in diesem Regal, an dieser Stelle.

Diese kleinen Bruchstücke der Dunkelheit sind niemals weit.

Doch für den Erwachten ist diese Dunkelheit – und sind auch wir selbst – von Licht umgeben. Es gibt nichts Geheimnisvolles.

Die Wirklichkeit ist klar, deutlich und (metaphorisch gesprochen) hell erleuchtet.

Das entdecken wir, wenn wir uns aufmerksam auf unsere tatsächliche Erfahrung konzentrieren. Solange wir uns an nichts klammern, gibt es kein großes Geheimnis.

Der Buddha sprach: »Jeder von euch sei sich selbst ein Licht.

Sucht eure Rettung nicht in einer äußeren Zuflucht.«

Warum? Weil es eine solche Zuflucht nicht gibt. Sie ist auch nicht nötig. Denn das, wonach wir streben und was uns erhalten und helfen soll, ist lediglich ein Produkt unserer eigenen Fantasie. Es wird uns letzten Endes nur behindern und das Gefühl von Verwundbarkeit aufrechterhalten.

Viel besser ist es, wenn wir die Situation, in der wir uns befinden, einfach betrachten und unmittelbar sehen, was vor sich geht. Wenn wir uns ehrlich und ernsthaft darum bemühen, werden wir feststellen, dass wir bereits geborgen, vollkommen und ganz sind und alles haben, was wir tatsächlich brauchen.

Wenn wir glauben, ein kleines Selbst zu sein, haben wir uns in unserem eigenen Denken verheddert, ohne uns dessen bewusst zu sein. All das ist lediglich ein Gebilde unseres Geistes, das aus dem tiefen Verlangen entsteht, diese Vorstellung, die wir als

»Ich« bezeichnen, zu beschützen. Wir erkennen nicht, welch großes Unbehagen wir uns dadurch bereiten, dass wir unsere Erfahrung auf diese Weise deuten. Wir versuchen nur noch, dieses kleine Selbst vor dem großen Geheimnis zu beschützen, das wir um es herum erschaffen haben, und es zufrieden zu stellen. Offenbar fällt uns nur selten auf, dass diese Zufriedenheit niemals anhält.

Ein Gedicht von Jacques Prévert fasst diese grundlegende Verwirrung recht schön zusammen. Darin heißt es:

Ich bin, wie ich bin.

Was kann ich dafür?

Mehr ist nicht drin.

Was wollt ihr von mir?

»Was kann ich dafür?« Wofür? Nichts bleibt, wie es ist. Das können wir sehen.

»Was wollt ihr von mir?« Was von uns erwartet wird (und was

wir selbst von uns erwarten sollten, wenn wir lieber glücklich als von diesem imaginären Selbst geplagt sein wollen, dem wir glauben Freude bereiten und Schutz geben zu müssen), ist, ein Buddha – also wach – zu sein.

Und was ist ein Buddha? Die Wirklichkeit. Die volle Wirklichkeit. Das Ganze. Nichts Besonderes.

Also leben wir doch lieber, als wüssten wir, was wahr ist – als wüssten wir, dass es keine Trennung, keinen Unterschied zwischen uns und der Wirklichkeit gibt!

Denn dann verliert das Leben sein Geheimnis. Das entsteht nur dadurch, dass wir uns abschotten, die Welt in dieses und jenes aufteilen, uns selbst von allem anderen abgrenzen.

Wirklichkeit ist kein Gedanke. Wirklichkeit findet nicht im Kopf statt. Wirklichkeit ist nichts, was du dir vorstellen kannst.

Wirklichkeit ist unmittelbares Erleben.

Wirklichkeit ist, was ist. Wahrheit ist, was ist. Die eigentliche Frage lautet: Was bist du?

Im Dokument Buddhismus im Alltag (Seite 46-51)