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Die Nadel im Wasser

Im Dokument Buddhismus im Alltag (Seite 134-140)

anadeva, der später der 15. Zen-Patriarch werden sollte, begab sich zu Nagarjuna, dem 14. Patriarchen, in der Hoffnung, sein Schüler zu werden. Wie Nagarjuna stand Kanadeva in dem Ruf, sehr weise zu sein, und wie Nagarjuna liebte er die Rhetorik, die Philosophie und das Streitgespräch.

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Das wusste Nagarjuna, als Kanadeva ihn aufsuchte, und er dachte sich: »Sehen wir einmal, wie weise er wirklich ist. Ich werde ihn auf die Probe stellen.« Nagarjuna wies einen Diener an, eine Schale bis zum Rand mit Wasser zu füllen und sie Kanadeva zu bringen, der sich dem Tor näherte. Nagarjuna wollte von einem Fenster aus beobachten, was Kanadeva tat.

Als der Diener Kanadeva die Schale mit Wasser darbot, zog Kanadeva eine Nadel hervor und legte sie hinein. Dann nahm er die Schale und brachte sie dem hocherfreuten Nagarjuna. Die beiden lachten herzlich. Sie hatten den gleichen Geist und verstanden einander voll und ganz.

Danach reisten Nagarjuna und Kanadeva zusammen umher, und manchmal lehrten sie sogar gemeinsam.

Es gibt viele Interpretationen von Nadel und Schale, wonach die Schale ein Symbol für das eine und die Nadel ein Symbol für das andere ist. Manchmal heißt es etwa, die Schale stünde für die Erkenntnis oder die Erleuchtung und die Nadel für den Wunsch zu erwachen. Wenn wir nicht aufpassen, verfangen wir uns leicht in solchen Begriffen, ohne die Geschichte richtig zu verstehen. Wir müssen tiefer graben.

Erstens war die Schale randvoll mit klarem, reinem Wasser.

Obwohl die Schale voll war, konnte Kanadeva den Boden sehen.

Sie war ein Ausdruck von Leere, von Ganzheit.

Nagarjuna ließ Kanadeva ein konkretes Symbol der Ganzheit

des Lebens, der Wirklichkeit überreichen, und Kanadeva verwies umgehend auf den anderen, komplementären Aspekt unseres Lebens – die Welt des Alltags, von diesem und jenem, von Nutzen und Funktion. Der Alltag durchdringt die Ganzheit von oben bis unten, ohne dass die Ganzheit überläuft, ohne dass etwas ausgelassen wird. Somit ergänzte Kanadeva Nagarjunas Botschaft auf vollkommene Weise.

In der Zen-Überlieferung wird Nagarjuna oft als der Vollmond (der Erleuchtung) oder wie hier als volle Schale dargestellt.

Darüber hinaus bedeutet Kanadeva »der Einäugige«, und in der Zen-Literatur wird darauf hingewiesen, dass auch eine Nadel nur ein Öhr hat. Das eine Auge Kanadevas wird zudem oft als Auge der Nichtdualität bezeichnet.

Sehen wir uns die Geschichte noch genauer an. Eine Nadel ist etwas Nützliches. Sie hat einen Sinn und einen Zweck. Das ist normal und richtig. Doch in dem Augenblick, in dem wir in die Dimension der Nützlichkeit, des Sinns und Zwecks – das heißt die absichtsvolle Welt – eintreten, sehen wir überall Vielfalt und Dualität und lassen uns auch leicht davon täuschen.

Möglicherweise gehen wir stillschweigend davon aus, dass die Welt nur aus Vielfalt und Dualität besteht.

Doch wir Menschen sind in der Lage, mehr als das zu sehen.

Wir können sehen, dass Dualität und Ganzheit, Verblendung und Erleuchtung, Samsara und Nirvana nicht zweierlei sind.

Wir Menschen leiden unter dem Problem des Selbst – das heißt wir glauben, wir seien allein und verlassen auf der Welt, umgeben von fremden Dingen. Das erfüllt uns mit Sehnsucht, Vorliebe und Ablehnung. Dennoch sind wir alle in der Lage, mit dem Auge der Nichtdualität zu sehen, mit einem Auge, welches das Leben in seiner Ganzheit vollständig durchdringen kann.

Wir können die Welt als ein Ganzes erfahren. Das drückte Kanadeva aus, als er die Nadel ins Wasser legte.

Wenn ich eine solche Linie

ziehe und die Leute frage, was das Gegenteil davon ist, zeichnen die meisten eine Linie

Doch wenn wir uns das Ergebnis ansehen, erkennen wir, dass beide Linien im Grunde gleich sind.

Dieses Beispiel verrät, wie wir normalerweise denken und sehen. Wir sehen das eine und leiten daraus ab, was wir für das Gegenteil halten.

Doch dieses angebliche Gegenteil sieht oft ähnlich, wenn nicht sogar gleich aus.

Religiöse Fanatiker zum Beispiel machen heftig Propaganda für ihre Ansichten, sind dem Standpunkt anderer gegenüber aber oft intolerant. Unterdessen mokieren sich andere Leute über deren Engstirnigkeit. Doch wenn wir uns ganz genau ansehen, was diejenigen denken, die sich mokieren, dann ist das praktisch mit dem Denken der Fanatiker identisch:

»Ihr seid ganz und gar im Unrecht. Wir kennen die richtige Art zu leben, ihr nicht.« Sie spiegeln die Menschen, deren Intoleranz sie kritisieren. Das ist die Art von Denken, in die wir oft verfallen, wenn wir uns als einzelne kleine, vom Ganzen abgetrennte Teile sehen.

Das Gegenteil einer solchen Linie

könnte eine solche Linie sein:

Sie ist nicht mehr gerade, unveränderlich, sondern schwankt, wechselt die Richtung, ist in Bewegung.

Auch in diesem Beispiel finden wir das Wasser und die Nadel wieder. Wir haben zum einen etwas Gerades, Kontinuierliches.

Und wir haben zum anderen das Gegenteil, etwas, das sich schlängelt und windet. Zusammen ergeben diese beiden Elemente die Wirklichkeit.

Wenn uns ein solches Muster oder Zusammenspiel begegnet, spricht es uns normalerweise unmittelbar und oft auf einer sehr tiefen Ebene an.

Es ist Bestandteil vieler Musikstile und Chorgesänge, in denen ein monotoner Bass von einer Melodie überlagert wird. Meist finden die Menschen ganz natürlich an einer solchen Musik Gefallen.

Dieses Muster macht etwas deutlich, das wir alle tief im Herzen wissen: dass unser Leben einen kontinuierlichen, unveränderlichen Aspekt besitzt. Es ist nichts Besonderes. Es ist das Ganze. Es ist zutiefst friedlich. Gleichzeitig lässt es sich nicht von dem Auf und Ab und den Kleinigkeiten des Lebens trennen – von all den Dingen, die sich ständig verändern, die schwanken, kommen und gehen.

Unser Fehler ist, dass wir uns die meiste Zeit über ganz und gar im Schwanken, im Kommen und Gehen verlieren. Wir vergessen den ruhigen, gleich bleibenden Hintergrund der Wirklichkeit. Wir verlieren die Schale aus den Augen. Folglich übersehen wir das, was Nagarjuna uns sagen möchte. Wir bezeichnen es vielleicht sogar als zu theoretisch, abstrakt und komplex.

Doch das ist es ganz und gar nicht. Das sehen wir falsch. Nicht die Wirklichkeit ist theoretisch und abstrakt, sondern wir Menschen, die wir uns in Begriffen verlieren.

Der Zenlehrer Keizan Jokin, der viele Geschichten über die alten Zen-Patriarchen zusammentrug, merkt an: Wenn man Nagarjunas Wasser trinkt, ohne zu wissen, dass sich eine Nadel darin befindet, bleibt einem die Nadel im Hals stecken.

Wir verlieren uns leicht in Einzelheiten, in speziellen Details, in unseren Gedanken und Gefühlen, in der Welt von Sinn und Zweck. Dann denken wir, wir müssten etwas tun – uns korrigieren, die Welt in Ordnung bringen, die Dinge klären, andere Leute auf den rechten Weg bringen.

Stattdessen müssen wir uns unseres getriebenen Geistes bewusst werden.

Bemerkenswert an dieser ersten Begegnung zwischen Nagarjuna und Kanadeva ist, dass ihre Kommunikation nicht nur unmittelbar, sondern auch ohne Worte war.

Wir leben, als sei unser Leben – und die Erleuchtung und die Wirklichkeit – etwas, das wir wie durch ein Fenster oder auf einem Fernsehbildschirm betrachteten. Wir leben, als hätten wir einen gewissen Abstand zu der unmittelbar erlebten Situation.

Oder um es mit dem chinesischen Zenlehrer Tungshan zu sagen:

Wir leben unser Leben, als seien wir der Gast, nicht der Gastgeber.

Doch die Wahrheit ist stets bei uns. Wir müssen nur erwachen und sie sehen. Du kannst sie nicht suchen oder finden, als sei sie getrennt oder fern von dir.

Das Leben, das wirklich dir gehört, ist untrennbar mit der ganzen Welt verbunden. Das Juwel ist in deiner Tasche. Es war die ganze Zeit über dort. Es bestand nie die Notwendigkeit, es zu suchen.

Unsere Aufgabe ist es, uns um diesen Augenblick zu kümmern. Unsere Aufgabe ist immer dieser Augenblick.

Am Ende musst du Zen selbst leben und das Leben in die Arme schließen, das du wirklich lebst. Niemand wird dich an der Eingangstür kontrollieren. Du kannst jetzt aus freien Stücken eintreten. Du musst es nur tun.

Wenn du das erkennst, wirst du dein Leben allmählich aus einer anderen Haltung, einer anderen Einsicht, einem anderen Verständnis her leben. Von außen sieht es ganz normal aus. Du nimmst immer noch Nahrung zu dir, atmest Luft, gehst zur Arbeit. Doch in dir herrscht ein völlig anderes Bewusstsein für das, was tatsächlich vor sich geht. Dein Leben sind nicht deine Ziele oder deine Erinnerungen oder diese paar Kubikzentimeter Fleisch. Dein Leben ist einfach das, was hier und jetzt geschieht, und darin gibt es kein Innen und kein Außen.

Darüber hinaus wirst du sehen, dass es schon immer so war.

Das sind die Nadel und das Wasser. Sie sind nicht ein und dasselbe, aber sie sind auch nicht zweierlei.

Im Dokument Buddhismus im Alltag (Seite 134-140)