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Schluchten und Kiefernberge

Im Dokument Buddhismus im Alltag (Seite 65-69)

n der Zenpraxis geht es darum, wach zu sein, bewusst zu sein. Doch wie stellen wir das an? Wie erwacht man? Und was bedeutet es eigentlich, wach zu sein? Sind wir denn jetzt nicht wach?

I

Huang-po, der bereits zitierte chinesische Zenmeister, sagte:

Ebenso werdet ihr Schüler des Weges, wenn ihr euren wirklichen Geist nicht als Buddha erkennt, diesen überall suchen, euch auf verschiedenste Handlungen und Übungen einlassen und durch solche stufenweisen Praktiken das Ziel zu erreichen suchen. Aber selbst nach Äonen eifrigster Suche werdet ihr nicht im Stande sein, den Weg zu finden.

Und genau so ist es. Wir überlagern unsere direkte Erfahrung der Wirklichkeit mit der Vorstellung, die wir uns von ihr gemacht haben, und weil wir das so gut können und kaum etwas davon merken, sind wir uns dessen nicht einmal bewusst.

Folglich leiden wir an chronischer Verwirrung.

Nehmen wir irgendein Objekt – einen Berg, den Himmel oder einen Alltagsgegenstand wie zum Beispiel eine Teeschale.

Normalerweise denken wir: »Das ist nur eine Schale.« Oft ist uns der Gegenstand so vertraut, und wir können ihn so schnell einordnen, dass wir ihn kaum wahrnehmen. Wir kochen eine Kanne Tee und gießen uns blind eine Schale davon ein, ohne einen Gedanken an das zu verschwenden, was wir eigentlich tun, und ohne diesem Vorgang viel Aufmerksamkeit zu schenken. Wir verhalten uns so, weil wir zu »wissen« glauben, dass es nur eine Schale ist, nichts weiter.

Doch wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf unsere tatsäch-liche Erfahrung richten, ist es eben nicht nur eine Schale. Wenn

wir hinsehen, finden wir das ganze Universum genau hier, in dieser Schale. In dieser Schale gibt es, wie der Sufidichter Kabir sagen würde, »Schluchten und Kiefernberge«.

Die Teeschale ist nicht von alleine entstanden. Irgendjemand hat etwas Ton genommen und sie getöpfert. Und irgendjemand hat die Töpferscheibe gebaut. Und dann ist da noch der Baum, der als Brennholz für das Feuer des Ofens diente. Und die Sonne und der Regen und die Erde, die diesen Baum wachsen ließen.

Wenn wir sehen, dass all das Einfluss auf die Teeschale hatte, können wir sie tatsächlich erfahren. Wir können sehen, was die Schale wirklich ist – womit ich sagen möchte, dass sie eigentlich nichts Besonderes ist.

Versuche einmal, etwas ganz genau festzunageln. Es geht nicht. Es ist, als wollte man eine Antwort auf die Frage finden:

»Bist du das Baby auf dem Foto?« Was kannst du darauf schon erwidern? Du könntest sagen: »Ja, das bin ich.« Aber ganz offensichtlich bist du es nicht. Du bist ja kein Baby. Was, wenn du die Frage verneintest? Wer ist dann da auf dem Foto?

Und wenn du sagst: »Das war ich«, wie kannst du noch derselbe sein, wenn du sechsmal so groß und inzwischen sehr viel wortgewandter bist? Und was könnte damit gemeint sein, wenn du sagst: »Ich bin es und bin es nicht«? Hast du schon einmal etwas gesehen, das zugleich das ist, was es ist, und das, was es nicht ist? Und wenn das auf dem Bild weder du noch nicht du bist, worüber sprechen wir dann überhaupt? Wenn wir es ganz genau nehmen, bereiten uns solche einfachen, alltäglichen Fragen Kopfschmerzen.

Die Dinge haben nichts Absolutes, niemals, obwohl wir das gerne denken. Wir gehen stillschweigend davon aus, eine Teeschale sei eine Teeschale. Doch wo sollen wir die Grenze zwischen der Teeschale und allem anderen ziehen? Wenn wir ganz genau hinsehen, werden wir erkennen, dass es nicht möglich ist, eine solche Grenze zu ziehen.

Alles, was wir in unserem Geist in Schubladen packen, was wir festnageln und von anderen Dingen abgrenzen können, ist ein Konzept. Weil wir unsere Konzepte für die Wirklichkeit halten, geraten wir so oft in Schwierigkeiten.

Und wieder stellt sich die Frage: Wie können wir erwachen?

Zuerst einmal müssen wir es wollen. Doch erwachen zu wollen ist etwas ganz anderes, als sich ein Auto oder einen neuen Job oder Respekt oder Liebe zu wünschen. Wenn wir wirklich erwachen wollen, sind all die anderen Dinge nicht von Belang. Der Wunsch zu erwachen ist kein gewöhnlicher Wunsch. Wenn wir erwachen und die Welt sehen wollen, wie sie wirklich ist, müssen wir uns dem gegenwärtigen Augenblick – der Wirklichkeit dieses Augenblicks – ganz und gar öffnen und uns zugleich voll und ganz bewusst sein, dass wir uns keine Vorstellung von der Wirklichkeit machen können. Wir können nur erwachen, indem wir sehen, nicht indem wir uns dazu zwingen oder unseren Willen einsetzen. Wir müssen bereit sein, uns von allen lieb gewonnenen Ansichten zu trennen.

Wenn wir nach der Erleuchtung streben, als erwarteten wir eine Art Lohn für unser Verhalten, frustrieren wir uns nur selbst.

Wenn du wirklich erwachen willst, dann erwache.

Beginne damit, den Gegenständen in deinem Leben Beachtung zu schenken. Achte auf das, was du denkst, glaubst, dir vorstellst – was du in deinem Geist erschaffst. Achte dann auch darauf, wie verwirrend, wie widersprüchlich und allgegenwärtig die Schöpfungen deines Geistes sind.

Wenn wir erst einmal verstehen, was vor sich geht, werden wir nicht mehr so sehr an lieb gewonnenen Meinungen festhalten, weil wir sehen, dass uns alles, wonach wir greifen, wie Wasser durch die Finger rinnt. Wir wissen, dass wir mit den Schöpfungen unseres Geistes nicht weit kommen werden, ehe sie zerfallen und unbrauchbar werden.

Das Universum ist nicht geheimnisvoll. Die Wirklichkeit liegt

jederzeit offen vor uns. Nichts ist verborgen. Wenn unsere Gedanken nicht wären, sähen wir die Wirklichkeit.

Der wahre Pfad befindet sich genau jetzt geradewegs vor deiner Nase. Du musst dich nur auf das konzentrieren, was wirklich vor sich geht – und es nicht zu sehr komplizieren.

Öffne das Auge deiner Weisheit und sieh.

Im Dokument Buddhismus im Alltag (Seite 65-69)