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Bevor wir sprechen

Im Dokument Buddhismus im Alltag (Seite 129-134)

er, Subhuti, wird diese vollkommene Weisheit begreifen, wie sie hier dargelegt ist?«

Worauf der erwürdige Ananda antwortete: »Diejenigen, die nicht zurückfallen können, werden sie begreifen, oder Menschen, die zu gesunden Ansichten gelangt sind …«

W

»Niemand«, sagte Subhuti, »wird diese vollkommene Weisheit begreifen, wie sie hier dargelegt ist. Denn es wurde nichts dargelegt, erhellt oder mitgeteilt. Deshalb wird sie niemand

begreifen.«

Aus dem Ashta sahasrika Sutra Vor den Ereignissen sieht der Weise oft wie ein Narr aus.

Danach sieht der Experte oft wie ein Narr aus.

Ein paar Beispiele: Mitte der achtziger Jahre explodierte das sowjetische Atomkraftwerk in Tschernobyl, und radioaktive Substanzen verteilten sich über den ganzen Globus. Knapp ein Jahr zuvor hatte uns der zuständige sowjetische Volkskommis-sar versichert, Atomkraftwerke seien sicher. Dabei hatte er aus-drücklich von dem Werk in Tschernobyl gesprochen und gesagt, ehe es zu einem einigermaßen folgenschweren Unfall käme, müssten zehntausend Jahre vergehen.

Nur wenige Monate vor der Explosion des Spaceshuttles Challenger hatte ein NASA-Mitarbeiter versichert, erst nach vielen zehntausend Starts würde ein Raumschiff beim Start explodieren. Und doch wurden wir inzwischen tragischerweise zum zweiten Mal Zeugen des katastrophalen Versagens eines Spaceshuttles – dieses Mal beim Wiedereintritt in die Atmosphäre, der unter Experten als weit weniger riskant gilt als der Start.

Vor nicht allzu langer Zeit versicherten uns Experten, dass wir vor Bioterrorismus sicher seien. Seither gab es jedoch etliche von Milzbranderregern verursachte Erkrankungen und Todesfälle, und von der US-Regierung wurden umgehend 300 Millionen Dosen Pockenschutzimpfungen geordert.

In allen diesen und vielen anderen Fällen übersahen oder ignorierten Menschen, die angeblich Bescheid wussten, was für jeden, der einfach sehen kann, offensichtlich ist. Darüber hinaus wird immer deutlicher, dass solche blinden Flecken immer gefährlicher werden.

Doch das liegt in der Natur des Wissens, wie wir es gemeinhin verstehen. Denn damit die Experten eine bestimmte Meinung vertreten können, müssen sie einige Aspekte ausklammern oder gänzlich ignorieren. Da ist kein Platz mehr für Weisheit – denn die Weisheit vertritt nichts – ebenso wenig wie die Wirklichkeit – und klammert nichts aus.

Einst fragten unsere Anführer weise Menschen um Rat. Heute verlassen sie sich vorwiegend auf Experten. Das ist aus zwei Gründen verständlich: (1) Ob jemand ein Experte ist oder nicht, lässt sich leichter bescheinigen und nachprüfen, und (2) die weisen Menschen machen keine Werbung für sich.

Das Problem ist nicht, dass Experten keine wichtigen Auf-gaben erfüllen, denn das tun sie sehr oft. Das Problem ist, dass Experten unsere Aufmerksamkeit nicht auf die Wirklichkeit, die Wahrheit oder das Ganze lenken. Ihr Wissen beschränkt sich auf einen begrenzten Bereich, weshalb sie uns nicht dahin bringen können, dass wir selbst sehen, was tatsächlich vor sich geht.

Genau genommen lenken sie unseren Geist sogar ungewollt davon ab.

Wer ein Experte werden möchte, muss zunächst sein Gebiet eingrenzen. Folglich haben Experten ihre ganz eigenen und in sich stimmigen Argumente, die sie in einer Sprache vorbringen, die oft nur andere Experten auf dem Gebiet beherrschen. Zudem

sind ihre Aussagen üblicherweise nachprüfbar, klar und vor allem nicht paradox (und wir halten sie deshalb für wahr). Doch weil sie einen begrenzten Bereich nicht überschreiten, lassen ihre Schlüsse unweigerlich die unbegrenzte, fließende Wahrheit und Wirklichkeit außer Acht.

Mit anderen Worten, wir können uns so viele begriffliche Modelle ausdenken, wie wir wollen. Die Wirklichkeit können sie letzten Endes niemals ersetzen. Wir sind vielleicht versucht, diese Beobachtung mit einem Achselzucken abzutun, doch es kann verheerend sein, ihre Auswirkungen zu ignorieren.

Wenn wir uns freiwillig auf den begrenzten Bereich einer Luftblase beschränken, fällt es uns schwer zu sehen, dass unser ganzes begriffliches Wissen auf einem riesigen Meer mit zahllosen weiteren Luftblasen schwimmt. Wenn wir in einer Luftblase sitzen, werden wir kaum erkennen können, dass wir die Wahrheit erst sehen, wenn die Luftblase platzt.

Aber früher oder später platzt jede Luftblase. Wenn es so weit ist, tun wir gut daran, dem Drang zu widerstehen, uns sofort in eine neue Blase zu flüchten.

Am besten wäre es, wenn wir die Luftblase selbst zum Platzen brächten. Doch das schaffen wir weder mithilfe von Intrigen noch mit Plänen oder dem einfachen Versuch. Es gelingt uns nur, wenn wir sehen.

Die Erwachten sehen die Wirklichkeit – die Wahrheit –, bevor sie interpretiert wird. Was sie über dieses Sehen zu sagen haben, heißt der Dharma.

Der Dharma lässt sich weder konkretisieren noch in Begriffe fassen. Er lässt sich weder in einem Satz noch mit einem Wort einfangen. Er lässt sich nicht als Theorie, als Diagramm oder in einem Buch erklären – auch nicht in diesem.

Demnach muss sich jede Lehre, die sich mit der Wahrheit beschäftigt, am Ende selbst auslöschen. Indem sie sich selbst auslöscht, bezieht sich eine solche Lehre – Dharma –

zwangs-läufig auf sich selbst. (Ich verdeutliche das oft damit, dass jemand mit der rechten Hand etwas auf eine Tafel schreibt und es gleich danach mit der linken Hand wieder löscht.) Das kann sie paradox oder widersprüchlich erscheinen lassen. Dabei ist sie gar nicht paradox oder widersprüchlich.

Im Gegensatz zu den üblichen Lehren, die als nützlich und dauerhaft angeboten werden, werden Dharma-Lehren in dem Verständnis erteilt, dass sie vergehen – dass sie lediglich ein Notbehelf und nur vorübergehend von Nutzen sind. Buddha zum Beispiel verglich seine Lehre mit einem Floß, das zum Überqueren des Flusses nötig ist. Wenn es seinen Zweck erfüllt hat – wenn der Fluss überquert ist –, sollte man es zurücklassen.

Andernfalls wird es zu einer unnötigen Last.

Leider vergessen viele Menschen, dass auch Dharma-Lehren nur ein Notbehelf oder ein Fingerzeig sein können. Wir denken:

»Das ist doch eine altehrwürdige Lehre! Wieso sollte ich mich davon wieder trennen? Das ergibt keinen Sinn!«

Und wir wenden uns von den Lehren ab, die direkt und ohne Hintergedanken auf die Wahrheit verweisen, und greifen statt-dessen Ansichten auf, die wir leichter begreifen und an denen wir besser festhalten können. Wir sind es nicht gewohnt, einfach zu sehen.

Wenn wir den Dharma verwerfen, haben wir noch nicht erkannt, dass unsere Konzepte im Grunde nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben – niemals. Wir sehen auch nicht, dass gerade der Wunsch, Paradoxa, Unbegreiflichkeiten und stän-digen Wandel zu vermeiden, uns daran hindert, Wahrheit oder Wirklichkeit zu sehen.

Im Gegensatz zum Dharma räumen die üblichen Lehren die Existenz von Paradoxa und ständigen Wandel nicht ein und haben auch keine Erklärung dafür. Sie versuchen vielmehr, ihr Thema festzunageln, es solide und vernünftig erscheinen zu lassen. Aber jede Lehre, die sich auf diese Art darstellt – ob es

dabei nun um Politik, Wirtschaft, Psychologie, Religion, Wissenschaft oder Kfz-Mechanik geht –, will einer Sache Dauer verleihen, die unweigerlich vergeht.

Wenn wir glauben, unsere Vorstellungen und Begriffe entsprächen dem tatsächlichen Geschehen – wenn wir glauben, wir könnten die Wahrheit tatsächlich zu fassen bekommen –, irren wir uns. Die Wahrheit lässt sich einfach nicht beschreiben, in ein Modell verpacken oder darstellen. Aber man kann sie sehen.

Wir wollen die Wahrheit unbedingt finden, suchen sie aber fälschlicherweise in Begriffen, Worten oder Sätzen. Wir tun, als könnten wir sie in die Tasche stopfen und ab und zu hervorziehen, um sie den Leuten zu zeigen.

Doch während wir uns abmühen, das zu propagieren und zu schützen, was wir für die blendende Schönheit in unserer Tasche halten, enthüllt uns die Wahrheit weiterhin nur ein ständiges Fließen – vollständige Relativität, unaufhörlichen Wandel.

Für den Dharma gibt es keine Experten. Du kannst kein Experte für Wahrheit werden. Du kannst dein Leben nicht meistern.

Aber du kannst erwachen.

Im Dokument Buddhismus im Alltag (Seite 129-134)