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Wie man auf der Stelle Befreiung erlangt

Im Dokument Buddhismus im Alltag (Seite 195-200)

aizhang, ein großer chinesischer Zenlehrer aus dem achten Jahrhundert, sagte einmal, wenn wir erkennen könnten, dass zwischen unseren Sinnen und der Außenwelt keinerlei Zusammenhang besteht, wären wir auf der Stelle frei.

B

Die meisten von uns finden diese Äußerung seltsam. Wir denken, dort draußen gäbe es eine Welt. Eine Welt, die wir durch die Tore unserer Sinne in uns aufnehmen. Als Mensch hat man den Eindruck: »Ich bin hier drin und bekomme Informationen über eine Welt dort draußen. Ich kann sie sehen.

Ich kann sie hören. Ich kann sie riechen, schmecken und berühren.« Das Gefühl der Trennung ist ziemlich stark. Doch woher kommt es?

Dieses Gefühl ist das Bewusstsein selbst. Einfach gesagt ist Bewusstsein die Wahrnehmung eines Objektes (in diesem Fall dessen, was wir als Außenwelt bezeichnen) und eines Subjektes (in diesem Fall dessen, was wir als Ich hier drinnen bezeichnen).

Doch sowohl das Objekt als auch das Subjekt – als unabhängige, voneinander getrennte Größen – sind Schöpfungen unseres Geistes. In der tatsächlichen Erfahrung gibt es keine Grenze zwischen dem »Hier« und dem »Dort«, zwischen dem, was ich als Ich bezeichne, und dem, was ich Außenwelt nenne. Sowohl Subjekt als auch Objekt sind vom Geist erzeugte Illusionen.

Es gibt einen Zen-Aphorismus, der besagt: »Was durch die Tore hereinkommt, ist ein Fremder.« Die Tore sind die Sinne, und alles, von dem wir glauben, es käme durch sie herein, halten wir für fremd und von uns getrennt. Doch das kommt nur daher, dass wir eine begriffliche Trennung zwischen dem vollzogen haben, was wir als unsere Sinne bezeichnen, und dem, was wir als Außenwelt bezeichnen.

Baizhang weist korrekterweise darauf hin, dass keinerlei Zusammenhang zwischen unseren Sinnen und der Außenwelt besteht. Wenn wir einen Zusammenhang sehen, setzt das eine Zweiheit voraus – ich hier drinnen und die Welt dort draußen –, die irgendwie verbunden werden kann. Doch Baizhang sagt, dass es diese Zweiheit gar nicht gibt.

Die Wirklichkeit ist immer genau hier, genau jetzt. Sie ist nur dies – lebendige, unmittelbare Erfahrung. Dies kommt nicht durch irgendwelche Tore herein. Wie könnte es auch, wenn es niemals draußen war? Es ist uns vertraut. Es ist der Geist selbst.

Wir können diese Erfahrung als »Flugzeug« oder »Vogel« oder

»Liebe« oder »Angst« bezeichnen, doch in Wirklichkeit ist es einfach nur dies, das im Geist entsteht.

Die meiste Zeit freilich überlagern wir das Unmittelbare, Wirkliche mit etwas anderem. Wir benutzen die unmittelbare Erfahrung als Projektionsfläche und geben der Projektion eine räumliche und zeitliche Dimension. Auf diese Weise erschaffen wir ein Subjekt und Objekte, und anschließend entstehen in Bezug auf diese Objekte Vorlieben und Abneigungen in unserem Geist. So verwechseln wir die Welt, die wir in unserem Geist erschaffen und nach »dort draußen« projiziert haben, mit der Wirklichkeit.

All das läuft darauf hinaus, dass wir die Welt nicht erleben, wie sie wirklich ist. Stattdessen reagieren wir auf die Welt, wie wir sie sehen – oder noch schlimmer, wie wir sie uns vorstellen oder erträumen. Wir leben unser Leben in unserer Fantasie und reagieren auf unsere Vorstellungen von der Welt statt auf die tatsächliche, unmittelbar wahrgenommene Wirklichkeit.

Trotz alledem siehst du die Welt die ganze Zeit genau so, wie die Erwachten sie sehen. Es gibt keinen Unterschied zwischen dem, was die Erwachten sehen, und dem, was jeder von uns sieht. Die Wahrnehmung ist für uns alle gleich. Doch die Erwachten lassen es bei der Wahrnehmung bewenden, statt sie durch ihre geistigen Schöpfungen oder Vorstellungen von der

Wirklichkeit zu ersetzen.

Obwohl sie sich in unzähligen Formen manifestiert, gibt es nur eine Wirklichkeit – wie könnte es auch anders sein. Und jeder, der sieht, sieht dasselbe.

Das heißt nicht, dass die Vielfalt der Welt, die uns überall umgibt, nicht wirklich wäre. Das heißt nicht, dass das Flugzeug über deinem Kopf ein Phantom ist oder es die Seite, die du liest, nicht gibt. All das ist durchaus wirklich. Doch wenn wir diese Welt von Subjekt und Objekt für die ganze Wahrheit halten, verirren wir uns bald in einer Welt der Verwirrung, des Verlangens, der Sehnsucht und der Angst. Das macht das Leben schwer – auch wenn uns das vielleicht nicht völlig klar ist.

Wir müssen sehen, dass man dieselbe Wirklichkeit auf eine völlig andere Weise betrachten kann, die ganz allein auf der Wahrnehmung beruht.

Die Erwachten sehen die Wirklichkeit, wie sie ist. Sie sehen, dass Erleuchtung in nichts weiter besteht als darin, sich nicht mehr von der begrifflichen Welt täuschen zu lassen, die wir alle erschaffen.

Das Bewusstsein teilt die Welt in dieses und jenes und anderes auf. Die Trennung, die all dem zugrunde liegt, ist natürlich: »Ich bin hier« und: »Alles andere ist dort draußen.«

Wenn wir aber verstehen, was Bewusstsein ist und wie es funktioniert, wird uns klar, dass das Gefühl, es gäbe das Selbst und das Andere, Subjekt und Objekt, eine vom Bewusstsein selbst erschaffene Illusion ist.

Der erleuchtete Mensch lässt sich von solchen begrifflichen Dualitäten nicht täuschen. Deswegen verschwindet die Illusion nicht. Sie stellt sich trotzdem ein, wird aber als das gesehen, was sie ist – eine Illusion. Es ist äußerst befreiend, dies zu sehen.

Buddha formulierte es so: »Genau wie ein Mensch voll Entsetzen zusammenschrickt, wenn er auf eine Schlange tritt, und lacht, nachdem er genau hingesehen und entdeckt hat, dass

es nur ein Stück von einem Seil ist, so kam eines Tages die Erkenntnis, dass das, was ›Ich‹ genannt wird, gar nicht auffindbar ist, und alle Furcht und Unruhe verschwanden zusammen mit diesem Irrtum.«

Was hat sich also verändert? In gewisser Weise nichts.

»Das Seil« ist immer noch »da«. »Der Fuß« ist immer noch

»da«. Doch wir sehen, dass alles ohne Selbst ist. So verschwin-det mit dem Sehen das Gefühl vom »Ich«. Wir müssen nicht mehr eingreifen und die Welt manipulieren oder kontrollieren.

Erleuchtete Menschen verschwinden nicht urplötzlich. Sie vergessen auch nicht mit einem Mal, wie man isst oder Auto fährt oder sich um seine Kinder kümmert. Aber sie verstehen, dass sie sich selbst schaden, wenn sie einen anderen verletzen.

Im Grunde verstehen sie, dass all dies eins ist.

Die Bibel wirft eine der großen moralischen Fragen auf, als Kain seinen Bruder Abel tötet. Gott wendet sich an Kain und fragt: »Wo ist dein Bruder Abel?« Kain antwortet: »Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?« Wie kann man eine solche Frage beantworten? Wenn wir in der Begrifflichkeit unseres Geistes gefangen bleiben, ist das unmöglich, denn wie können wir unseres Bruders Hüter sein, ohne ihn zu kontrollieren? Und wenn wir nicht sein Hüter sind, weshalb fühlen wir dann mit ihm, wenn sein Haus niederbrennt oder er verhungert oder ins Gefängnis geworfen wird?

Doch was wäre, wenn du – mit Haut und Haar – wüsstest, dass es letzten Endes keinen Unterschied zwischen dir und deinem Bruder gibt? Was wäre, wenn du sähst, dass »Ich bin hier und er ist da« nicht die ganze Wirklichkeit ist? Was wäre, wenn du sähst, dass ein Schlag gegen deinen Bruder ein Schlag gegen dich selbst ist? Mit dieser direkten Einsicht in die Wirklichkeit löst sich das Dilemma.

Was du erlebst, ist immer dies, genau hier, genau jetzt. Es gibt keine getrennte Außenwelt, keine getrennten Sinne, und deshalb

gibt es keine Verbindung zwischen ihnen. Wie kann etwas mit sich selbst verbunden sein?

Im Dokument Buddhismus im Alltag (Seite 195-200)