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Leben ohne Maßstab

Im Dokument Buddhismus im Alltag (Seite 120-125)

m Zen geht es darum, sein Bestes zu geben. Das Problem ist, dass wir gewöhnlich nicht erkennen, was das ist.

Stattdessen schnappen wir irgendeine Vorstellung davon auf, was es heißt, sein Bestes zu geben. Wir denken uns aus, was gut und was schlecht ist, was wir tun und was wir lassen sollen.

Dann setzen wir uns Ziele und entwickeln Maßstäbe, an denen wir unseren Fortschritt messen.

I

Auf diese Weise verlagern wir alles in den Zuständigkeits-bereich des Egos. »Ich werde mein Bestes geben.« »Ich werde es schaffen.« »Ich werde besser sein als andere.« Wir verfangen uns in unserem Denken und unserem persönlichen Ehrgeiz, sogar wenn es um Meditation, Weisheit oder Mitgefühl geht.

»Ich werde die Ichlosigkeit erlangen.« »Ich werde ins Nirvana eingehen.« Das ist lächerlich.

Sieh dir an, welche Geisteshaltung wir mit solchen Gedanken erzeugen: den üblichen gierigen, besitzergreifenden, anhaften-den, zersplitterten und überreizten Geist.

Im Zen heißt das Beste geben, dass wir uns um einen Geist bemühen, der sich nicht in egoistischen Spielereien verfängt.

Dass wir uns vor verbalen Äußerungen und Verhaltensweisen hüten, die uns von anderen abheben, von ihnen abschneiden oder uns in Opposition zu ihnen bringen.

Der japanische Zenmönch und Dichter Ryokan, der von 1758 bis 1831 lebte, besaß wahren Zengeist. Es gibt viele Geschichten über Ryokan, einige davon sogar mit etlichen Variationen. Hier sind zwei davon, die diesen Zengeist hervorragend illustrieren.

Eines Tages, als Ryokan fort war, betrat ein Dieb seine Hütte auf der Suche nach etwas, das er stehlen konnte. Er hatte in der Hütte nichts Wertvolles gefunden und wollte gerade enttäuscht

wieder gehen, als Ryokan zurückkehrte.

Ryokan hatte Mitleid mit dem Dieb und bot ihm seine Kleider an. Der verblüffte Dieb nahm sie und verschwand.

An jenem Abend saß Ryokan nackt vor seiner Grashütte und betrachtete den aufgehenden Vollmond. »Armer Kerl«, dachte er, »ich wünschte, ich könnte ihm den Mond geben.«

In dieser Geschichte kann man den Mond sicher auch wörtlich nehmen. Allerdings ist es hilfreich zu wissen, dass der Voll-mond im Zen ein Erleuchtungssymbol ist. Vielleicht wünschte Ryokan tatsächlich, dem Dieb einen erleuchteten Geist schenken zu können, doch das konnte er natürlich nicht. Diesen Geist muss jeder selbst entwickeln. Das kann niemand für einen anderen tun.

In einer anderen Geschichte saß Ryokan in seiner Hütte, als er einen Bambustrieb bemerkte, der aus dem Lehmboden unter seiner Veranda wuchs. Er ließ ihn in Ruhe, der Schößling wuchs weiter und reichte eines Tages bis zur Decke. Da machte Ryokan ein Loch ins Dach, damit der Bambus weiterwachsen konnte.

Unser Bestes geben heißt, in diesem Augenblick präsent zu sein und zu sehen, was tatsächlich geschieht. Zu erkennen, dass unser Leben nicht uns gehört – dass unser Leben in Wirklichkeit untrennbar mit dem Ganzen verbunden ist.

Die meisten Menschen halten sich für selbstständige Einzelwesen. Doch ein solches Denken führt nur zu Einsamkeit, Selbstsucht und Schmerz und verursacht Schwierigkeiten. Weil wir uns so sehen – und weil wir versuchen, den Schmerz, den uns diese Art zu leben bereitet, zu lindern –, verwenden wir sehr viel Energie und viele Ressourcen darauf, uns selbst, unsere Mitmenschen und unsere Umwelt zu verändern. All das tun wir in dem Bemühen, unsere unmittelbaren Angelegenheiten zu unserer Zufriedenheit zu regeln. Dabei ist uns kaum oder gar nicht bewusst, wie sich unser Handeln auf andere auswirkt – und

wir erkennen nur selten, dass das, was sich auf andere auswirkt, auch für uns Folgen hat.

Es fällt uns sehr leicht, uns »dort draußen« umzusehen und auf die negativen Auswirkungen von »dem da« auf »mich« zu reagieren. »Ich will nicht, dass dort ein Bambus wächst!«

»Ich will keinen Bienenstock unter meinem Dach.«

»Ich will, dass meine Investitionen immer über zehn Prozent Gewinn bringen.« Dabei ziehen wir die Wirkung unseres Geistes oder den Einfluss unseres Handelns auf die Welt nur selten in Betracht.

Sehen wir uns doch einmal die Praxis der Meditation an. Im Allgemeinen verstehen wir darunter, dass man eine gewisse Zeit lang in einer bestimmten Haltung dasitzt. Doch das ist eine recht enge Definition. Eine vollständigere und genauere Definition lautet, einfach im tatsächlichen Geschehen gegenwärtig zu sein, statt sich mit der Auswertung von intellektuellen Daten oder Emotionen zu beschäftigen – mit den Erklärungen, Rechtferti-gungen und Problemen, die unsere Aufmerksamkeit so oft auf sich ziehen und sich ihrer bemächtigen. Demnach ist die Meditation mit unserem üblichen Geist, mit diesem Geist, der manipulieren und kontrollieren möchte, unvereinbar.

Dennoch ist uns der Meditationsgeist jederzeit und überall verfügbar. Dieser aufmerksame, wache Geist, der sich nicht an ein bestimmtes Ergebnis klammert, der nicht darauf beharrt, dass sich die Dinge auf eine bestimmte Weise zu entwickeln haben, ist uns sogar bei vollem Terminkalender verfügbar. Die Meditation beschäftigt sich stets mit dem, was genau in diesem Augenblick geschieht, was das auch sein mag – Auto fahren, eine Unterhaltung führen, im Bett liegen.

Eine der Fragen, die mir bei der Meditationsunterweisung am häufigsten gestellt wird, lautet: »Wie lange sollte ich meditieren?« Diese Frage ist nicht dumm, und es ist keineswegs falsch, sie zu stellen. Aber sie spiegelt unsere übliche Haltung

und unsere üblichen Erwartungen wider.

Es kommt nicht darauf an, wie lange du meditierst, sondern mit welcher Regelmäßigkeit und mit welcher Geisteshaltung du es tust. Wenn du regelmäßig und ernsthaft meditierst, wirst du allmählich jene Art Geist entwickeln, von der ich spreche.

Sorge dich also nicht darum, wie lange du meditieren solltest.

Gegenwärtig zu sein ist keine Frage dessen, wie lange du dich zwingst, auf dem Kissen zu sitzen. Wenn du dir diese »Je mehr desto besser« -Haltung einen Moment lang ansiehst, wirst du erkennen, dass sie auf einem gierigen, zersplitterten, anhaften-den und nicht auf einem integrierten Geist beruht.

Wenn wir Zen üben, richten wir unsere Aufmerksamkeit einfach auf das Jetzt, auf diesen Augenblick – ohne den Geist besser oder konzentrierter oder gesammelter oder erleuchteter machen zu wollen.

Es geht nicht darum, unseren Geist niederzuringen oder uns zu zwingen, auf einem Kissen zu sitzen. (Natürlich fangen viele von uns so an, doch früher oder später muss das ein Ende haben – entweder, weil wir es einsehen oder weil wir aufgeben.)

Wenn wir unser Bestes geben möchten, müssen wir lediglich erkennen, dass die übliche Haltung unangemessen ist, und unsere Einstellung zur Meditation ändern. Wir müssen lernen, einfach zu üben – ernsthaft, ohne Ziel, ohne Grund und ohne dass wir uns etwas davon versprechen.

Unser Geist hat bereits seinen natürlichen Zustand – seine natürliche Reinheit. Wir müssen sie nicht »erwerben«. Die Erleuchtung ist immer da. Wir müssen sie uns nicht aneignen.

In der Zenpraxis üben wir, in diesem Augenblick zu sein, jeden Moment voll lebendig zu sein, jeden Augenblick neu geboren zu werden, immer und immer wieder – frisch, neu, lebendig, sauber und gesund. Wir üben, natürlich und ohne Schuld zu leben.

Je mehr wir in diesem Augenblick leben – und uns restlos ihm hingeben –, desto freier ist unser Geist. Gleichzeitig befreien wir

dadurch andere, da wir ihnen gestatten, ihr Leben ungestört zu leben. Je mehr wir erwachen und erkennen, wie wir anderen früher Unrecht getan haben, desto mehr wächst unsere Freiheit, uns selbst zu vergeben und das Unrecht wieder gutzumachen.

So können wir ein geistig gesundes Leben in Frieden und Harmonie führen und unser Bestes geben.

Im Dokument Buddhismus im Alltag (Seite 120-125)