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Einfach sehen

Im Dokument Buddhismus im Alltag (Seite 69-79)

or diesem Augenblick habe ich noch nie ein Wort geschrieben.

Das ist im wahrsten Sinne des Wortes wahr. Die meisten Menschen freilich würden angesichts dieser Aussage an meinem Verstand zweifeln. Oder sie für einen dieser reichlich skurrilen, verwirrenden Zensprüche halten.

V

In Wirklichkeit sind derartige Äußerungen weder skurril noch verwirrend (und das ist auch nicht ihre Absicht).

Um den Menschen das Erwachen zu erleichtern, lenken Zenlehrer ihre Aufmerksamkeit oft mithilfe von Wörtern und Vorstellungen auf die Wirklichkeit, obwohl man diese nur direkt sehen kann und es unmöglich ist, sie zu beschreiben oder begrifflich zu erfassen. Deshalb klingt das, was sie sagen, manchmal widersprüchlich – oder einfach dumm und lächerlich.

Derartige Äußerungen lassen sich leicht nachahmen, sie werden aber auch leicht missverstanden.

Deshalb stellen Zenlehrer oft gegenseitig ihr Verständnis auf die Probe. Andernfalls könnte man glauben, um Zenlehrer zu werden, müsse man lediglich lernen, bizarre, abwegige Sprüche herunterzurasseln. Ein echter Zenlehrer aber stellt nicht einfach irgendwelche idiotischen Äußerungen in den Raum. Er meint es todernst.

Deshalb gibt es im Zen die Tradition, dass Lehrer das Verständnis ihrer Schüler – und das der anderen Lehrer – prüfen. Eine typische Begegnung könnte sich etwa folgendermaßen abspielen:

Es ist später Abend. Der Lehrer sagt zu einem Schüler: »Zeig mir dein Zen.« (Mit anderen Worten: »Zeig mir, was du weißt.«

)

Der Schüler neigt sich zu seinem Lehrer hinüber und knipst dessen Lampe an.

Der Lehrer schnauzt ihn missbilligend an: »Ist das alles, was du weißt?«

Der Schüler reagiert perfekt, indem er sich erneut hinüberbeugt und die Lampe ausmacht.

Der Lehrer lächelt und nickt anerkennend, denn der Schüler hat wahre Einsicht bewiesen.

Das ist ein recht typischer Vorgang und leicht nachzuahmen.

Doch ein Zenmeister lässt sich nicht so leicht täuschen. Statt anerkennend zu nicken, könnte er auch anfangen nachzuhaken.

Wenn du dich etwa hinüberbeugst, um die Lampe auszumachen, könnte er fragen: »Ist das Licht an oder aus?«

Was sagst du? (Wenn du nach der richtigen Antwort suchst, bist du schon in Schwierigkeiten.)

Im Zen geht es darum, einfach zu sehen. Wenn wir wissen, wie man sieht, ohne dem, was man sieht, eigene Gedanken oder Überlegungen hinzuzufügen, bekommen wir keinerlei Schwie-rigkeiten. Wenn ein Zenlehrer jemanden prüft, erprobt er dessen Fähigkeit, einfach zu sehen (Fähigkeit ist allerdings eine etwas irreführende Bezeichnung, da jeder von uns bereits voll und ganz in der Lage ist zu sehen).

Die Fähigkeit, einfach zu sehen, lässt sich auf unzählige Arten und Weisen demonstrieren. Allerdings geht es dabei niemals darum, etwas zu wissen, herauszufinden oder nach der richtigen Antwort zu suchen. Genau genommen liegt man, wenn man es sich als Suche nach »der richtigen Antwort« vorstellt, bereits daneben. (Eigentlich liegt man in dem Augenblick daneben, in dem man zu denken anfängt, denn schon dann erfasst man die Dinge nur begrifflich und hört auf zu sehen.)

Was bedeutet einfach sehen?

Dieses Experiment soll dir eine Ahnung davon vermitteln, was

es heißt, einfach zu sehen, indem es dir zeigt, dass wir der Welt normalerweise mit vorgefertigten Meinungen, Vermutungen, Erwartungen, Vorstellungen und Neigungen begegnen. Die Analogie ist nicht ganz perfekt, denn auch sie ist an Begriffe gebunden. Trotzdem kann sie dir einen Vorgeschmack vom Sehen geben.

Entspanne dich zuerst und mache es dir bequem. Atme ein paar Mal tief durch und warte, bis deine Gedanken zur Ruhe gekommen sind.

Sieh dir nun die Tintenkleckse auf der nächsten Seite an.

Betrachte sie eine Weile. Sie stellen etwas dar, das dir wohlvertraut ist.

Hast du es erkannt? Nein? Schau noch einmal hin.

Wenn du die Lösung nach ein, zwei Minuten nicht gefunden hast, dreh das Bild 90 Grad nach rechts und betrachte es noch ein wenig. Versuche nicht, die Lösung logisch zu erschließen – es gibt nichts zu erschließen. Entweder du siehst, was es ist, oder du siehst es nicht. Und wenn du es siehst, wirst du keine Zweifel mehr haben.

Wenn du nach einer Weile immer noch ratlos bist, versuche, dich nicht auf die schwarzen Kleckse, sondern vor allem auf die Form der weißen Fläche in der Mitte zu konzentrieren. Sieh dir das Bild weiter an.

Irgendwann erkennst du vielleicht, dass du eine grobe Negativsilhouette Westeuropas vor dir hast. Wenn du das Bild bereits um 90 Grad gedreht hast, siehst du unten links ein kleines Stück von Spanien. Unten rechts liegt ein großer Teil Italiens (ohne den verräterischen »Stiefel« ). Oben links liegt der südlichste Teil Englands jenseits des Kanals und gegenüber von Frankreich.

Im Nachhinein scheinen all diese Details offensichtlich. Und

sie lagen die ganze Zeit über direkt vor deiner Nase, klar und unverhüllt. Wieso hast du trotz eines gewissen Maßes an erdkundlichem Wissen nicht sofort erkannt, was das Bild darstellt?

Du hast es nicht gesehen, weil der Mensch gewisse Betrachtungsgewohnheiten hat. In diesem Fall lag es an der Gewohnheit, die Aufmerksamkeit zuerst den kleinen, dunklen Formen zuzuwenden. So wandern unsere Augen bei der Analyse zuerst dorthin, wenn wir uns einen Reim auf etwas machen wollen.

Zudem erwarten wir, dass sogar etwas so Vertrautes wie der Umriss Westeuropas in einer bestimmten Weise vor uns liegt.

Ist das nicht der Fall, übersehen wir viele der Hinweise, auf die wir uns beim Aufbau unserer geistigen Welt verlassen.

Jeder von uns hat ähnliche Denkgewohnheiten, die ihm helfen, die Welt zu verstehen. Aber sie schränken uns auch ein. Sie können uns aus dem Konzept bringen, wie das bei diesem Bild von Westeuropa oder bei optischen Täuschungen der Fall ist.

Die Angewohnheit, die Dinge anhand bestimmter Muster zu betrachten, einzuordnen und zu bewerten, dient der begrifflichen Festlegung. Es handelt sich also nicht um einfaches Sehen, sondern vielmehr um das genaue Gegenteil davon.

Als du den ersten Blick auf die Landkarte warfst, hattest du vielleicht eine Chance, einfach zu sehen – das heißt, sie direkt wahrzunehmen, bevor Konzepte in dir aufstiegen und die Gewohnheit, die Dinge zu ordnen, die Oberhand gewann. Wenn wir dem, was wir sehen, erst einmal eine Bedeutung verliehen haben, ist es mit dem einfachen Sehen vorbei. Dann interpretieren wir Dinge in unsere Wahrnehmung hinein, die nicht da sind, springen zwischen der Erfahrung unserer Wahrnehmung und unserem begrifflichen Überbau hin und her.

Das geschieht so automatisch und so mühelos, dass wir es meist gar nicht bemerken.

Ein Buddha, ein Erwachter, ist ein Mensch, der einfach sieht – also ein Mensch, der Vorstellung und Wahrnehmung nicht miteinander verwechselt.

Reine Wahrnehmung ist gegenstandsloses Bewusstsein. Sie findet statt, bevor wir irgendwelche geistigen Konstrukte erschaffen und bevor wir unsere Erfahrung in Dinge, Gedanken und Gefühle – in »ich« und »das andere« – aufteilen.

In diesem Punkt unterscheidet sich ein Buddha am deutlichsten von einem normalen Menschen. Ein Buddha nimmt die Welt genauso wahr wie alle anderen auch, aber er geht anders mit den Vorstellungen um, die normalerweise in uns aufsteigen. Ein Buddha verwechselt Denken nicht mit Sehen, und er lässt es nicht zu, dass ein Gedanke oder eine Vorstellung seine Wahrnehmung außer Kraft setzt.

Wenn wir uns in unserem Denken verfangen, können wir nicht erkennen, was wir sehen – obwohl uns das nur selten bewusst wird. Statt einfach zu sehen, suchen die meisten Menschen die ganze Zeit nach einer noch besseren Idee, einem noch nützlicheren Konzept, einer noch deutlicheren Erklärung, die uns die Welt endlich offenbaren wird.

Doch die Welt muss nicht offenbart werden. Sie ist bereits offenbar. Niemand muss sie uns erklären (was auch gar nicht möglich wäre), als sei sie ein Puzzle oder eine Formel oder eine Gleichung.

Im Grunde ist uns die Wirklichkeit wohl vertraut. Sie entglei-tet uns nur deshalb, weil wir uns so leicht und unaufhörlich in unseren Gedanken und begrifflichen Gewohnheiten verfangen.

Kehren wir nun unter Berücksichtigung all dessen zu der Frage des Meisters nach dem Licht zurück. Ist es an oder aus? In unserer Vorstellungswelt – dem Modell, das wir uns im Geiste von der Wirklichkeit gemacht haben – kann doch, so sollte man meinen, nur das eine oder das andere zutreffen. Doch damit

nicht genug: Die Antwort wäre auch noch unstrittig. So denken wir eben, und diese Art zu denken ähnelt unserer Gewohnheit, die Bedeutung in den kleinen, dunklen Umrissen auf der Seite zu vermuten. Alles ist fein säuberlich in unterschiedliche Begriffe verpackt – und deshalb muss eine Lampe mit einem Kippschalter entweder an oder aus sein.

Doch das ist eine sehr begriffliche Art zu sehen: Da gibt es nur

»an« oder »aus«, und »an« ist etwas völlig anderes als »aus«.

Wären wir in der Lage, einfach zu sehen, ohne diese Wahrnehmung mit allen möglichen Vermutungen hinsichtlich Substanz, Beschaffenheit und Andersartigkeit sowie mit einer Menge anderer Vorstellungen zu überlagern – von denen wir die meisten weder je bewusst wahrgenommen noch überprüft haben –, würden wir verstehen, dass unsere begriffliche Sicht nicht das Gesamtbild wiedergibt.

Wir übersehen, dass es »aus« ohne »an«, »dies« ohne »jenes«

nicht geben kann. Genau genommen kann in unserem Geist nichts entstehen, ohne dass seine Identität von dem bestimmt wird, was es nicht ist.

In der direkten Wahrnehmung wirkt alles vertraut und nah, nichts bleibt außen vor. Es kommt gewissermaßen nichts »von draußen herein«. Der Eindruck, wir holten die Dinge von

»draußen« herein, entsteht erst dadurch, dass wir diese Dinge in Begriffe packen. Deshalb wird bei bloßer Wahrnehmung Folgendes deutlich: Damit wir etwas überhaupt begrifflich erfahren können, muss es zwangsläufig auch all das enthalten, was im Augenblick nicht Gegenstand unseres Interesses ist. Wo konkav ist, ist auch konvex, erst dann ist das Universum ganz.

Das ist mit allem so. Mit keinem Objekt in unserer Vorstellung könnte es anders sein. Nichts steht allein. Nichts existiert unabhängig von allem anderen. Alles ist untrennbar mit all dem verbunden und identisch, was es nicht ist.

Deshalb ist Wahrnehmung gegenstandsloses Bewusstsein,

denn wenn wir einfach sehen, sehen wir nicht einzelne Objekte, sondern das Ganze. Im Grunde entsteht nichts unabhängig, getrennt von allem anderen. Wohin wir auch blicken, überall ist nur dies.

Hier kommt ein weiteres Beispiel für eine unsinnig klingende Zenfrage, die eigentlich ein Ausdruck einfachen Sehens ist: Wie klingt das Klatschen einer Hand?

Wenn wir uns eine Hand vorstellen, denken wir an eine einzige, einsame Hand, und die Frage verwirrt uns. Zum Klatschen braucht man zwei Hände. Doch wenn wir so denken, nähern wir uns der Frage auf die übliche, also begriffliche Weise.

Wenn wir einfach hinsehen, erkennen wir, dass eine Hand nicht nur eine einzelne, von allem anderen getrennte Hand ist.

Wir erkennen, dass alles in ihr enthalten ist. Das Klatschen einer einzelnen Hand klingt wie das Klatschen zweier Hände und das Klatschen von zehn Händen. Es klingt wie der Klang vor und nach dem Klatschen zweier Hände. Es klingt auch wie der Klang vor und nach dem Klatschen einer Hand.

Wenn wir in Begriffen denken, ist ein Klang für uns ein Klang, und Stille ist für uns Stille. Die beiden lassen sich scheinbar klar voneinander trennen – es scheint sogar, als sei das eine das genaue Gegenteil des anderen. Doch das gilt nur für unser Denken, für die von uns definierten Begriffe. Es hat nichts mit der Wirklichkeit zu tun, die wir wahrnehmen, bevor wir alles fein säuberlich in ordentlich beschriftete (aber irreführende) kleine Schubladen packen.

Wir glauben, damit es Klang gibt, müsse lediglich der Klang existieren. Dabei übersehen wir, dass auch die Stille existieren muss, damit es den Klang gibt. Und weil es den Klang gibt, gibt es auch die Stille. Wenn es keinen Klang gäbe, wie könnte es dann Stille geben?

Der Klang ist schon hier, bevor die Glocke angeschlagen wird.

Er ist hier, wenn die Glocke angeschlagen wird. Und er ist noch hier, nachdem er immer leiser geworden und vergangen ist. Der Klang ist nicht nur der Klang, sondern auch die Stille. Und die Stille ist der Klang. Das nehmen wir wahr, bevor wir alles in dies und jenes, in »ich« und »das Gehörte« unterteilen.

Der Klang der Glocke lässt sich weder von allem, was vorher war, noch von allem, was danach kommt, oder allem, was jetzt geschieht, trennen. Er schließt das Trommelfell ein, das davon in Schwingung versetzt wird. Er schließt die Luft ein, die aufgrund des Klangs in unterschiedlichen Druckwellen pulsiert.

Er schließt den Stock ein, der die Glocke anschlägt. Er schießt die Metallurgen der Vergangenheit und der Gegenwart ein und alle Menschen, die herausfanden, wie man Metall aus Erz gewinnt, sowie die Hersteller der Glocke. Und er schließt jenen uralten Schmelzofen ein, in dem dieses Metall entstand und der vor langer Zeit in einer Supernova verglühte. Wenn wir ein beliebiges Glied dieser Kette entfernen – wenn wir einen beliebigen Bestandteil der Welt entfernen –, kann es keinen Glockenklang geben. Der Klang der Glocke ist somit nicht nur

»der Klang der Glocke«. Er ist das ganze Universum.

Wie ich zu Beginn dieses Kapitels sagte, habe ich vor diesem Augenblick noch nie ein Wort geschrieben. Wenn wir das übliche Denken zugrunde legen, ist diese Aussage lächerlich.

Und dennoch ist sie wahr.

Unserem begrifflichen Denken zufolge sind Dinge unvergänglich und überdauern die Zeit. So wie wir die Dinge sehen, ist das »Ich« von vor 50 Jahren oder von vor fünf Jahren oder von vor fünf Tagen oder von vor fünf Minuten identisch mit dem »Ich« in diesem Augenblick. Aber das ist lächerlich.

Vor 50 Jahren war das, was ich als »Ich« bezeichne, ein Kind.

Inwiefern ist es identisch mit dem »Ich« von vor fünf Minuten? Und wo sollen wir das »Ich« von vor fünf Minuten – oder von vor 50 Jahren – suchen? Sosehr wir uns auch bemühen, wir werden es nicht finden – nicht jetzt und nicht hier.

Wie kann ich also behaupten, ich hätte vor dem jetzigen Zeitpunkt schon einmal etwas geschrieben, wenn dieses »Ich«

nur jetzt existiert, nicht aber in der Vergangenheit?

Wir glauben, wir kehrten jeden Abend in dasselbe Zimmer, dieselbe Wohnung oder dasselbe Haus zurück. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Das ist lediglich die Vorstellung, die wir uns von unserer Erfahrung gemacht haben. Jeder Abend – ja sogar jeder Augenblick – ist eine neue Erfahrung: ein neues

»Ich«, ein neues Haus, ein neues Haustier, ein neuer Mitbewohner, ein neuer Ehepartner oder ein neues Kind. Jede Mahlzeit ist eine Mahlzeit, die wir noch nie gegessen haben, in einer Welt, die nicht mehr dieselbe ist, die sie am Abend oder auch nur im Augenblick zuvor noch war.

Wenn wir einfach sehen, lockern wir den festen Griff, mit dem wir ungewollt alles umschließen, worüber wir nachdenken.

Vor dem jetzigen Augenblick hast du noch nie ein Wort gelesen. Sieh einfach, dass das so ist, und koste die Freiheit.

Im Dokument Buddhismus im Alltag (Seite 69-79)