• Keine Ergebnisse gefunden

Paradox und Verwirrung

Im Dokument Buddhismus im Alltag (Seite 16-20)

er in Japan einen buddhistischen Tempel besucht, wird dort vermutlich rechts und links der Eingangstür je eine riesige, dämonische Gestalt stehen sehen. Das sind die so genannten Wächter der Wahrheit. Sie heißen »Paradox« und

»Verwirrung«.

W

Als ich die beiden Figuren zum ersten Mal sah, war mir nie zuvor der Gedanke gekommen, dass die Wahrheit bewacht werden könnte – oder dass das überhaupt nötig sei. Wäre mir der Gedanke freilich gekommen, so hätte ich mir wohl schöne, engelsgleiche Figuren vorgestellt.

Wieso waren diese Kreaturen so fürchterregend und bedrohlich? Und wieso wurden die Wächter der Wahrheit und nicht die Wahrheit selbst dargestellt?

Allmählich fand ich des Rätsels Lösung. Es kann kein Bild von der Wahrheit geben. Die Wahrheit lässt sich nicht in einem Bild oder einem Satz oder einem Wort einfangen. Sie lässt sich nicht als Theorie, als Diagramm oder in Buchform darstellen.

Welche Vorstellung wir auch von der Wahrheit haben, sie kann uns ihr nicht nahe bringen. Deshalb stoßen wir in dem Versuch, die Wahrheit zu fassen zu bekommen, zwangsläufig auf Paradox und Verwirrung.

Das funktioniert folgendermaßen: Wir erleben die Wirklich-keit unmittelbar, ignorieren sie aber. Stattdessen versuchen wir, sie mithilfe von Ideen, Modellen, Überzeugungen und Geschichten zu erklären oder zu fassen zu bekommen. Weil all diese Dinge nicht wirklich sind, decken sich unsere Erklärungen niemals mit der tatsächlichen Erfahrung. Paradox und Verwirrung sind die natürliche Folge der Diskrepanz zwischen der Wirklichkeit und unseren Erklärungsversuchen.

Zudem trägt sogar eine korrekte Aussage über die Wahrheit bereits den Keim ihres Zerfalls in sich. Das lässt sie zwangs-läufig paradox und widersprüchlich erscheinen. Mit anderen Worten, bei Aussagen über die Wahrheit und die Wirklichkeit handelt es sich nicht um gewöhnliche Äußerungen.

Normalerweise greifen wir im Rahmen einer Aussage eine Sache heraus, definieren sie und legen sie unmissverständlich fest. Wenn es um die Wahrheit geht, müssen wir ganz anders vorgehen. In diesem Fall müssen wir bereit sein, uns dem Paradox und der Verwirrung zu stellen, statt zu versuchen, ihnen aus dem Weg zu gehen.

Unsere Probleme mit Paradox und Verwirrung beruhen darauf, dass wir unsere unmittelbare Erfahrung unbedingt in eine begriffliche Schublade stecken wollen. Wir versuchen, unsere Erfahrung einzufrieren, sie in unwandelbarer Gestalt festzu-halten: »Dies bedeutet das.«

In gewöhnlichen Äußerungen ist kein Platz für das Paradox.

Sie sollen den Gegenstand der Aussage vielmehr festnageln und ihn so wirklich und unumstößlich wie möglich erscheinen lassen. Gewöhnliche Aussagen werden uns präsentiert im Sinne von: »Das ist die Wahrheit. Glaube daran.«

Anschließend bekommen wir etwas in die Hand gedrückt, meist ein Buch oder eine Broschüre.

Doch alles, was uns auf diese Weise präsentiert wird – ob es sich dabei nun um Politik, Moral, Wirtschaft, Psychologie, Religion, Wissenschaft, Philosophie, Mathematik oder Kfz-Mechanik handelt –, ist einfach nur irgendwelches Zeug. Es ist nicht die Wahrheit. Es ist lediglich der Versuch, etwas zu bewahren, das zwangsläufig irgendwann einmal vergehen wird.

Wenn wir behaupten, mit Worten beschreiben zu können, was tatsächlich vor sich geht, so sind diese Worte, wie wohlgesetzt sie auch sein mögen, bereits falsch. Die Wahrheit lässt sich nicht repräsentieren.

Wir sind versessen auf die Wahrheit. Wir wollen sie ganz fest in unseren Händen halten. Wir wollen sie in Form eines Wortes oder eines Satzes an andere weitergeben. Wir wollen etwas, das wir aufschreiben können. Etwas, das wir anderen aufdrücken – und womit wir sie beeindrucken können.

Wir tun so, als sei die Wahrheit etwas, das wir in die Tasche stopfen und hin und wieder herausholen könnten, um es anderen mit den Worten zu zeigen: »Hier, das ist sie!« Dabei vergessen wir, dass die anderen daraufhin ihre Zettelchen mit ihren vermeintlichen Wahrheiten herausholen.

Doch das ist nicht die Wahrheit. Wie auch?

Wir müssen lediglich sehen, dass wir nur jenseits des wirbelnden Paradoxes einen Blick auf Wirklichkeit und Wahrheit erhaschen können. Wenn wir den Versuch, die Wirklichkeit festzunageln, einfach aufgeben, hält uns unsere Verwirrung nicht mehr von ihr fern.

Wenn wir uns ganz genau ansehen, was tatsächlich um uns herum geschieht, können wir erkennen, dass vorgefertigte Überzeugungen, Konzepte und Geschichten das tatsächliche Geschehen niemals voll und ganz erklären.

Wir müssen die Augen so lange offen halten, bis wir von einer neuen Erfahrung – einem neuen Bewusstsein – überwältigt werden, das gedankliche Gewohnheiten sprengt und altbekannte Geschichten auslöscht.

Wir können uns von Paradox und Verwirrung nur befreien, wenn wir eine offene und neugierige Geisteshaltung einnehmen und uns gleichzeitig stets davor hüten, auf einer bestimmten Überzeugung zu beharren – wie gerechtfertigt sie uns auch scheinen mag.

Auf der Suche nach der Wahrheit werden wir feststellen, dass wir uns auf keinerlei Vermutungen oder Vorstellungen stützen können. Stattdessen müssen wir mit bloßer, nackter Aufmerksamkeit auf die Welt zugehen, müssen sie ohne geistige

Vorurteile, Konzepte, Überzeugungen, vorgefasste Meinungen, Vermutungen oder Erwartungen sehen.

Darum geht es in diesem Buch.

Im Dokument Buddhismus im Alltag (Seite 16-20)