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Ohne religiösen Egoismus

Im Dokument Buddhismus im Alltag (Seite 163-169)

er Zen übt, bemüht sich um einen Geist, der nicht immer nur aus dem Dualismus, das heißt aus dem Selbst heraus handelt. Der bemüht sich um einen Geist, der dem Ganzen entspringt, der die Ganzheit alles Handelns sieht, in der alle Menschen leben und die alles aufrechterhält. Das Bemühen um einen solchen Geist wird manchmal als die Praxis der Ichlosigkeit bezeichnet.

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Ein solcher Geist stellt sich nicht automatisch ein, nur weil wir meditieren, Vorträge über den Buddhismus hören, buddhistische Bücher lesen oder uns als Buddhisten bezeichnen. Es kostet große Anstrengung, die noch dazu in die richtige Richtung gehen muss – und damit ist nicht gemeint, dass wir diese fließende, unvorstellbare Welt »dort draußen« in Ordnung bringen müssen. Es geht vielmehr in erster Linie darum, dass wir lernen, tief in unser eigenes Leben und unser Herz hineinzusehen und den Ursprung unserer Schwierigkeiten und unserer Verwirrung zu erkennen.

Alle buddhistischen Lehren und die gesamte buddhistische Praxis beschäftigen sich mit diesem einen Problem – der allgemeinen Verwirrung in Bezug auf sich selbst. Folglich ist Zen eine sehr nüchterne Angelegenheit.

Man kann nicht einfach so tun, als ob man Zen übt. Man kann nicht einfach meditieren, Bücher lesen, den Unterricht besuchen, an Kursen und an Meditationsseminaren teilnehmen, als sei das Studium des Buddha-Dharma lediglich ein weiteres Selbsthilfe-programm. Hier geht es nicht darum, dem Selbst zu helfen. Es geht darum, dieses so genannte Selbst als das zu sehen, was es ist – eine Illusion.

Das bedeutet, wir müssen uns tatsächlich mit den Dingen auseinander setzen, darüber nachdenken, uns ansehen, was vor

sich geht, und daran arbeiten. Kurz, wir müssen tatsächlich sehen, was wir tun.

Unser Problem ist nicht die Welt dort draußen. Es geht nicht darum, »denen da« zu sagen, wo es langgeht, oder eine bestimmte Situation zu regeln. Es geht darum, den eigenen Geist zu betrachten.

Es war einmal ein Zenlehrer, der einen seiner Schüler ganz besonders lobte. Das verwirrte einige Leute, und sie erkundigten sich danach, was denn so außergewöhnlich an ihm sei.

»Kommt mit«, sagte der Lehrer und führte sie zum Zimmer des Schülers. Er klopfte an die Tür. Drinnen raschelte Papier, ein Stift wurde hingeworfen, ein Buch geschlossen, und schließlich waren Schritte zu hören. Die Tür ging auf, und ein junger Mann fragte: »Ja bitte?«

»Entschuldigung, wir haben uns im Zimmer geirrt«, sagte der Lehrer.

Sie gingen zum nächsten Zimmer, und auch dort klopfte der Lehrer an. Sofort waren Schritte zu hören. Die Tür ging auf, und ein junger Mann fragte: »Ja bitte?«

»Dürfen wir hereinkommen?«, fragte der Lehrer. Der Schüler bat sie herein. Im Zimmer stand ein Tisch mit einem Blatt Pa-pier, darauf ein angefangener Kreis, der mittendrin abgebrochen worden war. Der Schüler hielt den Kalligraphiepinsel noch in der Hand. Offensichtlich hatte er gerade begonnen, einen Kreis zu malen, war aber vom Klopfen an der Tür unterbrochen worden.

Daraufhin wandte sich der Lehrer an seine Gäste und sagte:

»Einem solchen Menschen kann man etwas beibringen.«

Dieser Lehrer wusste, wie viel leichter es ist, jemanden zu unterrichten, der willens ist, von eigenen Plänen und Vorhaben abzurücken. Deshalb fand er den Schüler so erfrischend. Ein solcher Mensch kann von einem wahren Lehrer schnell lernen – falls er das Glück hat, einen solchen zu finden.

Anfangs mag uns vieles am Zen in weiten Teilen verwirrend oder widersprüchlich erscheinen. Doch mit der Zeit, mit Mühe und Aufmerksamkeit, klären sich diese scheinbaren Wider-sprüche allmählich auf.

Mit meinem Lehrer ist mir das jedenfalls wiederholt passiert.

Er sagte oft Dinge, die mir zuerst absurd, lächerlich oder schlichtweg falsch erschienen. Aber ich stellte meine Zweifel hintan und hielt die Augen offen und lernte allmählich, was er mir zu zeigen hatte. Etwas später dämmerte mir, dass diese scheinbaren Zweideutigkeiten, Widersprüche, Paradoxa und Rätsel in Wirklichkeit oft weder widersprüchlich noch zweideutig waren. Nur die Vermutungen und ungeprüften Neigungen meines Geistes ließen sie so erscheinen.

Die Praxis war nicht leicht für mich, nachdem ich Katagiri Roshi kennen gelernt hatte. Dreimal hätte ich beinahe aufgegeben – zweimal, weil ich zu der Überzeugung gelangt war, Zen sei verrückt, und einmal, weil ich nach einiger Zeit bei ihm glaubte, dem Ganzen nicht gewachsen zu sein. Aber ich tat es nicht. Natürlich war meine Ausbildung in manchen Punkten nicht optimal (wie könnte das auch anders sein?), aber Katagiri Roshi zeigte mir alles, was ich wissen musste. Ob ich etwas von ihm lernte, blieb mir überlassen. Da mischte er sich nicht ein. Er war ein sehr guter Lehrer.

Ich hätte wohl nie etwas von ihm gelernt, wenn ich meine Vorstellungen und Vorlieben nicht an einigen entscheidenden Punkten bereitwillig zurückgestellt hätte. Unter seiner Führung konnte ich meine eigenen Meinungen und Überzeugungen locker in der einen Hand halten, während ich das, was er mir zeigte, in der anderen drehen und wenden und ungehindert prüfen konnte.

Es ist unumgänglich, dass wir den Griff lockern, mit dem wir lieb gewonnene Vorstellungen, Ansichten und Urteile festhalten, so wie der Kalligraphieschüler seinen Kreis aufgab. Wenn du an einer bestimmten Ansicht – von der Welt, von Fairness, vom

Buddhismus, von dir selbst – festhältst, wirkt sich das störend aus oder erzeugt Widerstand gegen das, was ein Lehrer dir zeigt.

Dann wirst du nicht wirklich sehen. Oder du tauschst lediglich die alte Ansicht, an die du zuvor geglaubt hast, gegen eine neue aus. Wenn du das tust, spielst du nur Zen. Dann findet weder in deinem Herzen noch in deinem Geist ein Wandel statt, und es ändert sich auch nichts an der zugrunde liegenden Verwirrung.

Wir müssen aber auch erkennen, dass der umgekehrte Ansatz ebenso verfehlt ist – nämlich alles, was einem vom Lehrer präsentiert wird, unreflektiert zu übernehmen, ohne es kritisch, offen, sorgfältig, fair und respektvoll zu prüfen. Offenheit ist nicht blinde, gedankenlose Akzeptanz. Das wäre nur eine weitere Form von Anhaften – in diesem Fall klammert man sich an die Vorstellung, das vom Lehrer Gesagte sei zwangsläufig richtig.

Wir müssen uns diese Worte Buddhas zu Herzen nehmen:

Glaubt mir nicht, nur weil ich als Lehrer vor euch stehe.

Glaubt mir nicht, nur weil andere es tun. Und glaubt auch nicht, nur weil ihr es in einem Buch gelesen habt. Verlasst euch nicht auf Berichte oder Tradition oder Hörensagen oder die Autorität religiöser Führer oder Texte. Stützt euch nicht auf bloße Logik oder Hypothesen oder Phänomene oder Spekulationen. Erkennt selbst, dass gewisse Dinge unheilsam und falsch sind. Und hört auf damit, wenn ihr es wisst. Und wenn ihr erkannt habt, dass gewisse Dinge heilsam und gut sind, dann nehmt sie an und folgt ihnen.

Nützlich in dieser Frage ist auch Buddhas Rat, Extreme zu vermeiden. Sei nicht zu leichtgläubig. Sei aber auch nicht zu kritisch und geringschätzig. Der Buddha-Dharma rät uns ein-dringlich, ein guter Skeptiker im klassisch-griechischen Sinne zu sein. Ein guter Skeptiker ist auch ein bisschen leichtgläubig:

Er ist bereit, über jeden Beweis, jedes aufgeworfene Thema

nachzudenken und es zu prüfen – zumindest eine gewisse Zeit lang. Er akzeptiert eine Sache weder unkritisch, noch lehnt er sie auf der Stelle ab. Er beobachtet sie eine Weile, prüft sie und befasst sich interessiert, neugierig und offen damit.

Den Gläubigen, nicht den Skeptiker erkennt man daran, dass er etwas als völligen Blödsinn verurteilt, ohne es zuvor geprüft zu haben. Wer nicht bereit ist, etwas zu prüfen, hat seine eigenen Vorurteile, ist nicht offen für die tatsächliche Erfahrung und hat so viele eigene Ideen, dass er nicht sehen kann, was um ihn herum passiert. Für einen solchen Menschen hat die Welt eine feste Struktur, und oft ist er in seinem eigenen Starrsinn gefangen: dass er darauf beharrt, bestimmte Möglichkeiten oder Ansichten gering zu schätzen und zu verwerfen. Das ist Zynismus, nicht Skepsis.

Wenn wir uns um einen reinen Geist bemühen, müssen wir von unseren Vorurteilen Abstand nehmen. Das heißt freilich nicht, dass wir uns die Vorurteile anderer zu Eigen machen sollten – zum Beispiel die eines Lehrers. Ein echter Dharma-Lehrer würde niemals von dir verlangen, dass du seinen Vorstellungen folgst. Im Grunde hat er, was dich betrifft, gar keine Vorstellungen. Es liegt ihm lediglich daran, dass du erwachst. (Mein Lehrer pflegte zu sagen, die letzte Aufgabe eines Lehrers sei es, den Schüler vom Lehrer zu befreien.)

Viele von uns haben, wenn sie sich dem religiösen Leben zuwenden, hehre Vorstellungen von dem, was sie erreichen werden. Doch das ist nur noch mehr Egoismus, noch mehr vom üblichen Denken – religiöser Egoismus. Wenn wir ein wahrhaft religiöses Leben führen möchten, müssen wir unsere eigenen Vorstellungen aufgeben – auch die religiösen. Erst dann können wir anfangen, einen Geist wahrer Tugend und wahren Mitgefühls zu entwickeln, der seinen Ursprung in der Sorge um das Ganze hat.

Wenn wir aus einem solchen Geist heraus leben, können wir großzügig sein, ohne das Gefühl zu haben, etwas aufgeben oder

ein Opfer bringen zu müssen. Dann können wir offen sein, ohne das Gefühl zu haben, tolerant sein zu müssen. Dann können wir geduldig sein, ohne das Gefühl zu haben, etwas ertragen zu müssen. Dann können wir mitfühlend sein, ohne das Gefühl zu haben, ausgenutzt zu werden. Dann können wir weise sein, ohne das Gefühl zu haben, jemanden verbessern zu müssen.

Im Dokument Buddhismus im Alltag (Seite 163-169)