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Wahre Freiheit

Im Dokument Buddhismus im Alltag (Seite 101-105)

ing-an, ebenfalls ein chinesischer Zenlehrer aus alter Zeit, sagte zu seinen Schülern: »Beim Hindurchgehen kann euch niemand festhalten, niemand zurückrufen.«

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Diese Worte könnten zu der Vorstellung verleiten, im Zen gäbe es eine Art Barriere, ein Ziel, eine Schwelle, die man erreichen und überschreiten müsse. Und wenn man sie einmal überschritten habe, könne man die wunderbare, herrliche Freiheit der Erleuchtung sein Eigen nennen. Dann hätte man es geschafft, wäre glücklich und gelassen, unantastbar und unbesiegbar. Dann könnte einem niemand mehr sagen, was man zu tun habe, könne einen niemand zurückrufen. Dann wäre man wirklich frei.

Wenn wir Ying-ans Worte so auslegen, missverstehen wir ihn und sind meilenweit von der Wahrheit entfernt. Das Missverständnis entsteht durch unsere übliche, ichbezogene Betrachtungsweise, und Ying-an möchte uns helfen, uns eben davon zu lösen.

Was die Freiheit angeht, sind wir sehr verwirrt. Wir glauben, Freiheit bedeute ungefähr: »Ich kann tun, was ich will. Niemand kann mir sagen, was ich zu tun habe. Nichts schränkt mich ein.

Es liegt ganz und gar bei mir.« Allerdings sollte uns schon der pubertäre Anklang solcher Sätze stutzig machen.

Ich habe einmal einen Fernsehbericht gesehen, in dem mehrere Teenager zum Verkauf von Tabak an Jugendliche befragt wurden. Ein Reporter fragte eine Gruppe junger Leute:

»Raucht ihr, weil eure Eltern etwas dagegen haben?« Viele von ihnen bejahten die Frage, und einer fügte hinzu: »Wenn sie uns sagen, dass wir etwas nicht machen sollen, dann machen wir es erst recht.«

Viele Menschen haben auch als Erwachsene noch eine solche Vorstellung von Freiheit. Die bringen sie dann bezüglich der Religion, ihrer Karriere oder ihrer Bürgerpflichten zum Ausdruck. Aus dem buddhistischen Blickwinkel betrachtet ist die Aussage »Du hast mir nicht zu sagen, was ich zu tun habe«

freilich ein Ausdruck von Gefangenschaft, nicht Freiheit.

Weil Buddha sagte: »Was ich als Befreiung bezeichne, bezeichnet die Welt als Resignation«, glaubt so mancher, im Buddhismus ginge es darum, auf- oder nachzugeben – als rieten uns die Lehren, anderen als Abtreter zu dienen, statt uns zu erheben und der Wirklichkeit ins Auge zu sehen. Wer dieser Täuschung erliegt, sagt vielleicht: »Dort draußen gibt es gewaltige Kräfte. Hör auf, dagegen anzukämpfen. Gib einfach auf, dann werden dir Erleuchtung und Freiheit zuteil.«

Das hat nicht das Geringste mit dem zu tun, was Buddha als Befreiung bezeichnete. Ein solches Denken ist die Gefangen-schaft selbst. Es ist immer noch Ausdruck unserer normalen, ichbezogenen Geisteshaltung.

Buddhas Botschaft klingt für uns wie Resignation, weil wir immer noch glauben, es gäbe ein Selbst, das »hier«, und etwas anderes, das »dort draußen« sei. Buddha aber zeigte uns, dass es

»dort draußen« keine von uns getrennte Welt gibt. Das heißt, eine Trennung zwischen uns und allem anderen lässt sich schlicht und einfach nicht feststellen. Befreiung erlangen wir nicht dadurch, dass wir uns den Regeln des Universums fügen, sondern indem wir sehen, dass es weder einen abgetrennten Menschen gibt, der sich fügen müsste, noch ein übermächtiges Universum, dem er sich fügen müsste.

Buddha spricht von der Erfahrung, die du jetzt, in diesem Augenblick, machst. Wenn du sie jetzt gleich einmal betrachtest, wirst du sehen, dass sie unmittelbar und fortlaufend ist und sich nicht von dem »dort draußen« trennen lässt.

Du siehst und hörst ein Auto vor deinem Fenster und denkst:

»Dort draußen auf der Straße fährt ein Auto.« Doch wo ist das Geräusch? Ist es »dort draußen« auf der Straße? In deinem Ohr?

In deinem Kopf? Steckt es in der Schwingung der Luft zwischen dir »hier« und der Straße »dort draußen«? Wo ereignet sich all das?

Die meisten Menschen denken: »Da ist etwas dort draußen, und ich bin hier drin. Mit dem, was dort draußen ist, habe ich nichts zu tun.« Eben weil wir so denken, erschüttert uns die Welt so sehr – genauer gesagt, erschüttern uns unsere Gedanken und Gefühle über die Welt so sehr. Sie legen uns Fesseln an und halten uns gefangen.

Doch wenn wir unsere Erfahrungen eingehend betrachten, können wir erkennen, dass es kein »Wir« gibt, das von »dem dort draußen« getrennt ist. Dieses Sehen ist, was Ying-an als

»Hindurchgehen« bezeichnet.

Wenn Ying-an sagt: »Niemand kann euch festhalten, niemand zurückrufen«, bestätigt er nur, dass es nichts gibt, was aufge-halten oder zurückgerufen werden könnte. Das gab es nie und wird es nie geben. Ebenso wenig wie wir »dem Geräusch dort draußen« eindeutig einen Raum zuordnen können, ist je irgendwo etwas entstanden. Wenn wir unsere unmittelbare Erfahrung untersuchen, entdecken wir, dass sich nichts je festnageln lässt – auch nicht das, was wir für das eigene Selbst halten.

Wenn wir diesen Augenblick einmal gesehen haben, wie er ist, verschwindet der Glaube an ein Universum, in dem es ein winziges, isoliertes »Ich« gibt, das alles »dort draußen« aus der Ferne betrachtet. Dann verschwindet das Bedürfnis, sich vor dem »dort draußen« zu schützen und sich dagegen zu wehren oder sich Gutes von ihm zu verschaffen oder dem »dort draußen« etwas zu entlocken.

Das ist Befreiung, Erleuchtung, geistige Freiheit. Es ist das genaue Gegenteil von Resignation. Es ist das Verschwinden des

Wunsches, alles zu bekommen, was man möchte, oder zu tun und zu lassen, was einem gerade gefällt.

Du bist schon jetzt in der Lage, die Wahrheit zu sehen. Diese Fähigkeit wird (und kann) dir niemand geben – weder ich noch dieses Buch noch Buddha oder irgendjemand oder irgendetwas sonst. Wie könnte man dir auch geben, was du bereits hast?

Niemand kann dich festhalten, niemand kann dich zurück-rufen. So wie niemand dich bindet, niemand dich blendet.

Im Dokument Buddhismus im Alltag (Seite 101-105)