• Keine Ergebnisse gefunden

Verzicht auf Verständnis

Im Dokument Buddhismus im Alltag (Seite 174-180)

n der buddhistischen Literatur findet sich häufig der Begriff Bodhisattva, das bedeutet »erleuchtetes Wesen« – ein weiser, mitfühlender Mensch von hoher Moral, der gelobt hat, alle Wesen von Kummer und Leid zu befreien. Das hört sich vielleicht nach etwas ganz Besonderem an, doch in Wirklichkeit wird man ein Bodhisattva auf ganz ähnliche Weise, wie man ein Fußgänger wird.

I

In diesem Augenblick bist du vermutlich kein Fußgänger.

Aber sobald du dieses Buch niederlegst und einen Spaziergang machst, bist du einer – du gehst zu Fuß. Plötzlich ist ein Fußgänger erschienen. Allerdings gibt es niemanden, der von Natur aus die ganze Zeit über ein Fußgänger wäre. Sobald du aufhörst zu gehen, verschwindet der Fußgänger.

Mit dem Erscheinen eines Bodhisattvas verhält es sich so ähnlich. Ein Bodhisattva kann jeden Augenblick plötzlich erscheinen. Im einen Augenblick bist es vielleicht du, im nächsten ist es ein anderer.

Wenn wir glauben, der Begriff Bodhisattva beschreibe einen bestimmten Menschen, der zu einer bestimmten Zeit geboren wurde, jemanden, der von Geburt an besondere Kräfte besitzt (oder dazu bestimmt ist, sie zu entwickeln), missverstehen wir das nüchterne, praktische Wesen eines Bodhisattva. So, wie du ohne Berechnung oder ohne es geplant zu haben jeden Augenblick zu einem Fußgänger werden kannst, kannst du auch zu einem Bodhisattva werden.

Ich spreche hier nicht von etwas Esoterischem, Fernem oder Übersinnlichem. Das ist unsere Wirklichkeit. Alles entfaltet sich auf ebendiese Weise. Nichts ist von Natur aus etwas Besonderes. Alles ist sehr dynamisch, sehr praktisch, sehr bodenständig.

Es heißt, wenn ein Bodhisattva erscheint, verzichtet er sowohl darauf zu verstehen als auch darauf, verstanden zu werden. Das ist wahr.

Bei meiner Ordination zum Laienpriester druckte mein Lehrer ein chinesisches Schriftzeichen auf die Rückseite meines Rakusu (dabei handelt es sich um die Miniaturausgabe einer Zenrobe, die eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Lätzchen hat und um den Hals getragen wird). Das Schriftzeichen bedeutet »kein Verständnis« und wird auch mit »Nichtwissen« oder »kein Wissen« übersetzt. Damals war ich zutiefst enttäuscht, als ich das hörte. Ich dachte, im Zen ginge es darum zu verstehen – darum, sich über die Welt und den eigenen Platz darin klar zu werden. »Kein Verständnis« – das verwirrte mich sehr. Doch

»kein Verständnis« spielt in der buddhistischen Praxis und Erleuchtung eine zentrale Rolle.

Genau genommen sprach der Buddha von zweierlei Wissen.

Das erste nannte er »Verständnis« – das Wissen darum, wie die Dinge aussehen, klingen und erscheinen. Bei dieser Art Wissen geht es um Ideen, Vorstellungen und die äußere Erscheinung scheinbar voneinander getrennter Dinge. Das Verständnis bezieht sich auf das Reich der Dinge, der Getrenntheit, des Dualismus, in dem die übliche zersplitterte Weltsicht herrscht.

Die meiste Zeit tun wir so, als könne uns dieses Verständnis zu Wahrheit und Wirklichkeit führen (oder sie zumindest wider-spiegeln). Doch sobald wir ein wenig an der Oberfläche kratzen, ist unser Verständnis zu Ende. Das macht uns Angst, bereitet uns Sorge und macht uns nervös.

Wir begehen gerne den Fehler zu denken, wir könnten den Dingen mit dem richtigen Verständnis – den richtigen Vorstellungen – auf den Grund gehen. Doch Verständnis allein genügt nicht, um die fließende, dynamische, stets im Wandel begriffene Wirklichkeit zu erkennen. Es ist einfach nicht das richtige Werkzeug. Es ist, als wolle man Wasser mit einem Sieb schöpfen. Auch das beste, mit größter Sorgfalt gefertigte Sieb ist

zum Wasserschöpfen nicht geeignet.

Trotzdem können wir die Wirklichkeit sehr wohl erkennen.

Eigentlich erkennen wir nur die Wirklichkeit und können auch nur sie erkennen.

Dennoch gibt es nichts darüber zu sagen, denn alles ist im Fluss, alles ist im Wandel. Sobald wir etwas sagen, frieren wir ein winziges Stückchen, einen winzigen Augenblick davon ein.

Doch da die Wirklichkeit niemals erstarrt ist, kann das, was wir sagen, niemals die Wahrheit sein (oder uns zu ihr führen). Die Wahrheit lässt sich einfach nicht in Worte fassen.

Aber wir können sie sehen.

Der Buddha sprach von einer zweiten Art von Wissen – davon, zu erwachen und die Wahrheit zu erkennen; davon zu sehen, dass wir die Wirklichkeit nicht festnageln können, dass sie fließend ist, nicht starr. Das bedeutet, nicht nur die Oberfläche der Wirklichkeit, sondern die ganze Wirklichkeit durch und durch zu sehen. Buddha bezeichnete dieses Sehen als

»Einsicht«.

Wir haben es immer mit dem Hier und Jetzt zu tun – und mit dem, was uns genau hier, genau jetzt begegnet. Wenn wir lernen, genau hier, genau jetzt zu sein, werden wir allmählich sehen, dass alles vollkommen im Fluss ist und beliebig viele Ausdrucksmöglichkeiten hat, solange wir es nicht in unserem Geist festnageln.

Tatsache ist, dass wir nicht in der Lage sind, hinreichend zu sagen oder zu erklären, wie etwas ist, oder uns eine Vorstellung davon zu machen. Einsicht bedeutet, unmittelbar zu sehen. Sie ist ein stillschweigendes, aber tiefes Verständnis dieses Augenblicks, das an keine Vorstellungen von »Ich« oder »ich verstehe das« gebunden ist.

Wir müssen erkennen, dass wir uns an der Oberfläche der Welt bewegen, sobald wir versuchen, etwas festzuhalten. An sich ist das kein Problem. Doch wir halten das, was wir auf

diese Weise zu fassen bekommen – was wir denken, glauben oder uns vorstellen – zu Unrecht für die Wirklichkeit. Wir verwechseln unsere Gedanken, Meinungen und Überzeugungen mit wahrer Einsicht. Das ist der Ursprung unseres tiefsten Leidens.

Einsicht lässt einen Bodhisattva in diesem Augenblick erscheinen, ohne dass er den Wunsch hat, die richtige Vorstellung von den Dingen oder die richtige Erklärung dafür zu finden, wie die Dinge sind. Der Bodhisattva erkennt in diesem Augenblick, dass nichts etwas Besonderes ist – auch nicht der Bodhisattva, das »Ich« selbst.

Wir alle kommen immer wieder auf die Welt – mal als Fußgänger, mal als Leser, mal als Bodhisattva und mal als etwas anderes, das ebenso fließend und flüchtig und ebenso wenig in Worte zu fassen ist.

Der Bodhisattva erscheint mit dieser Einsicht in der Welt. Er greift nicht nach Oberflächlichem, nach erstarrten Formen. Er greift nicht auf die vorübergehende Notlösung des Verständnisses zurück.

Wenn wir darauf verzichten wollen, zu verstehen und verstanden zu werden, kommt es darauf an, uns nicht in unserem Denken zu verfangen. Denn dann können wir jeder Situation rein und ohne festgelegt zu sein, begegnen – dann sind wir nichts Bestimmtes, sind kein Ego, haben keine Pläne und erwarten nicht, dass Rücksicht auf unsere Wünsche und Gefühle genommen wird.

Wenn wir darauf verzichten, zu verstehen und verstanden zu werden, gibt es keine Aufregung, kein Unbehagen, keine Nervosität. Dann beunruhigt uns nicht, dass es uns an Verständnis fehlt.

Wenn wir uns auf unser Verständnis verlassen, entsteht dadurch unweigerlich Unruhe im Geist. Wir können sehen, welche tiefgreifenden Störungen dadurch entstehen, dass wir

versuchen, etwas Greifbares, etwa eine Vorstellung oder eine Erklärung oder eine Antwort, festzuhalten. Dies ist die am tiefsten empfundene Form von Duhkha – der Ursprung allen Leidens.

Letzten Endes gibt es nichts festzuhalten. Wenn wir tatsächlich einsehen, dass die Welt so ist, wie sie ist, dass sie schon immer so war und immer so bleiben wird und muss, können wir das Unbehagen überwinden, nicht zu wissen – ebenjenes Unbehagen, das uns fast immer davon abhält, die Wirklichkeit zu sehen.

Die meisten von uns haben gerne etwas in der Hand, woran sie sich festhalten können, wünschen sich festen Boden unter ihren Füßen. Wir glauben, darauf angewiesen zu sein, und fühlen uns sehr unbehaglich bei dem Gedanken, dass nichts von dem, worauf wir bauen, verlässlich oder die Wahrheit ist. Also suchen wir immer wieder nach etwas Neuem.

Doch nichts von dem, worauf wir bauen, hält. Das kann es nicht.

Trotzdem sind wir in jedem Augenblick hier.

Wahrheit und Wirklichkeit sind immer hier, wir können sie jederzeit sehen. Wir müssen nicht auf eine bestimmte Vorstellung, Überzeugung, Antwort oder ein anderes geistiges Gebilde pochen. Wir können jeden Augenblick sehen, was tatsächlich geschieht, ohne es festhalten zu wollen – ohne etwas finden zu müssen, das uns stützt oder tröstet. Denn was muss überhaupt gestützt werden? Was ist bedroht?

Wir verwenden sehr viel Zeit und Energie darauf, uns zu fürchten und zu sorgen. Wir sind sehr erfinderisch, wenn es darum geht, uns anzutreiben, weil wir glauben, es gäbe etwas in uns, das wir zufrieden stellen, schützen und unterstützen müssten.

Der Bodhisattva erscheint ohne dieses Bedürfnis in der Welt.

Wir können in diesem Augenblick erkennen, dass wir nicht

verstehen müssen, nicht verstanden werden müssen, nicht die richtige Vorstellung haben müssen. Wir müssen lediglich erwachen und das Hier und Jetzt sehen – müssen aufhören, uns selbst etwas einzureden, und diesen Augenblick erfahren.

Es gibt nichts zu beweisen, nichts herauszufinden, nichts zu bekommen, nichts zu verstehen. Wenn wir endlich aufhören, uns für alles eine Erklärung auszudenken, entdecken wir vielleicht, dass in der Stille die Einsicht von Anfang an vollkommen war.

Im Dokument Buddhismus im Alltag (Seite 174-180)