• Keine Ergebnisse gefunden

Es genügt, wach zu sein

Im Dokument Buddhismus im Alltag (Seite 114-120)

s gibt eine Geschichte über einen chinesischen Zenlehrer des neunten Jahrhunderts namens Kuei-shan und seinen Schüler Yang-shan. Yang-shan ging zu Kuei-shan und fragte:

E

»Was ist zu tun, wenn die zehntausend Dinge auf dich zukommen?«

Kuei-shan antwortete: »Grün ist nicht gelb. Lang ist nicht kurz. Die Dinge regeln sich selbst. Weshalb sollte ich mich einmischen?«

Leider glauben die meisten von uns, sich einmischen zu müssen. Wir haben das Gefühl, etwas tun zu müssen, etwas sein zu müssen, etwas regeln zu müssen. Wir denken, wenn wir es nur richtig anstellten, käme alles in Ordnung.

Dabei übersehen wir, dass die Dinge, die wir regeln möchten, nur in unserer Vorstellung existieren, dass sie erstarrt und in geistige Schubladen verpackt sind – während die Wirklichkeit ein ständiges Fließen, ein vollkommener Fluss ist.

Wir verhalten uns, als könnten wir das Leben zu unserer vollsten Zufriedenheit gestalten, wenn es uns nur irgendwie gelänge, die Kunst der Organisation zu erlernen. Wir leben so, als bekämen wir, was wir wollten, sobald wir diese Kunst gemeistert hätten. Als sei Zufriedenheit möglich. Als könnten wir dafür sorgen, dass unser Leben funktioniert und dass auch der Rest der Welt funktioniert.

Doch es gelingt uns nie, die Welt oder unser Leben so einzurichten, wie wir es uns wünschen – zumindest nicht lange.

Die Dinge ändern sich wieder, also probieren wir etwas Neues.

Wir fangen wieder an, darüber nachzudenken, was unser Los verbessern könnte, und durchlaufen den gesamten Kreislauf der Verblendung noch einmal.

Wenn wir ganz genau hinsehen, sehen wir, dass wir uns dem Leben aus Unzufriedenheit auf diese Weise nähern. Vielleicht erkennen wir sogar, dass unser Leben vollkommen in Ordnung ist, bevor wir eingreifen und versuchen, es besser zu machen.

Doch sind wir heute nicht in jeder Hinsicht besser dran als früher?

Wenn wir versuchen abzuschätzen oder zu beweisen, dass es uns besser geht – oder auch nicht –, greifen wir schon wieder nach einer Erklärung oder einer Antwort. Doch was wir auch zu fassen kriegen, es ist von Anfang an fragwürdig.

Wenn wir sagen: »Es geht uns besser«, glauben wir, die Geschichte sei aus irgendeinem Grund bereits vorbei und wir seien an einem Punkt angelangt, an dem Stillstand herrscht.

Aber im echten Leben gibt es keinen solchen Punkt, im Gegensatz zu Märchen. Es ist ja eines der typischen Merkmale von Märchen, dass sie in einem kurzen, glücklichen Augenblick enden oder uns in dem Glauben lassen, es ginge ewig so weiter (

»… und sie lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende« ).

Im echten Leben ist die Geschichte nie vorbei. Das echte Leben ist ständig im Fluss. Wie können wir also behaupten, wir seien jetzt besser dran? Was für ein absurder Gedanke. Niemand weiß, wie die Geschichte weitergeht. Was wir auch anführen, es kann sich stets in sein Gegenteil verkehren. Die Geschichte hört niemals auf.

Trotzdem planen und handeln wir, als hätten die Dinge irgendwann ein Ende. Das liegt daran, dass wir in unserer Verblendung den steten Wandel ignorieren, in dem Glauben, irgendetwas könne tatsächlich von Dauer sein, und sei es nur für einen kurzen Augenblick. Das alles ist Illusion, aber wir sehen es nicht.

In einer anderen Geschichte von Meister Kuei-shan heißt es, dass er einmal zu seinen Mönchen sagte: »Heute ist es kalt – so

kalt wie vor einem Jahr. Und nächstes Jahr wird es genauso kalt sein.« Dann wandte er sich an Yang-shan und fragte: »Sag mir, was wiederholen die Tage des Jahres?«

Yang-shan, ein hochrangiger Mönch, machte eine Geste des Respekts und schwieg.

Kuei-shan sagte: »Ich wusste, du würdest dazu nichts sagen können.« Dann sah er Hsiang-yen, einen der jüngeren Mönche, an und fragte: »Was meinst du?«

»Ich glaube, ich kann etwas dazu sagen«, setzte Hsiang-yen an.

Da unterbrach ihn Kuei-shan mit den Worten: »Ich bin froh, dass Yang-shan meine Frage nicht beantworten konnte.«

Was können wir über die fortwährende, zyklische, in ständi-gem Wandel begriffene Existenz schon sagen? In dem Augen-blick, in dem wir etwas dazu sagen wollen – in dem wir versu-chen, ihr eine starre, begriffliche Form zu geben –, entfernen wir uns von der Wirklichkeit, wie sie ist und wie wir sie erfahren.

Wer erwacht ist, will nur wach sein und will sich bezüglich dessen, was vor sich geht, nicht täuschen lassen. Das ist genug.

Eine der großen Erkenntnisse Buddhas bezieht sich direkt darauf, dass wir uns mit eigenen Plänen, mit eigenen Vorhaben, mit der Vorstellung in die Welt stürzen, die Wirklichkeit habe so oder so zu sein. Er erkannte darin die Vergegenständlichung einer geistigen Schöpfung namens »Ich«, die wir heute oft als Ego bezeichnen. Wenn wir an diese Illusion glauben, entsteht eine Aktivität von ganz anderer Art als die, die der auf natür-liche Weise entspricht: Sie ist absichtsvoll – das heißt, sie ist von einem Selbst und dessen Rolle aktiviert und nicht von der Wirklichkeit in ihrer Ganzheit. Anders gesagt, sie bezieht sich auf einen einzelnen Punkt und nicht auf das ganze Feld. Weil sie nicht aus der Ganzheit kommt, verursacht sie Duhkha – Unzufriedenheit, Frustration, Ärger, Kummer, Sorge, Angst, Abscheu und Verwirrung.

Das heißt nicht, dass wir gar nichts tun sollten. Es ist nicht möglich, nichts zu tun. Wir sind Teil der Welt, und die Welt ist ständig in Bewegung. Genau genommen ist sie nur Aktivität, Bewegung, Energie. Nichts steht jemals still. Wenn wir uns vor-nehmen, nichts zu tun, so tun wir dennoch etwas, weil alles eine Form von Aktivität ist. Selbst wenn wir reglos in einem Fluss sitzen, interagieren wir mit allem, was an uns vorbeischwimmt.

Der Erwachte sieht, dass die große Frage im Leben nicht lautet: »Was muss ich tun, um die Welt zu meiner Zufriedenheit zu gestalten?«, sondern: »Wie kann ich lernen, zu sehen, was vor sich geht?« Anders gesagt, unsere Frage spiegelt nicht mehr unseren Wunsch wider, etwas zu bekommen oder uns auf irgendeine egoistische Weise alles recht zu machen, sondern sie hat sich in wahres Interesse am Erwachen verwandelt.

Wenn wir lernen, auf das zu achten, was tatsächlich geschieht, und die Dinge zu sehen, wie sie sind, handeln wir noch immer, doch dieses Handeln ist nicht mehr von unseren persönlichen Wünschen oder Plänen bestimmt.

Jeder Augenblick stellt uns vor eine neue Situation, und normalerweise haben wir auch schon einen Plan oder ein Programm dafür. Es ist nicht falsch, einen Plan zu haben. Es ist nur sehr viel wichtiger, dass wir stets die Augen offen halten und sehen, was jetzt geschieht. Nichts steht still, deshalb kann unser Plan manchmal zu einem Hindernis werden. Besonders, wenn wir uns an ihn klammern. Wenn wir nicht auf das achten, was tatsächlich geschieht, werden wir all die Möglichkeiten, die sich uns ständig eröffnen, nicht sehen.

Handeln oder nicht handeln ist eigentlich nicht die Frage. Der Erwachte möchte in erster Linie einfach wach sein – sehen, was vor sich geht. Wenn man sieht, was in diesem Augenblick geschieht, wird angemessenes – und natürliches – Handeln möglich.

Kuei-shan sagte: »Weshalb sollte ich mich einmischen?«

Wenn wir auf der Grundlage dessen handeln, was wir sehen, mischen wir uns nicht mehr störend in die Welt ein, sondern handeln wie die Natur – aus dem Ganzen, aus der Gesamtheit heraus.

Dem Erwachten liegt in erster Line daran, einfach zu sehen, was geschieht, und im Einklang damit zu handeln.

Darin unterscheiden sich die Erwachten von den Menschen, die in Verblendung gefangen sind. Es ist ein sehr kleiner, feiner Unterschied – mit gravierenden Folgen. Wenn man ihn erkennt, vollzieht sich ein völliger Wandel in Herz und Geist.

Erleuchtung ist nicht mehr als das: voll und ganz gegenwärtig zu sein, die Habgier des Geistes zu sehen und nicht daraus zu handeln. Erleuchtung bedeutet, dass wir uns nicht für eigenständig, ungenügend, schwach und hilflos und auch nicht für diejenigen halten, die das Sagen haben.

Wenn wir nicht mehr aus dem Glauben an ein eigenes Selbst – aus unseren Wünschen, Ängsten, Sorgen und Zwangsvorstel-lungen – heraus handeln, werden wir auch nicht mehr von dem Zwang getrieben, alles so zu regeln, dass es uns angenehm und zufrieden stellend erscheint.

Die Wahrheit ist, dass es uns niemals gelingen wird, alles genau so zu arrangieren, dass wir glücklich und zufrieden bis an unser Lebensende sind. Dass es uns niemals gelingen wird, uns länger als nur einen flüchtigen Augenblick zufrieden zu stellen oder uns zu schützen. Weshalb sich also einmischen? Wenn wir genau betrachten, was Augenblick für Augenblick geschieht, sehen wir, dass es nichts gibt, woran wir uns klammern müssten – ja, dass es überhaupt nichts gibt, was wir ergreifen könnten.

All das bedeutet nicht, dass wir nichts tun können oder sollen.

Es bedeutet nicht, dass wir nicht planen oder denken oder glauben oder irgendwelche Vorstellungen haben können. Es bedeutet, dass wir uns weder von diesem täuschen noch auf jenes hereinfallen müssen.

Es ist die Motivation des Erwachten, die sich verschoben hat.

Er möchte nun einfach Augenblick für Augenblick wach erleben und sich mit jeder frischen, neuen Situation beschäftigen, wenn sie entsteht. Wir begeben uns unwissend, aber mit offenen Augen für das, was wirklich geschieht, in jede neue Situation und handeln entsprechend. Wenn wir jeden neuen Augenblick sehen, während er entsteht, ist unser Handeln im Einklang damit, wie die Dinge jetzt sind.

Das Universum wird in jedem Augenblick neu geboren und du mit ihm. Seit du dieses Buch zur Hand genommen hast, sind unzählige Versionen von dir gekommen und gegangen – jeden Augenblick wirst du neu geboren. Nichts ist von Dauer. Was für ein »Ich« müsstest du also befriedigen und beschützen?

Der Erwachte hat nur das eine Ziel, sich immer wieder auf diese Erkenntnis zu besinnen und sich nicht im Glauben an Dauerhaftigkeit zu verfangen.

Viele von uns wenden sich dem Zen zu, weil sie die Wirklich-keit kennen lernen möchten. Wenn wir dann aber gelernt haben, ganz genau hinzusehen, sehen wir, dass sich die Wirklichkeit mit nichts vergleichen lässt. Sie ist sie selbst, und muss es auch sein.

Wie Sextus Empiricus, ein griechischer Philosoph, bemerkte:

»Es genügt, aus der Erfahrung zu leben, ohne irgendwelchen Überzeugungen anzuhängen« Wir müssen nicht glauben. Wir müssen nur sehen.

Es genügt, wach zu sein – für jeden von uns. Wenn wir erwachen, werden wir sehen, dass wir die ganze Zeit über nur den einen wahren Wunsch hatten, wach zu sein.

Im Dokument Buddhismus im Alltag (Seite 114-120)