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Im Dokument Buddhismus im Alltag (Seite 28-34)

iele Menschen stecken Religion und Wissenschaft in zwei getrennte, hermetisch abgeriegelte Schubladen. Dabei entgeht ihnen meist, dass Religion und Wissenschaft jahrhundertelang viele Gemeinsamkeiten hatten, ehe wir sie in diese Schubladen sperrten. Als die Naturwissenschaft noch kein eigenständiger Bereich war, waren Wissenschaft und Religion sogar ein und dasselbe.

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Das ist gar nicht so abwegig, wenn man bedenkt, dass beide ihren Ursprung in dem tief empfundenen Wunsch des Menschen haben, zu wissen, die Wahrheit zu erkennen.

Sehen wir uns einmal an, worum es der Religion wirklich geht.

Das Wort Religion kommt von religio, und das bedeutet

»Rückbindung (an die Wahrheit)«. Somit geht es bei der Religion im Kern darum, die Wahrheit zu sehen oder zu erfahren – und nicht darum, eine Reihe von Glaubenssätzen anzunehmen. Religio entspringt unserem tief empfundenen Wunsch, zur Wahrheit zurückzukehren. Wir wollen uns nicht täuschen lassen.

Wie der Religion geht es auch der Wissenschaft um die Wahrheit. Der Begriff »Wissenschaft« verrät bereits, worum es hier geht: um »Wissen«. Ich habe Wissenschaftler oft sagen hören, in der Wissenschaft gehe es vor allem darum, Dinge zu erkennen und zu wissen, und nicht darum, sie zu glauben.

Doch der Punkt, den wir gerne übersehen – der Punkt, an dem wir uns verheddern und in die Irre gehen –, ist genau diese Sache mit dem Glauben. Die landläufige Meinung hinsichtlich Wissenschaft und Religion geht dahin, beiden Bereichen ausgerechnet die Eigenschaft zuzuschreiben, die im Grunde zum jeweils anderen Bereich gehört. Während man die Religion gemeinhin für eine Glaubensangelegenheit hält, geht es ihr in

Wirklichkeit ums Erkennen und Wissen. Und während man gemeinhin denkt, in der Wissenschaft ginge es um Fakten, und die Wissenschaft für sich in Anspruch nimmt, glaubensunab-hängig zu sein, spielt der Glaube hier in Wahrheit eine recht große Rolle.

Vor nicht allzu langer Zeit erschien in der New York Times ein Artikel mit dem Titel »Crossing Flaming Swords over God and Physics« ( »Sie kreuzten Flammenschwerter wegen Gott und Physik« ). Darin wurde eine Diskussion zwischen dem Physik-nobelpreisträger Steven Weinberg und dem anglikanischen Geistlichen John Polkinghorne wiedergegeben. Sie wurde als Streitgespräch zwischen dem »Gläubigen« (Polkinghorne) und dem »Ungläubigen« (Weinberg) angekündigt. Doch das entsprach ganz und gar nicht den Tatsachen. Wie es in dem Artikel hieß, geriet die Begegnung beinahe »zu einem körperlichen Schlagabtausch«.

Wäre Steven Weinberg tatsächlich ein »Ungläubiger«

gewesen, hätte sich dieses Problem nicht gestellt. So aber handelte es sich bei dieser Begegnung nicht um die Diskussion zwischen einem Ungläubigen und einem Gläubigen, sondern um die Konfrontation zwischen zwei glühend überzeugten Gläubigen, um ein zähes Ringen zwischen zwei Männern mit sehr unterschiedlichen festgefügten Ansichten.

Die Probleme in der Welt entstehen nicht durch die Gegensätze zwischen Wissenschaft und Religion oder Glaube und Unglaube. Die wütendsten Auseinandersetzungen (und die gewalttätigsten Zusammenstöße) finden unweigerlich zwischen Gläubigen statt. Wenn sich unnachgiebige Gläubige streiten, sind die Chancen auf eine freundschaftliche Beilegung des Streits gleich null.

Fest steht, dass die Wissenschaft Glauben braucht. Ohne

Glauben geht es nicht. Die Wissenschaft setzt voraus, dass wir die Welt begrifflich darstellen können. Sie setzt voraus, dass wir die Welt zerlegen müssen, um sie untersuchen zu können. Das ist keineswegs falsch, sondern sogar von großem Wert. So gesehen macht die Wissenschaft stärker vom Glauben Gebrauch und ist stärker davon abhängig als die Religion.

Andererseits: Damit die Religion richtig funktioniert – das heißt, damit sie uns hilft, unsere Augen der Wahrheit zu öffnen –, sollte kein Glaube nötig sein. Schließlich geht es im Grunde ja um die direkte Kenntnis der Wahrheit. Somit setzt die Religion lediglich das ernsthafte Verlangen voraus, zu wissen, zu sehen und zu erwachen. Das ist genug.

Leider macht die Religion in der Praxis reichlich Gebrauch vom Glauben, wenn es um Fragen geht wie: Woher kommen wir, was ist unsere Aufgabe hier, wohin gehen wir und so weiter. All das geschieht in dem verzweifelten Versuch, die Welt und das, was wir auf dieser Welt erleben, zu verstehen.

Joseph Campbell sagte, wir würden religiöse Erfahrungen verhindern, weil wir sie in Begriffe fassen.

Wenn die Religion auch weiterhin optimal funktionieren möchte, täte sie gut daran, sich ganz und gar vom Glauben zu lösen und aufzuhören, begriffliche Wirklichkeitsmodelle zu erschaffen, die sich unweigerlich als fehlerhaft herausstellen.

Diese Aufgabe fällt inzwischen eher in den Bereich der Wissenschaft, nicht der Religion.

Kurz gesagt, die Wissenschaft ist zum korrekten Umgang mit dem Glauben in der Lage, die Religion nicht. Die Wissenschaft gibt sich große Mühe, die Gültigkeit ihrer Glaubenssätze (die hier Hypothesen genannt werden) zu beweisen oder zu widerlegen. Sie prüft ihre Hypothesen, und wenn sie sich als falsch erweisen, werden sie verworfen oder neu formuliert und erneut geprüft. Anschließend werden die Tests viele Male von Dritten wiederholt. Das ist eine untadelige Methode, um die Wahrheit – das heißt, die relative, praktische Alltagswahrheit –

zu ermitteln.

Über die höchste Wahrheit kann uns die Wissenschaft freilich rein gar nichts sagen. Die fällt zu Recht in den Zuständigkeitsbereich – und die Verantwortung – der Religion.

Mithilfe der wissenschaftlichen Methode können wir viele falsche Vorstellungen über die Beschaffenheit der relativen Welt – der Alltagswelt – ausräumen und darüber, wie die Dinge funktionieren und zusammenspielen. Sie verschafft uns allerdings kein direktes und unmittelbares Verständnis für das, was tatsächlich vor sich geht. Das ist Sache der Religion – allerdings nur, solange sie sich nicht mit dem Glauben zufrieden gibt.

Der Religion fehlt das Handwerkszeug, um Hypothesen zu prüfen und zu belegen. Das ist auch gar nicht ihre Aufgabe. Sie hat keine Verwendung für die wissenschaftliche Methode, weil sie Hypothesen weder braucht noch sich ihrer bedienen oder sich auf irgendwelche Überzeugungen stützen sollte.

Dessen ungeachtet setzen leider alle Religionen – auch der Buddhismus – auf den Glauben, weshalb jede unter einem anderen Banner, das nichts weiter als menschliche Verblendung und Torheit ist, eine andere Richtung einschlägt. Das führt dazu, dass die Religionen sowohl einander als auch die Wissenschaft bekämpfen. Mein Lehrer Dainin Katagiri Roshi pflegte zu sagen: »Die Menschen versammeln sich unter der schönen Flagge der Religion, um zu kämpfen.«

An dieser Situation trägt freilich nicht die Religion die Schuld, sondern unsere ständige Suche nach etwas, an das wir uns klammern können. Wir wollen sagen können: »Das ist es. So ist es. Das ist die Wahrheit – glaubt daran!«

Je mehr wir das tun, desto weiter haben wir uns von der Wahrheit entfernt, denn die Wahrheit – die höchste Wahrheit – ist nicht etwas, das wir glauben können. Das heißt, sie ist nichts, wovon wir uns irgendeine Vorstellung machen könnten.

Irgendwann müssen wir uns mit der Tatsache anfreunden, dass es unser sehnlichster Herzenswunsch ist, zur Wahrheit zurückzukehren. In der Religion wird dieses Gefühl oft einfach, aber klar zum Ausdruck gebracht und als »reines Herz« oder

»reiner Geist«, der ohne besondere Absicht und Ziel ist, beschrieben. Wenn wir unseren viel beschäftigten Geist zur Ruhe bringen, können wir diese Reinheit des Herzens und des Geistes sofort spüren.

Nun sind wir es freilich gewohnt, unseren Blick auf etwas außerhalb von uns selbst zu richten, auf etwas »dort draußen« in der Welt – oder gar »dort draußen« jenseits der Welt – das uns retten wird. Etwas, das als Vermittler dient.

Das geschieht aus unserer Verwirrung und der Angst heraus, wir seien aus irgendwelchen Gründen der Wahrheit fern und es gebe von Anfang an eine natürliche Trennung zwischen uns und der Welt.

Doch die gibt es nicht. Wir Menschen müssen unbedingt zur Ruhe kommen und ebendas erkennen – und die Religion in ihrer reinsten Form kann uns dabei helfen.

Shunryu Suzuki schrieb in seinem ersten Buch Zen-Geist, Anfänger-Geist:

Ich habe entdeckt, dass es notwendig ist, absolut notwendig, an nichts zu glauben. Das heißt, wir haben an etwas zu glauben, das keine Form und Farbe hat – an etwas, das existiert, ehe alle Formen und Farben erscheinen. Dies ist sehr wichtig.

Oder wie es Huang-po, der chinesische Zenmeister aus dem neunten Jahrhundert, formulierte: »Die Dummen verwerfen, was sie sehen, nicht was sie denken. Die Klugen verwerfen, was sie denken, nicht was sie sehen.«

Statt dem zu vertrauen, was wir glauben, denken, erklären, rechtfertigen oder anderweitig in unserem Geist erschaffen, können wir lernen, auf die unmittelbare, direkte Erfahrung zu vertrauen, die schon da ist, bevor Farben und Formen erscheinen. Dabei kann uns die Religion in ihrem ursprünglichsten Ausdruck helfen.

Glaube in seiner reinsten Form bedeutet, Vertrauen in die tatsächliche Erfahrung zu haben, bevor wir irgendetwas daraus machen – bevor Ansichten, Gedanken, Zeichen, Erklärungen, Begründungen und andere geistige Gebilde Gestalt annehmen.

Die Religion hält eine solch gesunde Einstellung, ein solch starkes Mitgefühl und eine solch große Weisheit für uns bereit.

Eine gesunde Einstellung, Mitgefühl und Weisheit rühren allesamt daher, dass wir einfach lernen, darauf zu vertrauen, dass sich die Wahrheit direkt vor unserer Nase befindet. Einen Vermittler gibt es nicht. Weder ein Lehrer noch eine Institution, noch irgendein Glaubenssystem kann uns die Wahrheit schenken. Wir finden sie auch in keinem Buch.

Eigentlich kann überhaupt nichts und niemand sie uns geben.

Das ist auch gar nicht nötig. Wir kennen sie bereits. Wir sind untrennbar mit ihr verbunden. Wir müssen sie nur sehen.

Ob wir nun religiös sind oder nicht, wenn wir uns an feste Überzeugungen klammern und uns damit identifizieren, wenn wir uns verschließen und von anderen abschotten, schaffen wir uns auf diese und andere Weise unsere dringlichsten und größten Probleme selbst.

Jeder von uns ist menschlich. Jeder von uns hat den Wunsch zu erwachen, auch wenn sich nicht jeder dessen bewusst ist. Die Grundbedingungen des Menschseins bewegen uns alle.

Wir müssen uns lediglich klar darüber werden, was wir direkt sehen, bevor wir es irgendwie deuten – und ohne an Gedanken oder Dingen festzuhalten. Dann erkennen wir die Wahrheit. Mit Glauben hat das nichts zu tun.

Im Dokument Buddhismus im Alltag (Seite 28-34)