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Der beste Bogenschütze der Welt

Im Dokument Buddhismus im Alltag (Seite 154-159)

iel der Zenpraxis ist der völlige Wandel von Herz und Geist. Wenn du Zen lebst, verändert es dich von Grund auf. Natürlich veränderst du dich jeden Augenblick, ob du Zen kennen lernst oder nicht. Doch wenn du nicht Acht gibst, welcher Art diese Verwandlung ist, wirst du kaum erwachen.

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Normalerweise denken wir, zu einem erfüllten Leben gehören Ziele. Wenn wir angefangen haben, Zen zu üben, setzen wir uns vielleicht die Erleuchtung zum Ziel. Doch im Zen geht es nicht darum, dass wir uns ein Ziel ausdenken und dann sehr viel Zeit und Energie darauf verwenden, es zu erreichen. Das ist nur unser normales Denken – unsere übliche, eingefahrene Art und Weise, am Leben und der Welt zu haften.

Zen bedeutet, frei zu sein von allen Anhaftungen. Zen bedeutet, dass wir diesen Augenblick erleben und sehen, was geschieht, statt uns alle möglichen Theorien und Erklärungen auszudenken.

Es gibt eine taoistische Geschichte, die das sehr schön illustriert. Sie handelt von einem Mann namens Chi-ch’ang, der den Wunsch hatte, der beste Bogenschütze der Welt zu werden.

Also machte er sich auf die Suche nach dem besten Lehrmeister.

Wie er gehört hatte, war das ein Mann namens Wei-fei.

Wei-fei erklärte Chi-ch’ang zuerst, er müsse lernen, nicht mehr zu zwinkern. Chi-ch’ang legte sich mit offenen Augen unter den Webstuhl seiner Frau, und der Staub und die Fusseln von ihrem Webstuhl fielen in seine Augen. Als eine Spinne zwischen seinen Wimpern ihr Netz spann, wurde ihm klar, dass er die Kunst des Nichtzwinkerns gemeistert hatte.

Er ging zu Wei-fei und zeigte ihm stolz, was er gelernt hatte.

Wei-fei blieb ungerührt und sagte, dass er nun lernen müsse zu

sehen. Er zeigte Chi-ch’ang, wie er die Dinge betrachten musste, bis Chi-ch’ang nach langem Üben die feinsten Adern eines Weidenblatts aus hundert Schritt Entfernung sehen konnte.

Nun, so sagte Wei-fei, sei Chi-ch’ang bereit, das Bogen-schießen zu lernen.

Chi-ch’ang blieb viele Jahre lang Wei-feis Schüler, bis er die Kunst des Bogenschießens schließlich gemeistert hatte. Danach zog er umher und prahlte mit seinen Kunststücken. Er balan-cierte Wassergläser auf seinem Ellbogen und schoss gleichzeitig hundert Pfeile in ein hundert Schritte entferntes Weidenblatt, ohne einen Tropfen Wasser zu vergießen.

Aber sein Ziel, der beste Bogenschütze der Welt zu sein, hatte Chi-ch’ang noch immer nicht erreicht. Einer stand ihm noch im Weg: sein Lehrer Wei-fei.

Er war zwar ebenso gut wie sein Lehrer, doch solange Wei-fei lebte, würde er ihn niemals übertreffen.

Chi-ch’ang lauerte ihm auf, und als Wei-fei eines Tages auf eine Lichtung hinaustrat, zielte er mit einem Pfeil geradewegs auf sein Herz. Wei-fei aber war sehr scharfsichtig und hatte bemerkt, was vor sich ging. Er nahm einen Pfeil aus seinem Köcher und schoss damit Chi-ch’angs Pfeil geradewegs aus der Luft. Ein bizarrer Kampf entbrannte. Wei-fei begegnete jedem von Chi-ch’angs Pfeilen seinerseits mit einem Pfeil. Pfeil um Pfeil prallten in der Luft aufeinander, bis Wei-fei alle Pfeile verschossen hatte. Chi-ch’ang ließ seinen letzten Pfeil fliegen, und als er auf Wei-feis Herz zuflog, riss dieser einen Zweig von einem nahen Baum. Es gelang ihm damit, Chi-ch’angs Pfeil in letzter Sekunde abzuwehren, sodass dieser sich zu seinen Füßen in den Boden bohrte.

Inzwischen waren beide Männer so überwältigt von dem Geschick, das sie bewiesen hatten, dass sie aufeinander zuliefen und einander in die Arme schlossen. Aber Wei-fei vergaß nicht, in welch großer Gefahr er schwebte. Er erzählte Chi-ch’ang von

einem noch besseren Bogenschützen namens Kan-ying, gegen den sie beide wie ungeschickte Kleinkinder aussähen.

Als Chi-ch’ang hörte, dass Wei-fei sein Können als Kinder-kram bezeichnete, war sein Stolz verletzt, und er machte sich unverzüglich auf die Suche nach Kan-ying. Seine Suche führte ihn in ferne, exotische Länder.

Schließlich fand er Kan-ying in einer Höhle auf einem hohen Berg. Kan-ying war sehr alt, sehr viel älter als alle Menschen, denen Chi-ch’ang je begegnet war. »Ich komme, um zu sehen, ob ich tatsächlich ein so großartiger Bogenschütze bin, wie ich glaube«, brüllte Chi-ch’ang. Er griff nach seinem Bogen, spannte ihn und erlegte eine Gans, die hoch über ihren Köpfen dahinflog. Scheinbar unbeeindruckt sprang der alte Mann auf einen schmalen Felsvorsprung über einer abgrundtiefen Schlucht und forderte Chi-ch’ang auf, es ihm gleichzutun.

Chi-ch’ang war zu stolz, um diese Herausforderung abzulehnen, und sprang ebenfalls auf den Vorsprung. Sofort wurde ihm schwindelig, und in seinem Kopf begann sich alles zu drehen. Er hatte keine andere Wahl, als auf Knien zurückzukrabbeln.

Chi-ch’ang rang noch damit, die Fassung wiederzufinden, als er zurückblickte und sah, wie Kan-ying auf einen Vogel deutete, der so weit oben flog, dass er kaum größer war als ein Sesamkorn. Er bemerkte auch, dass Kan-ying weder Pfeil noch Bogen in der Hand hatte. Dennoch tat er so, als spanne er den Bogen, und ließ den unsichtbaren Pfeil mit einem Zischen fliegen. Der Pfeil traf sein Ziel, und der Vogel fiel vom Himmel.

Da wurde Chi-ch’ang klar, dass er noch viel zu lernen hatte.

Die Geschichte verschweigt, was es genau war, was Chi-ch’ang bei Kan-ying lernte, aber zehn Jahren später kehrte er in sein Dorf zurück. Alle dort wussten, wie arrogant und eingebildet er gewesen war, aber sie sahen auch, dass er sich verändert hatte. Fort war der Ausdruck von Selbstgefälligkeit

und Verachtung. Fort war auch sein Bogen. Trotzdem war offensichtlich, dass er etwas Großartiges gelernt hatte, und die Dorfbewohner warteten allesamt auf die ganz großen Bogen-kunststücke, die er zweifellos bald vorführen würde.

Aber Chi-ch’ang zeigte ihnen nichts. Die Zeit verging, er wurde älter, aber er zeigte ihnen nichts. Dennoch pries man sein Können nah und fern.

Kurz vor seinem Tode stattete er einem Freund einen Besuch ab und sah dort in einer Ecke einen Bogen stehen. »Wie heißt das Gerät dort in der Ecke«, fragte Chi-ch’ang, »und wozu dient es?« Sein Freund erwiderte: »O Meister! Jetzt weiß ich, dass Ihr wahrlich der größte Bogenschütze im ganzen Land seid, denn nur so konntet Ihr sowohl den Namen als auch den Zweck des Bogens vergessen.«

Bald drauf starb Chi-ch’ang. Es heißt, eine Zeit lang hätten alle Künstler in seinem Dorf ihre Pinsel fortgeworfen und die Schreiner sich ihres Zollstocks geschämt.

Es ist kein Versehen, dass die Geschichte uns verschweigt, was den völligen Wandel Chi-ch’angs herbeiführte. Niemand weiß, was es war.

Es ist wichtig, dass wir das verstehen. Es ist nichts Besonderes geschehen, worauf wir mit dem Finger zeigen und wovon wir sagen könnten, es hätte den Wandel von Chi-ch’angs Herz und Geist bewirkt.

Indem Chi-ch’ang sah und verstand, lernte er, dass »dort draußen« nichts zu holen, zu meistern, zu ergreifen, zu erlangen war. Er erkannte, dass die Wirklichkeit immer genau hier ist, dass wir das Leben meistern müssen, das wir genau hier, genau jetzt leben – Augenblick für Augenblick. Chi-ch’ang lernte, sich von der Sehnsucht des Herzens zu befreien – sich von dem Verlangen zu befreien, etwas Besonderes zu sein.

Irgendwann müssen wir wie Chi-ch’ang erkennen, worum es bei der Zenpraxis geht. Es geht um geistige Freiheit. Darum,

sich nicht in Zielen, in seinem Stolz oder in Ideen zu verfangen.

Es geht nicht darum, dass wir unser Leben aufgeben. Es geht noch nicht einmal darum, dass wir unsere Ziele aufgeben. Aber es geht darum, dass wir nicht anhaften. Darum, dass wir als einfache, aber freie Menschen durch diese Welt ziehen, ohne uns von den Dingen täuschen zu lassen, die wir sehen, hören und fühlen.

Solange wir eine ähnliche Geisteshaltung haben wie Chi-ch’ang in seinen frühen Jahren, haben wir Zenlehre und -praxis nicht verstanden. Dann stecken wir lediglich in der üblichen, gierigen, besitzergreifenden Art zu leben fest.

Immer wieder müssen wir uns unsere tatsächlichen Lebens-umstände bewusst machen und das besitzergreifende Wesen unseres Geistes erkennen, der das eine vom anderen trennt und das eine über das andere stellt. Wir müssen erkennen, dass unsere Verwirrung und unser Schmerz ihren Ursprung in eben jener Neigung unseres Geistes haben.

Wenn wir uns mit unserem Herzen und unserem Geist vertraut machen – wenn wir sehen, wie ängstlich, begehrlich, besitz-ergreifend sie sind –, werden wir verwandelt. Dadurch befreien wir uns von Verwirrung und Schmerz.

Im Dokument Buddhismus im Alltag (Seite 154-159)