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Diskursivität des frühromantisches Wissens über Kommunikation

1. Aufwertung der Kommunikation: Friedrich Schleiermachers Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799)

1.6 Theorem der Wechselwirkung

Das Ergebnis von Schleiermachers theoretischen Bestrebungen ist das in seinem Text entwickelte Modell der ‚freien Geselligkeit’. Hinter der Idee der ‚freien Geselligkeit’

verbirgt sich das Ziel, eine Kommunikationsplattform zu etablieren, die unter den oben skizzierten gesellschaftlichen Bedingungen der Gewährleistung anschlussfähiger und aussichtsreicher Kommunikation dienen soll. ‚Frei’ wird die geforderte Geselligkeit in dem Sinne, dass es sich dabei im Gegensatz zum Beruf und zur Familie um einen thematisch und personell nicht beschränkten kommunikativen Umgang handelt. Auf diese Weise soll nach Schleiermacher das Individuum aus den Zwängen seiner in die einzelnen Lebensbereiche gespaltenen Existenz befreit werden. Schleiermachers Intention zielt also auf die Kreierung eines funktionsspezifisch nicht bestimmten Kommunikationsraums, der außerhalb der ausdifferenzierten gesellschaftlichen Lebensbereiche lokalisiert ist.

92 Fohrmann, Jürgen: Gesellige Kommunikation um 1800. Skizze einer Form. In: Soziale Systeme. Zeitschrift für soziologische Theorie 2 (1997); S. 351-360, hier S. 351.

93 Luhmann, Niklas: Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation. In: ders.: Soziologische Aufklärung 3.

Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Opladen 1981; S. 25-34, hier S. 25.

Die Ausgliederung der geselligen Kommunikation aus dem Radius des gesellschaftlichen Differenzierungsmechanismus erreicht Schleiermacher mit Hilfe einer theoretischen Konstruktion. Die Grundlage dieses theoretischen Kniffs besteht darin, dass die Funktion der

‚freien Geselligkeit’ nicht an bestimmte Zwecke gebunden, sondern nur an der Verwaltung des in ihrem Rahmen stattfindenden kommunikativen Umgangs festgemacht wird.

Um dieses alternative Sozialmodell erläutern zu können, muss zuerst die Grundstruktur des frei-geselligen Umgangs ins Visier genommen werden. Genau diesem Thema wollte sich Schleiermacher in den ersten beiden Gesetzen seiner Geselligkeitstheorie widmen. Wie oben bereits erwähnt, ist eine ausführliche Erläuterung dieses Theorieteils zwar nicht überliefert.

Die grundsätzliche Bestimmung des ‚formellen’ und des ‚materiellen’ Gesetzes kann jedoch aus der allgemein gehaltenen Einführung des Geselligkeitstextes rekonstruiert werden.

Wie bereits angedeutet, konzipiert Schleiermacher die Geselligkeit als einen Gegenentwurf zu der starren und auf das berufliche und familiäre Umfeld reduzierten menschlichen Existenz, in deren Rahmen kommunikative Kontakte determiniert sind, was eine freie geistige Entfaltung des Individuums erschwert. Die Geselligkeit wird von Schleiermacher also als eine spezifische Form sozialen Umgangs gedacht, bei der im Akt der Kommunikation neue Impulse für geistige Tätigkeit produziert werden. Dies soll dadurch gewährleistet werden, dass in der geselligen Interaktion „die Sphäre eines Individui [...] von den Sphären Anderer so mannigfaltig als möglich durchschnitten“ wird.94 Im Unterschied zu den regulierten kommunikativen Beziehungen der genannten Lebensbereiche wird bei der Geselligkeit auf das Anregungspotential der Teilnehmer gesetzt. Mit der Metapher des gegenseitigen ‚Durchschneidens der Sphären’ liefert Schleiermacher das Fundament einer interaktionsbasierten Kommunikationstheorie. Eine nähere Bestimmung dieses Grundsatzes bieten die Maximen der ersten beiden Geselligkeitsgesetze. Im ‚formellen’ Gesetz wird gefordert: „Alles soll Wechselwirkung seyn“95, und im ‚materiellen’: „Alle sollen zu einem freien Gedankenspiel angeregt werden durch die Mittheilung des meinigen.“96 Das theoretische Kommunikationsszenario der ‚freien Geselligkeit’ formiert sich also um die zentralen Begriffe der ‚Wechselwirkung’ und der ‚Mitt[h]eilung’. Die ausdrückliche Anbindung des basalen sozialen Akts der Wechselwirkung an die sprachliche Mitteilung markiert die genuin kommunikative Grundstruktur des Geselligkeitskonzepts von Schleiermacher.

94 Schleiermacher, Friedrich: KGA I.2; S. 165.

95 ebd.; S. 170.

96 ebd.

Die Relationierung von geselliger Mitteilung und dem Gebot der Wechselwirkung besteht also darin, dass mehrere Individuen aufeinander kommunikativ einwirken, und dass „diese Einwirkung auf keine Art einseitig seyn darf“.97 Die Struktur der Wechselwirkungsbeziehung98 zwischen den Aktanten fasst Schleiermacher folgendermaßen zusammen:

[D]ie Wirkung eines Jeden soll gehen auf die Thätigkeit der übrigen, und die Thätigkeit eines Jeden soll seyn seine Einwirkung auf die andern. Nun aber kann auf ein freies Wesen nicht anders eingewirkt werden, als dadurch, daß es zur eignen Thätigkeit aufgeregt, und ihr ein Objekt dargeboten wird; und dieses Objekt kann wiederum zufolge des obigen nichts seyn, als die Thätigkeit des Auffodernden; es kann also auf nichts anders abgesehen seyn, als auf ein freies Spiel der Gedanken und Empfindungen, wodurch alle Mitglieder einander gegenseitig aufregen und beleben.99

Das bedeutet aber, dass die Anwesenheit mehrerer Personen in einem Raum nur die notwendige, nicht aber die hinreichende Bedingung für die Bildung einer ‚Gesellschaft’100 darstellt. Die anwesenden Personen bilden zunächst nur den ‚Körper’ einer potentiellen Gesellschaft, der erst im Wechselwirkungsverhältnis durch die kommunikative Tätigkeit jedes Einzelnen belebt wird.101

Schleiermacher grenzt die Situationen ‚freier Geselligkeit’ ausdrücklich von solchen ab, in denen es nicht zu einer gegenseitigen Einwirkung zwischen den Teilnehmern kommt. So stellt die kommunikative Anordnung eines Vortrags oder einer Theatervorstellung keine Erscheinungsform der ‚freien Geselligkeit’ dar, weil hier erstens die im Publikum versammelten Individuen untereinander nicht interagieren, und zweitens die Sender- und Empfänger-Kompetenzen klar zugewiesen sind und der kommunikative Strom in diesem Fall nur in eine Richtung fließt. In solchen Situationen wird lediglich auf eine Seite der kommunikativen Beziehung eingewirkt und diese verfügt nicht über die Möglichkeit entgegenzuwirken. Während zwischen den Zuschauern im Publikum nach Schleiermacher

97 Schleiermacher, Friedrich: KGA I.2; S. 169.

98 Zur Genese des Wechselwirkungsbegriffs u.a. auch in Bezug auf Schleiermacher vgl. Ziemann, Andreas: Die Brücke zur Gesellschaft. Erkenntniskritische und topographische Implikationen der Soziologie Georg Simmels.

Konstanz 2000; S. 113ff.

99 Schleiermacher, Friedrich: KGA I.2; S. 169f.

100 Schleiermacher benutzt den Begriff ‚Gesellschaft’ im Sinne einer realen Verkörperung der freien geselligen Kommunikation. Insofern werden die Begriffe ‚Gesellschaft’ und ‚Geselligkeit’ fast gleichbedeutend verwendet. Außerdem unterscheidet Schleiermacher zwischen der ‚Gesellschaft’, als einer entpragmatisierten Form von Sozialität und der an einen bestimmten Zweck gebundenen ‚Gemeinschaft’ (Vgl. dazu Schleiermacher: KGA I.2; S. 169). Im Gegensatz dazu bestimmt Ferdinand Tönnies in seiner Unterscheidung die ‚Gesellschaft’ als eine durch äußere Zwecke konstituierte Verbindung, deren Gegenpol die unmittelbare Verbindung der ‚Gemeinschaft’ bildet. Vgl. dazu Tönnies, Ferdinand: Gesellschaft und Gemeinschaft.

Grundbegriffe der reinen Soziologie. Darmstadt 1979.

101 Vgl. Schleiermacher, Friedrich: KGA I.2; S. 168.

gar keine nennenswerte soziale Beziehung entsteht, befinden sich die Akteure auf der Bühne mit den Rezipienten im Publikum zwar in einer geselligen Verbindung, die jedoch nach Schleiermacher nicht als ‚frei’, sondern als ‚gebunden’ zu betrachten ist.

In der Forderung „Alles soll Wechselwirkung seyn“ wird nicht nur ein Unterscheidungsmerkmal zu anderen Formen des sozialen Kontakts artikuliert, sondern gleichzeitig auch die Form- und Zweckbestimmung der geselligen Verbindung. Die formale Grundstruktur der im Akt der Geselligkeit entstandenen ‚Gesellschaft’ ist die Wechselwirkung und diese allein macht auch den Zweck des Beisammenseins aus: „Die Wechselwirkung ist sonach in sich selbst zurückgehend und vollendet; in dem Begriff derselben ist sowohl die Form als der Zweck der geselligen Thätigkeit enthalten, und sie macht das ganze Wesen der Gesellschaft aus.“102 Wie Schleiermacher ausdrücklich betont, soll im Kontext der geselligen Wechselwirkung „keine bestimmte Handlung gemeinschaftlich verrichtet, kein Werk vereinigt zu Stande gebracht, keine Einsicht methodisch erworben werden.“103 Der Sinn der frei-geselligen Verbindung besteht ausschließlich in der Bildung und Verwaltung einer ‚Gesellschaft’.

Schleiermacher stilisiert es gar zu einer moralischen Tugend104, dass immer, wenn die physische Möglichkeit für eine Gesellschaft gegeben ist, diese auch gebildet werden soll, bzw. dass man bemüht sein muss, eine bereits bestehende gesellschaftliche Verbindung

„beim Leben zu erhalten“.105 Eine gebildete Gesellschaft kann nach Schleiermacher nur durch eine „ununterbrochene Fortsetzung“ der freien Geselligkeit bestehen bleiben.106

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