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Exkurs: Adam Müllers Lehre vom Gegensatze (1804)

3. Kommunikation als Mythologem: Das frühromantische Konzept der Neuen Mythologie

3.6 Frühromantische Reflexion des Gemeinschaftsverlusts

Es ist eines der Hauptmotive in Nancys philosophischem Ansatz, dass die abendländische Geistesgeschichte wesentlich durch die Vergessenheit des gemeinschaftlichen Fundaments des Seins geprägt ist. Nancys Meinung nach scheint es ganz so, „als bilde die Unterschlagung [...] dieser Wahrheit [d.h. der Gemeinschaftlichkeit des Seins, P.G.] die Grundregel des abendländischen Denkens“.336 Ein signifikantes Beispiel für die Ausblendung der ontologisch bestimmten Gemeinschaftlichkeit, in der man eine

333 Nancy, Jean-Luc: Die undarstellbare Gemeinschaft, a.a.O.; S. 129.

334 Vogl, Joseph: Einleitung. In: ders.(Hg.): Gemeinschaften, a.a.O.; S. 23.

335 Vgl. ebd.

336 Nancy, Jean-Luc: Das gemeinsame Erscheinen, a.a.O.; S. 170.

Erscheinungsform der ‚Seinsvergessenheit’ (Heidegger) erkennen kann, ist für Nancy die Postmoderne.337 In Anbetracht der gegenwärtigen Situation muss sich das Abendland nach Nancy die Frage stellen, was es „aus der Gemeinschaft gemacht [hat]“.338

Davon ausgehend richtet sich Nancys Blick folglich auf die historisch spezifischen Formen des Umgangs mit der Maxime der Gemeinschaftlichkeit des Seins. Entscheidend ist dabei, dass hier das Phänomen der ‚Gemeinschaft’ nicht als eine Form des Sozialen verstanden wird, die sich unter bestimmten gesellschaftlich-politischen Bedingungen herausgebildet und im Verlauf der kulturellen Evolution durch die Form der ‚Gesellschaft’ verdrängt wurde.339 Nancys Meinung nach gibt es keine „verlorene Unschuld kollektiven Lebens“.340 Wenn der Begriff der Gemeinschaft nach Nancy überhaupt brauchbar bleiben soll, dann muss er

„gegen die Fiktion seiner Ursprünglichkeit [...] gestärkt werden.“341 Das bedeutet, dass das

‚gemeinschaftliche Band’ in dieser Hinsicht keine historische Variable der Sozialität, sondern ein fundamentales ontologisches a priori darstellt: „Die Gemeinschaft wird uns mit dem Sein und als Sein, lange vor all unseren Plänen, Vorhaben und Unternehmungen gegeben. Im Grunde können wir sie überhaupt nicht verlieren. [...] Es ist uns nicht möglich, nicht zusammen-zu-erscheinen.“342

Die Gemeinschaft löst sich also nicht auf. Sie kann sich nicht auflösen, da sie im Grund des Seins ruht. Ihre Verdrängung manifestiert sich also nicht in gesellschaftlichen Strukturänderungen, sondern ausschließlich in der Vergessenheit des gemeinschaftlichen Fundaments. Die Geschichte des abendländischen Denkens wird allerdings nicht nur durch dieses Mangel geprägt. Durch die philosophische Tradition des Abendlandes zieht sich wie ein roter Faden auch das immer wieder auflebende und der Tendenz zum Vergessen widerstrebende Bewusstsein von der Absenz der Gemeinschaft. In diesen Momenten der Rückbesinnung auf die Gemeinschaftlichkeit der Existenz wird durch die Thematisierung der Verlusterfahrung gegen ihre Vergessenheit angekämpft.

Ein prägendes Beispiel für dieses Bestreben stellt die deutsche Frühromantik dar. Der frühromantische Diskurs nimmt in Nancys Geschichte des ‚Gemeinschaftsdenkens’ eine wichtige Position ein. Zum Ausdruck kommt die frühromantische Sensibilität für die Gemeinschaftlichkeit der Existenz etwa in Friedrich Schlegels weiter oben (Kap. I.3.4)

337 Nancy, Jean-Luc: Das gemeinsame Erscheinen, a.a.O.; S. 167.

338 ebd.; S. 170.

339 Nancy setzt sich in diesem Sinne von der Unterscheidung zwischen ‚Gemeinschaft’ und ‚Gesellschaft’, die insbesondere von Ferdinand Tönnies geprägt wurde. Vgl. Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft.

a.a.O.

340 Vogl, Joseph: Einleitung. In: ders.: Gemeinschaften, a.a.O.; S. 21.

341 ebd.; S. 22.

342 Nancy, Jean-Luc: Die undarstellbare Gemeinschaft, a.a.O.; S. 77.

erläuterter ‚Philosophie der Mitteilung’. Wie bereits gezeigt, entwirft Schlegel dort einen abstrakten Begriff der Gemeinschaft, der auf der Idee des generell als intersubjektiv bestimmten menschlichen Daseins beruht. Als ein weiteres Beispiel kann in diesem Zusammenhang Schleiermachers Bestimmung der religiösen Geselligkeit gelten, die er als eine „Andeutung der Rükkehr zum gemeinschaftlichen Mittelpunkt“343 betrachtet.

Nancys Interesse richtet sich aber vor allem auf das frühromantische Konzept der Neuen Mythologie. Seiner Meinung nach kommt der für die Frühromantik bezeichnende Umgang mit der Gemeinschaftsidee insbesondere im Kontext des Mythologiediskurses zum Vorschein. Nancys Ausgangspunkt bildet dabei die Feststellung, dass das frühromantische Konzept der Neuen Mythologie als Ausdruck des Strebens nach einer dichterisch-religiösen Gemeinschaftsgründung betrachtet werden kann. Die Frühromantik kann demnach aufgefasst werden als „die Erfindung jener Szene des gründenden Mythos, als das gleichzeitige Bewußtsein des Verlustes seiner Macht und als das Begehren oder den Willen, zugleich jene lebendige Macht des Ursprungs und jenen Ursprung der Macht wiederzufinden“.344 In diesem frühromantischen Bestreben wird die bereits erwähnte und von Nancy stark gemachte Ambivalenz der Gemeinschaftsidee manifest. Obwohl die Gemeinschaft nicht wiederhergestellt bzw. neu begründet werden kann, zeigt sich als die einzige Möglichkeit des Zugangs zu ihr die Thematisierung ihrer ‚Abwesenheit’. Und genau das geschieht auch im frühromantischen Mythologiediskurs. Das artikulierte Streben nach einer Neuen Mythologie und nach einem gemeinschaftlichen Mittelpunkt bringt zwar keine genuin ‚neue’ Mythologie mit sich: „Die Gemeinschaft und folglich auch das Individuum (der Dichter, der Priester, oder ihre Zuhörer) erfinden den Mythos nicht“.345 Doch in ihrer Arbeit am Mythos „werden sie in ihm erfunden oder erfinden sie sich in ihm selbst.“346 Der frühromantische Diskurs über Neue Mythologie bringt also keine neuen Mythologeme hervor. Das Entscheidende besteht stattdessen darin, dass das enthusiastische Streben nach Mythologischem sich im Akt der ästhetischen Reflexion zur Poesie formiert. Auch die Frühromantik stellt also in dieser Hinsicht ein Beispiel für eine mythenlose Gesellschaft dar, in der die Literatur die Funktion des Mythos übernimmt.347 Die Literatur verleiht auch im Kontext der Frühromantik „dem Gemeinsam-Sein, das ohne Mythos ist, eine Stimme“.348 In Nancys philosophischem Konzept verfügt die Literatur über die Potenz, eine Beziehung

343 Schleiermacher, Friedrich: KGA I.2; S. 276.

344 Nancy, Jean-Luc: Die undarstellbare Gemeinschaft, a.a.O.; S. 100.

345 ebd.; S. 123.

346 ebd.

347 ebd.; S. 134.

348 Vgl. ebd.; S. 135f.

zwischen den singulären Seienden zu stiften. Oder wie er es präzisiert: Die Literatur „ist diese Beziehung“.349 Mit dieser Bestimmung erhält die Literatur einen ontologischen Status:

„[D]as Sein als Gemeinsam-Sein ist das Sein der Literatur“.350 Wenn man mit Nancy annimmt, dass die Literatur die Rolle des Mythos übernimmt, dann erbt sie auch die Aufgabe der Darbietung bzw. des Zusammen-Erscheinens der singulären Seienden. Das Gemeinschaftliche kommt vor allem in der Literatur und als Literatur zum Tragen. In der Literatur geht es folglich darum, die Mit-Teilung zu kommunizieren, die so allgemein ist, dass sie ohne Literatur unbemerkt bliebe.351 Aus dieser Perspektive betrachtet stellt die deutsche Frühromantik ein signifikantes Beispiel für das Bestreben nach einer „literarischen Erfahrung der Gemeinschaft“ dar.352

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